Erörterung zu Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch
der alten Dame
Aufgabe:
„Das
Groteske ist eine der großen Möglichkeiten, genau zu sein.“ (Karl
Schmidt: Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch einer alten Dame.
Erläuterungen und Dokumente. Durchgesehene Auflage. Stuttgart:
Reclam 1999; hier: S.60ff.)
Erörtern
Sie ausgehend von den Möglichkeiten des Grotesken in der Literatur
Dürrenmatts Meinung in Bezug auf sein Werk „Der Besuch der alten
Dame“.
Erörterung:
Für
die meisten scheint das Groteske etwas zu sein, dass Verwirrung,
Ablehnung oder Verwunderung hervorruft. Es ist etwas, das nicht „in
die Rolle“ passt. Friedrich Dürrenmatt als einer der bedeutendsten
Dramatiker es 20. Jahrhunderts beschreibt es al ein gutes Mittel, um
„genau“ zu sein. Doch was meint er mit diesem Ausdruck? Meint er
eine prägnante, einprägsame Schreibweise, eine Reduzierung der
Szenen des Stückes oder eine Handlung, die auf genau einen Punkt
hinverläuft?
Weiterhin
schein es noch andere Möglichkeiten zu geben, das „Groteske“ zu
verwenden / zu benutzen.
Anhand
der Tragikomödie „Der Besuch der alten Dame“, welche 1955 von
Dürrenmatt verfasst und ein Jahr später im Schauspielhaus Zürich
uraufgeführt wurde, versuche ich, diese Fragen zu klären und die
Meinung des Autors darzulegen.
Schon
in Betrachtung der Gesamthandlung erscheint die Tragikomödie
grotesk: Claire Zachanassian, eine Multimilliardärin, kehrt zu ihrem
Heimatort Güllen zurück (dem Handlungsort des Stückes) und setzt
eine Milliarde auf den Kopf ihres Jugendliebhabers Alfred Ill aus, um
sich an ihm zu rächen.
Dies
stellt schon einmal eine sehr ungewöhnliche, fast surreale Situation
dar. Geht man tiefer in die Handlung hinein, so wir erkenntlich, dass
in der Tat eine sehr genaue Beschreibung vorliegt. Dies beginnt beim
Handlungsort an sich, Güllen: Es ist eine sehr verarmte,
heruntergekommene Stadt mit verlotterten Bürgern, wie schon in der
Regieanweisung des ersten Aktes deutlich wird. Grotesk wird das Ganze
im folgenden Dialog der Bürger vom Bahnhof, die ihre wirtschaftliche
Lage selbst als ein „Rätsel“ (S.17)
bezeichnen, liegt doch das Städtchen in Mitteleuropa, ist
infrastrukturell gut ausgebaut und kann eigenes Kulturgut aufweisen
(vgl. S.14 f.).
Aber
gerade die kleineren, vorerst nebensächlich erscheinenden
Beschreibungen sind es, die das Groteske im „Besuch der alten Dame“
ausmachen und eine szenisch prägnante Atmosphäre generieren. So
kommt der Autor in einer weiteren Regieanweisung selbst wieder zu
Wort und beschreibt Claire Zachanassian als Protagonistin selbst als
etwas „Groteske[s].“ (S.21 f.); mit ihrem „goldene[n]
Armringe[n]“ und einem „Perlenhalsband“ wirkt sie geradezu
„aufgedonnert“, ein Adjektiv, das durchaus nicht positiv zu
verstehen ist und das Groteske verstärkt zum Ausdruck bringt.
Folglich
entsteht ein sehr einprägsames, prägnantes „Bühnenbild“ beim
Leser, welches aber sehr widersprüchlich erscheint und durch
Vermischung von alltäglichen Elementen – eben wie einem Städtchen
– mit fast absurden Dingen – wie einer Milliardärin, die mit
einem Sarg und einem schwarzen Panther anreißt – zu einer
Umwandlung der Welt führt, zu einem Verlust der Harmonie des Stückes
in sich. U.a. ergeben sich hieraus unheimliche Handlungsabschnitte
wie die Jagdszene des Panthers im Zweiten Akt des Stückes, in
welcher die Güllener mit Gewehren über die Bühne „schussbereit“,
„herumspähend“ und „herumschleichend“ gehen (S.74).
Diese
Entfremdung der Welt, die Dürrenmatt hiermit vollzieht, ermöglicht
ihm, das Augenmerk auf sehr spezielle Gebiete zu lenken. Das sind des
Öfteren Zeitfragen bzw. die damalige Gegenwart, die Dürrenmatt mit
seiner Literatur aufgreift; es ergibt sich also eine weitere
Möglichkeit des Grotesken, nämlich der Zeitkritik. Auch im „Besuch
der alten Dame“ ist diese auffindbar, wenn auch ein wenig
versteckt. Claire Zachanassian beschreibt ihre Forderung bzw. ihr
Angebot als einen Kauf der Gerechtigkeit (vgl. S.45), worauf die
Güllener protestieren und das Angebot ablehnen. Hier wird Kritik an
sehr reichen Leuten ausgeübt, die durch Bestechung o.ä. Gesetze
umgehen können und somit „etwas Besseres“ sind als die meisten
anderen Menschen. Genau dies versucht Dürrenmatt anhand der
grotesken Situation darzustellen.
Aber auch die Güllener werden hinsichtlich ihres
nachgebenden Verhaltens, also der Selbstverschuldung durch Kauf neuer
Güter kritisiert, da sie nicht zu Ill halten und ihr Versprechen
brechen. Der manipulierbare Bürger ist folglich auch ein Motiv der
entfremdeten Welt Dürrenmatts.
Letztendlich
schafft es Dürrenmatt, auf eine groteske, widersprüchliche
Schreibweise seine Subjekte der Tragikomödie klar und genau zu
definieren und miteinander in Beziehung zu setzen, sodass das
Groteske die Normalität zu sein scheint.
Sein
Zitat erscheint damit als Selbstreflexion, als eine Art Erklärung
für seine Absicht, die er beim Schreiben verfolgt und trifft damit
in vielerlei Hinsicht zu, nicht nur, dass durch die erreichte
Genauigkeit die Handlungsorte, ausschweifende Beschreibungen und
damit die Gesamtlänge der Tragikomödie reduziert werden, sondern
eben auch der Übertrag von Zeitfragen möglich wird und darüber
hinaus Zeitkritik ausgeübt werden kann.
Für
den Zuschauer mag das Stück zuerst Verwirrung hervorrufen, da die
Dinge nicht ganz so sind, wie sie scheinen, das Groteske und die
damit verbundene Genauigkeit kommen hier meiner Meinung nach sehr gut
zum Ausdruck und man realisiert, dass genau hierin der Sinn der
tragischen Komödie auch etwas Widersprüchliches in sich –
besteht: dem Grotesken, das die Handlung verpackt und die Gedanken
des Stückes offenbart.