Essay - Randgruppen Frühe Neuzeit
Dieser
Essay soll sich mit der Frage auseinandersetzen, in welcher Art und Weise sich
Randgruppen der frühneuzeitlichen Gesellschaft charakterisieren lassen. Es ist
mir bewusst, dass innerhalb dieses Rahmens keine detaillierte Analyse, sondern
nur ein grober Umriss der Problematik entstehen kann. Jedoch habe ich den
Anspruch, zum einen durch den Vergleich bestehender Arbeiten einen „Roten
Faden“ darzustellen, zum anderen das komplexe Spektrum von möglichen
Schwerpunkten in Hinblick auf die Seminararbeit etwas einzugrenzen. Nach einem
kurzen definitorischen Exkurs sollen wesentliche Merkmale des Weges in die
Peripherie der Gesellschaft beschrieben werden. Neben den Eigenschaften werden sowohl
Stigmatisierung, als auch die Art und Weise der Visualisierung eine Rolle
spielen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Erklärungsmodelle, sowie den
Vergleich der Kategorisierung der einzelnen randständischen Kohorten halte ich
für unerlässlich, da sich daran treffende Aussagen zur Forschungslage visualisieren
lassen.
Wenn
Bernd- Ulrich Hergemöller in seiner Arbeit über Randgruppen diese als
heterogene Personenkreise umschreibt, welche durch negative, kollektive
Attributionen einem partiellen oder totalen Verlust der Ehre unterworfen
werden, formuliert er die aus meiner Sicht beste Definition. Andere Autoren,
wie z.B. Wolfgang von Hippel, gebrauchen in ihren Deutungen umschreibende
Termini wie „Minderheiten“, welche die Vielschichtigkeit der ohnehin schon
modern geschaffenen Sammelbezeichnung unnötig verkomplizieren und den Eindruck
erwecken, dass alle Minoritäten den Eigenschaften frühneuzeitlicher Randgruppen
gerecht wurden.
Essentiell
für die Durchdringung des Gegenstandes ist eine analytische Beschreibung
randständischer Wesensmerkmale. Aus der Literatur geht hervor, dass Außenseiter
ihren Status erben konnten, genauso wie durch den Antritt eines für unehrlich
erachteten Gewerbes. Innerhalb verwandtschaftlicher Konstellationen schritten
diese beiden Punkte oftmals Hand in Hand. Weiterhin werden Heirat und Strafe
als Wege gekennzeichnet, wobei letzterer wie die „Infektion“ durch Kontakt mit Unfreien
als Zwang gesehen werden kann. Es besteht also eine Ambivalenz zwischen dem
ungewollten, vorgezeichneten Pfad in Richtung Infamität bzw. der Möglichkeit
durch Selbstrekrutierung in diese Sphäre gesellschaftlichen Daseins zu gleiten.
Wie schon aus der Definition und aus verwendeten Vokabeln hervorgeht, sind
Infamität und Ehrverlust der negative Pol dieses Ständesystems. Dabei bildeten
Recht und Ehre die Grundpfeiler der bestehenden Gesellschaftsordnung. Den stärksten
Kontrast erzeugen indes „frei und ehrlich“ versus „unfrei und unehrlich“. Ehre
drückt sich dabei in Form sozialer Würdigung und gesellschaftlicher Akzeptanz
durch Herkunft, Beruf und Stand aus. Zu beachten ist, dass der dazugehörige
Antagonismus, die Unehrlichkeit, sich differenziert in eine durch
strafrechtliche Exekutive (infamia juris) bzw. durch Entzug der Reverenz und
der allgemeinen Wertschätzung (infamia facti) entstandenen Unehrlichkeit.
Während Rechtsverlust mit Ehrverlust einhergeht, hat eine Ehrminderung nicht
automatisch einen Rechtsverlust zur Folge. Diese kleine Disposition gibt nur
einen kleinen Einblick in die Multidimensionalität der Betrachtung, geschweige
denn in die Komplexität raum- zeitlicher Differenzierungen auf Mikro- und
Makroebene.
Stigmatisierung
spielte zur Veräußerlichung der Randständigkeit eine nicht unerhebliche Rolle.
Der Begriff umfasst dabei Kennzeichnungs- und Zuschreibungsprozesse, welche das
Resultat bestimmter vereinfachter und generalisierter Stereotypisierungen
gegenüber einem mit „homogenen“ Attributen behafteten Personenkreis sind. Roeck
sieht die Wurzeln in dem Bestreben, durch äußeren Habitus etwas Ordnung in die
eigentliche Unordnung zu bringen. Die Legitimation dieser fiktiven
strukturellen Existenz wird durch Ordnungen geregelt. Idealisierte Hierarchisierungsmechanismen
werden durch die Veräußerlichung des Sozialprestiges visualisiert. In diesem
Fall sind das nach Schimpfungen bestimmte Attribute der Kleidung (z.B. Zeichen
und Symbole), aber auch Brandmarkungen und diverse Ehrenstrafen. Neben dem
Verlust des Wahlrechtes, der Testierhoheit, der Verweigerung des Zugangs zu
Bruderschaften sowie Einschränkungen bei der Partnerwahl kann man auch den
modernen Terminus randständisch wortwörtlich nehmen, da innerhalb von Gemeinden
topographisch Gesehen bestimmte Gruppen in die Peripherie abgedrängt wurden
(z.B. Scharfrichter). Hervorgehoben werden muss in diesem Kontext die starke Tendenz
zur Einschränkung sozialer Kontakte. Präsenz innerhalb dieser Kategorie
verlangt auch die Aussage Roecks zur Ambivalenz zwischen ökonomischer und
sozialer Reputation. Der Spannungsbogen zwischen gesellschaftlicher
Notwendigkeit der ausgeübten Tätigkeit auf der einen und soziale Ausgrenzung
auf der anderen Seite führen mich zum nächsten Komplex, einer Einführung in die
Erklärungsmodelle.
Grundlegend
lässt sich festhalten, dass eine große Fülle von Illustrierungen auf diesem
Gebiet existiert. Bei der anthropologischen Interpretation, auch „Tabu- und
Mana- Theorie“ genannt, wird die These vertreten, dass die Tabuisierung
bestimmter Infamer auf urtümliche Sakral- und Kultkomplexe zurückzuführen sei.
Der interdisziplinäre Begriff „Mana“ lässt sich dabei mit den Vokabeln Macht
und Magie in Verbindung bringen. Diese Kraft kann positiv als auch negativ
behaftet sein und stürzt sich auf Grund seines ambivalenten Charakters in
tabuisierte Schemata frühneuzeitlicher Gesellschaft. Allerdings ist diese These
ausgesprochen umstritten und auch in meinen Augen stark anzuzweifeln, obwohl
man Parallelen, wie z.B. zum Scharfrichter, ziehen kann. Ein weiterer Aspekt
ist die wirtschaftsgeschichtliche Interpretation. Zünfte regulierten durch
bestimmte Reglementierungen ihre Zugangsvoraussetzungen. Dieser
sozio-ökonomische Ausgrenzungsprozess von Unehrlichen milderte den Druck der
Konkurrenz. Der dritte hier zu nennende Ansatz sieht das Fundament
randständischer Ausgrenzung in der Metamorphose des Gottesstaates. Zur
Erklärung dieser These ist folgendes zu sagen: Die bestehende Gesellschaft
formierte sich als Heilsgemeinschaft, d.h. die spätmittelalterliche Welt war
geprägt durch eine untrennbar verbundene staatlich-religiöse Ordnung. Zur Zeit
der Reformation, als die religiöse Durchdringung des Staatlichen ihren
Höhepunkt erreichte, potenzierte sich das Vorgehen gegen alles, was einem
moralischen, gottgefälligen Staat entgegenstand. Bernd Roeck sieht die
Marginalisierten dabei als Opfer des Säkularisierungs-, Rationalisierungs- und
Vergesellschaftungsprozesses. Neben der Verdichtung der Staatlichkeit als Grund
für Ausgrenzung möchte ich nun auf die Dämonisierung des Anomalen zu sprechen
kommen. Gegenüber den Randständischen wurden fantastische Hyperbeln erschaffen,
welche durch metaphysische Deutungen wirkliche Widersprüche und umfassende
Erklärungen durch Gott rechtfertigten. Der ohnehin schon gegebene Antagonismus
zwischen Gut und Böse verstärkte den darauf folgenden Effekt. Für alles
Unerklärliche hatte man weltliche Sündenböcke gefunden. Die Bedrohlichkeit
dieser Kraft wurde durch die physische Fassbarkeit abgeschwächt. Weiterhin
spiegelt sich darin die Aufhebung der eigenen Machtlosigkeit durch die
Schaffung richtbarer Personenkreise. In diesem Kontext versteht sich die Wechselseitigkeit
des Einflusses der Natur auf die Intensität dieser Problematik. In Zeiten
schlechter Lebensbedingungen wie z.B. der kleinen Eiszeit wird man sich eher
Sündenböcke gesucht haben als in erntereichen Jahren. Ein letzter Ansatz den
ich hier ansprechen möchte bedient sich einem psychologischen Typus. Dieser
geht davon aus, dass in Folge der Sozialisation unbefriedigt gebliebene
Triebwünsche auf die Randgruppen projiziert wurden und diese damit als
minderwertig erklärt und verfolgt wurden. Auch dieser Ansatz zeigt Parallelen
zu den vorher genannten Thesen auf, erweist jedoch wiederum einen ganz eigenen
Charakter.
In
der Fülle von Forschungsbeiträgen zum Thema lässt sich unschwer das große
Streitpotential der Problematik erkennen. Ähnliche Disputationspotenzierungen
werden bei Betrachtung der zahlreich vorliegenden Kategorisierungsversuche von
Randgruppen ersichtlich. Während Hippel die einzelnen Kategorien entlang des
Armutsgrades aufzieht, welche ihn zu einer Dreiteilung (Mittel- Unterschicht/
Unterschicht/ mobile Armut) führen, bedient sich Hergemöller zuerst einer
übergeordneten Kategorisierung, in dem er Randgruppen im engeren bzw. im
weiteren Sinne, sowie latente und temporäre Gruppen differenziert. Dabei
subsumiert er die wichtigsten Randgruppen innerhalb einer Vierteilung (unehrliche
Berufe/ körperlich und geistig Signifikante/ ethnisch- religiös definierte Gruppen/
Inquisitionsopfer). Eine weitere Divergenz bildet Roecks Kategorisierung. Er
unterscheidet zwischen klassischen und imaginären Gruppen. Erstere sind klar
konturierte Kohorten wie z.B. die Juden, während letztere sich eher auf
transzendente Deutungen stützen, wie etwa die Hexen.
Eine
eigene Kategorisierung zum Thema zu erfassen, wäre nur ein weiterer Vorschlag
unter vielen. Es ist immer problematisch, einem komplexen System pragmatische
Ordnungsmuster aufdrängen zu wollen. Meiner Ansicht nach sollte man die
quantitativen Aspekte etwas ruhen lassen, um die Mentalitäts- und
Alltagsgeschichte stärker zu ergründen: von der Makro- in die Mikroebene, mit
stärkerer Berücksichtigung räumlicher und zeitlicher Differenzierung. Durch
Kumulierung und Vergleich von Arbeiten, welche einen eher kleinen Bezugsrahmen
haben, diesen dafür aber umso gründlicher abhandeln, wie z.B. Jutta Nowosadtkos
„Scharfrichter und Abdecker“, könnten eventuell offene Fragen beantwortet
werden.