Bruno Hildenbrand: Familie und
Beschleunigung
1.) Beschleunigung – Hartmut Rosa- Spätmoderne: 3
Dimensionen (technische, B. des sozialen Wandels, B. des Lebenstempos
Kennzeichen Spätmoderne: Tempo des Strukturwandels
höher als Geschwindigkeit der GenerationsabfolgenàWandel heute innerhalb einer einzigen
Generation (klassisches Modell: Wandel zw. Den Generationen) + Beschleunigung
von Familienstrukturen: „Verzeitlichung der Zeit“ = über Rhythmus, Sequenz,
Dauer und Zeitpunkt von Handlungen und Ereignissen wird im Vollzug entschieden à Abschaffung von Plänen und Agieren in
er Zeit: innerfamiliale Verbindungen werden kurzlebig und volatil (getroffene
Entscheidungen haben keine Dauer), Dauerorientierungen müssen immer wieder neu
beschlossen werden, Paare heute= Zusammentreffen von Lebensabschnittspartnern
(früher: unbegrenzte Solidarität), Familie heute: Kernfamilie driftet immer
mehr auseinander, zu weità
prekär???? + Aufkommen von situativer Identität: Bsp.: multiple
Persönlichkeit, second life
2.) Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen statt Beschleunigung
- Kritik an Beschleunigungstheorie: These geht von
einem ungeteilten Einfluss auf alle Gesellschaftsbereiche aus (in Theorie
zulässig, in Wirklichkeit/Praxis/Empirie nicht)
- Theorie der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen
ist mit empirischen Erfahrungen vereinbar (Raumtheorie von Schroer:
Differenzierung in Nebeneinander)
- Voraussetzung für Zusammenbringung von Raum- und
Zeittheorie: Raumperspektive notwendig, Räume= Horizonte, in denen sich unterschiedliche
Bereiche überlagern à
Nebeneinander verschiedener Kulturen, Regime, Lebensstile, Werte, …
- Auch im ländlichen Raum: friedliche Koexistenz dieser
Räume
1.Bsp.: Beharrlichkeit räumlich-sozialer Zuordnungen am
Beispiel der Heiratskreise: Studie 1992 Hildenbrand et al. – Bauernfamilie
Berger – nördlicher Schwarzwald – Sohn schlägt Anfang der 50er Jahre Übernahme
des Hofes aus, da Ehefrau nicht anerkannt wird – Familie der Frau kommt aus
„nicht heiratsfähigen Gebiet“ – unsichtbare Grenze zwischen Anerbensitte und
Realteilung à Frauen in
anderem Gebiet sind keine richtigen Bäuerinnen – heute: Erbform egal, aber
mentale Grenze der Heiratsfähigkeit ist geblieben – 2008: Befragung – Mann
würde Frau „Landschlempe“ aus diesem Gebiet nicht heiraten 2. Bsp.:
Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in einem Dorf in Hohenlohe: Hohenlohe=
klassische bäuerliche Kulturlandschaft – Ba-Wü – Grenze zu bay. Unter- und
Mittelfranken – Hohenlohe hat geschichtliche Sonderstellung in Ba-Wü – heute
noch auf emotionaler Ebene (Bausinger 2003) = „Beharrlichkeit von Mentalitäten“
– autonomieorientierter bäuerlicher Geist in Hohenlohe – aber Wirtschafts- und
Innovationskraft im Ba-Wü-Schnitt, bundesweite Spitze = Weltmarktorientierung –
aber Orte außerhalb der Zeit, Bsp.: Lensiedel – 1300 EW – seit 1080 – 1km von
Kirchberg entfernt – Neubaugebiet: Fremde werden nicht gegrüßt, Blicke werden
gemieden, Simmel beschreibt das typisch für großstädtische Umgangsform) à gewählte werden gegrüßt, fremd=fremd
– Ortskern: Blickkontakt und Gruß wird von Fremden erwartet, dann Erwiderung à Fremde werden empfangen – Kirche,
Pfarrhaus, Gasthof liegen im Ortskern – Pfarrhaus: Schaukasten, besonderes
Interesse an (christl.) afrikanischer Bevölkerung – Gasthaus: Donnerstag,
Männerchor, Gastwirt = Grieche, griechisches Essen, griechische
Gepflogenheiten: Nichtraucherland Ba-Wü, Griechenland: zentraler Raum mit Theke
und TV = Raucherraum à
= Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Koexistenz, ohne erkennbare
Friktionen, zeigt sich an Variablen Gesellschaft (persönliche Netzwerke statt
Gemeinwesen, Fremde als Nichtperson, Anonymität), Gemeinschaft (Zugehörigkeit
zu Dorf durch Zgh. Zu lokalen Verwandtschaftssystem, bürgerlichen
Vereinigungen, Zgh. Religion…) und Globalisierung (Arbeitsmigration, Dritte Welt,
High-Tech-Export)
- Beispiel zeigt Veränderungen vom Heimatsverständnis:
Heimat nicht mehr vertraut (Gemeinschaft) vs. Unvertraut (Gesellschaft), heute:
kulturelle Zwischenwelten und fremdkulturelle Inseln vorhanden
3.) Beschleunigung und Gleichzeitigkeit
am Beispiel der Familie
- Familie in Zeitfalle? Studie von Hochschild 2006,
Ergebnis: Amerikaner wähnen sich frei, sitzen jedoch im Zeitgefängnis à führt zu Zuhause ohne Eltern,
Zivilgesellschaft ohne Teilnehmer, Demokratie ohne Bürger – heute: in Unternehmen
wird gelebt, in Familie gearbeitet, Studie nicht auf Deutschland übertragbar
(USA Wochenarbeitszeit 80+ Paar: 68%, D 43%, GB 34%, NL 16%, SW 12%)
à Rettungsversuche für Eltern und Kinder? – 1)
individuelle Strategien: Verkürzung Arbeitszeit, Abstriche im Berufsleben,
Bedürfnisse zurückschrauben, Selbstständigkeit à Selbstbestimmung der Zeit, aus System aussteigen, auf
Land zurück ziehen 2) kollektive Strategien: gewerkschaftliche Aktionen zur
Arbeitszeitverkürzung (Bedenken von Hausschild: Eltern wollen nicht mehr Zeit
zu Hause verbringen, wissen nichts mit Familien anzufangen)
- Schwierigster Aspekt der Zeitfalle: Klärung der
Frage, wie Familie vor Kapitalverwertungslogik zu schützen ist? Akteure =
Erwachsene, die selbst Kindheit mit abwesenden Eltern hinter sich haben und
private Zeit zurückfordern = Opfer der Beschleunigung, aber hochschild: Logik
der Familie ist schwächer als Logik des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems,
aber Hildenbrand/Welter-Enderlin: Familie besitzt Resistenz- und Resilienzpotentiale
- Familie in strukturalistischer Perspektive: 1)
Familie = zentraler gesellschaftlicher Ort, an den phasenweise die Zeitstruktur
der Dauer dominant ist, insbesondere zu Beginn und zum Ende des Lebens, Dauer
(Wiederholen steht im Vordergrund, eigene soziale Ordnung) vs. Lineare Zeit
(immer schneller, höher, weiter, meist unumkehrbar in Richtung Zukunft =
Dynamik marktkapitalistischer Gesellschaften) 2) Familie ist auf Gesellschaften
bezogen, Familie grenzt sich von Gesellschaft ab = Gegenstruktur, auch
Zeitstrukturierung von Gegenstruktur betroffen, Aussage von Lévi-Strauss: alle
Gesellschaften: a) Gruppen/Mitglieder müssen Ortswechsel vollziehenà b) Familienleben = Tempo an den
Wegkreuzungen zurücknehmen und Ruhe genießenà c) aber Weisung: weiter ziehenà d)Zwischenaufenthalte bei Reise und Familie in
Gesellschaft = Bedingung und Negation der Gesellschaft
4.) Analyse des Zitats von
Lévi-Strauss:
a) Positionswechsel in Familien haben in Spätmodernde
Beschleunigung erfahren, Herausforderungen für Familien blieben aber gleich,
außer man ist der Auffassung (wie Rosa): Familie ist gänzlich der
Beschleunigung ausgesetzt, Hildenbrand: Beschleunigung findet Grenze an
conditio humana und individuellen Fähigkeiten von hellwachen Erwachsenen Zeit
zu synchronisieren (Zeit dabei unterteilt in soziale Zeit, intersubjektive Zeit
und körperbezogene Zeit), Konzepte der Spätmoderne reduzieren Geschichte auf
sozialen Wandel, Priorität hat das unmittelbare Geschehnis, Kritik: „neue
reflexive Moderne nur auf Basis einer doppelten Ahnungslosigkeit oder Amnesie“
möglich vs. Gang der Geschichte = komplex, kein Modus, keine Temporalität à Problem: Wie gehen moderne und
traditionale Muster der Bewältigung eine spezifische Verbindung ein?
Familiensoziologie muss für Untersuchungen von Familienentwicklung in jedem
Fall wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Zeitstrukturen bestimmen
und von hier aus mögliche Richtungen von Entwicklungsverläufen
gedankenexperimentell konstruieren
b) - Lévi-Strauss weist auf mehrere unterschiedliche
Zeitstrukturen in Gesellschaft hin (Dauer vs. Dynamisierte Zeitstruktur der
schöpferischen Zerstörung), Dauer = Familienzyklus: 1. Zusammenschluss von
Paaren (seit 30Jahren 80% trotz Individualisierung) 2. Kinder kriegen (+Auszug
der Kinder) 3. Weiterhin Paar (Trennung möglich, dann neuer Familienzyklus,
Überlagerung von 2 Zyklen, erhebliche Synchronisierungsleistungen notwendig) 4.
Evtl. Enkelkinder 5. Tod,
- Daten aus Mikrozensus (89% ü14, die in Fam. leben,
geben an, dass sie das wichtigste im Leben sind; spezifische Strategien der
Partnerwahl begrenzen sozialen Wandel: Paarzusammenschluss auf Grund von
kulturellen und Bildungskapital) widersprechen Individualisierungstheorie, bzw.
dem Baustein „Abbau sozialmoralischer Milieus“, Milieu bietet Schutz vor
gesamtgesellschaftlichen Verwerfungsprozess, dominanter Typ ist
„kleinbürgerliche Familie“: entsteht durch romantische Liebe, Kriterien der
Liebe= Höchstrelevanz, Unbedingtheit, Unbegrenztheit, wechselseitige
Attraktion, Vertrauensbildung, Grundlage Liebe à Paar tritt in Zustand der Elternschaft,
Kriterien: Unbedingtheit, Unbegrenztheit, Vertrauen,
Verbindlichkeit steigt
- Familie= Ort der Ruhe (im Sinne von Dauer), Ruhe in
Familie höchst lebendig, in Adoleszenz evtl. turbulent, zeitliche Ordnung der
Familie vs. Zeitliche Ordnung der Außenwelt, unterschiedliche Zeitstrukturen
innerhalb von Familien vorhanden, Dauer und Zirkulität geben Grundton an,
jedoch: Ordnungen sind nicht statisch, sondern werden in Prozessen des Handelns
erzeugt, modifiziert und situativ aufgegeben
- Struktur der sozialisatorischen Interaktion =
Struktur wechselseitiger Dyaden: Simmel – „Zwei zu eins“ = klassische
Konfliktsituation, ständige RotationàMultiperspektivität( Wahrnehmung Welt, Deutung dieser,
selbstverantwortliches Handeln), Familie= ein auf kontinuierliche Interaktion
angelegter Zusammenhang, agiert nicht auf ein Ziel hin, trägt Ziel in sich:
Rahmen für angemessenes Aufwachsen von Kindern à Kinder nutzen diesen Rahmen, testen ihn auf
Elastizität (Dauer, Verbindlichkeit, Solidarität) = alltagstypische
Herausforderungen (kann man nicht entkommen, außer Hausschild: Flucht in Firma,
v.a. Väter)
c) Doppelcharakter der Familie steht im Widerspruch:
Adaption (Familie soll Gesellschaftsmitglieder sozialisieren) und Integration
(Abgrenzung von Gesellschaft, Schaffung von Raum, damit Kind nach und nach
sich Gesellschaft anschließen kann), Adaption und Integration je nach Familie
andere Balance, Spezifik vom Familientyp abhängig, wichtig hierbei:
Zeitstruktur des Wirtschaftssystems= wichtigstes Thema der Familiengrenze
d) Integration und Adaption strukturieren Familienleben
in Spätmoderne; Gesellschaft ist auf Familien angewiesen, um handlungsfähiges
Personal für außerschulische Kontexte zu rekrutieren; Personal wird vorzugsweise
in Familien sozialisiert, die nach außen hin abgeschlossen und nach innen als
widersprüchliche Einheit strukturiert sind und deren Zeitstruktur die der Dauer
ist
5) Auswege aus der Beschleunigung: 1) nicht Eskapismus als
Totalintegration bei Adaptionsverweigerung ( Wirklichkeitsflucht), Bsp.:
Zurück-auf-Land-Bewegung, 2) nicht Vergesellschaftung der Sozialisation als
Auflösung der Familiengrenze und Einstieg in die elternlose Familie, Bsp.:
Kibbuz-Bewegung
- Was dann? Konventionelle Wege: Strategien bei
Partnerwahl, solider Grenzregime, Bezogenheit auf Nachbarschaft und
Verwandtschaft, jedoch Bedrohung dieser Strategien durch Beschleunigung,
weitere MaßnahmenLübbe „struktureller Konservatismus“
- Warum? Resistenz gegen Beschleunigung =
Grenzsicherung: durch Interaktionen, wichtigstes Medium = Gespräch, Gespräch
kostet Zeit und Koordination und Muße, Zeit steht in Konkurrenz zu anderen
Zeitregimen (innerfamilial und außerfamilial), auch durch
Kinderbetreuungsangebote nicht zu beseitigen
- Widerstandsfähigkeit der Akteure und Kosten sind am
Ende entscheidend, nach Hildenbrand: Frage der sozialen Ungleichheit, Pech
haben die mit Mangel an kulturellem und ökologischen Kapital