In unserer Gesellschaft gibt es die
unterschiedlichsten Lesegewohnheiten. Manche lesen viel, manche eher
weniger und wieder andere lesen gar nicht. Auch gibt es die
verschiedensten Typen von Menschen, wobei man sich nun die Frage
stellen kann, ob Literatur einen maßgeblichen Einfluss auf uns hat
und ein wichtiger Grund für die Unterschiede ist. Genauer gesagt, ob
das Lesen von schöngeistiger Literatur die Entwicklung eines
Menschen zu Humanität und Bewusstsein des eigenen Selbst befördert.
Hiergegen kann
man erwidern, dass beim Lesen von einer solchen Literatur die Gefahr
besteht, dass sie einen von der realen Welt ablenkt und täuscht. Man
kann sich in den komplizierten Individuen der fiktionalen Welt und
den dargestellten Leben verlieren. So kann man in eine Art Traumwelt
rutschen und das eigene Leben als unwirklich empfinden; also das
Bewusstsein für sich selbst verlieren. Außerdem kann man der These
widersprechen, da die historische Entwicklung der Menschen schlicht
dagegenspricht. Die Lesekompetenz wird seit etwa der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts stark vermittelt. Wären erst ab diesem
Zeitpunkt Humanität und Selbstbewusstsein stärker befördert
worden, wäre die Entwicklung des Menschen nicht anders verlaufen?
Denn dies würde bedeuten, dass die Menschen, die zuvor lebten keine
ästhetischen und ethischen Maßstäbe hätten entwickeln können.
Und dem möchte man als historisch bewandter Mensch doch
widersprechen. Darüber hinaus wird die Lesekompetenz nicht in allen
Kulturen so vermittelt, wie zum Beispiel in Deutschland. Dies müsste
bei Wahrheit der These wieder bedeuten, dass die Entwicklung in
diesen Kulturen in Aspekten der Moral, des Selbstbewusstseins und der
Ästhetik, der zum Beispiel deutschen Kultur, hinterher wären. Doch
dem ist nicht unbedingt so. Es gibt schließlich viele andere Wege
diese Punkte zu befördern. Das Lesen von schöngeistiger Literatur
scheint hierfür nicht ausschlaggebend zu sein. Beispielsweise
entwickeln sich Werte aus der eigenen Lebenserfahrung. Und ist dies
nicht für einen Selbst viel bedeutsamer als wenn man nur davon
liest? Wenn man durch seine eigenen Augen und mit seinen eigenen
Sinnen Erfahrungen macht, ist dies doch viel prägender. Weitere
Möglichkeiten diese Beförderung der Menschlichkeit zu erleben
stellen zum Einen im heutigen Zeitalter der Digitalisierung Medien,
wie das Internet und der Film und zum Anderen erzählte Geschichten
dar. Einem guten Erzähler kann man schnell gebannt an den Lippen
hängen, sodass seine Stimme Einem Bilder im Kopf hervorruft. Bilder
in denen man die Helden sieht, mit ihnen mitfiebert und durch die
Stimme des Anderen lernt Persönlichkeiten zu verstehen.
Andererseits scheint die Literatur für
eine solche Entwicklung die unterstützendere Hilfe zu sein. In der
Literatur geht es um Menschen. Um Charaktere, die mit einem Problem
kämpfen. Um einen Helden, der in der Erzählung Höhen und Tiefen
durchlebt. Diese Helden können unterschiedlicher nicht sein. Es gibt
skrupellose Mörder, unsterblich Verliebte, geniale Außenseiter,
emanzipierte Frauen und viele weiterer Optionen. In einem
literarischen Werk verfolgt der Leser solche Charaktere über
Dutzende von Seiten, anstatt in einer Erzählung eines anderen
innerhalb von vielleicht einer Stunde die Geschichte kennenzulernen.
Durch solch ein stilles Lesen in einer spannenden Lektüre wird
überdies noch die Konzentrationsfähigkeit gefördert. In der
Literatur sehen wir die Welt durch die Augen der Protagonisten,
fühlen ihre Ängste und denken ihre Gedanken mit, wir lernen, ihre
Handlungen und Entscheidungen nachzuvollziehen und Menschen besser zu
verstehen. Und dies fördert nebenbei die Fantasie und die emotionale
Entwicklung. Literatur erweitert so nicht nur unseren Horizont indem
wir neue Lebensgeschichten kennenlernen, sondern auch indem wir auf
unterschiedlichste Menschen treffen und sie durch einen
Perspektivenwechsel in ihrem Innersten begleiten. Literatur macht
dadurch toleranter und aufgeschlossener gegenüber anderen Menschen.
Ebenso aber zeigt sie auf, dass wir Menschen nicht immer rational
denken und vernünftig entscheiden. Oft geht eine Handlung in die
völlig entgegengesetzte Richtung, in die wir sie gehen sahen. Oft
entscheidet ein Charakter völlig anders als der Leser dachte. Die
Literatur lässt einen die Menschen verstehen, sie lässt einen aber
ebenso Menschen nicht verstehen, denn auch das Irrationale ist
menschlich. Eine solch komplizierte Erfahrung kann man in ihrer
Komplexität kaum in einer Mund-zu-Mund-Überlieferung verstehen. Nur
die Literatur kann so gut aufzeigen, welch widersprüchliche
Geschöpfe die Menschen sein können. Außerdem besitzt die Literatur
einen hohen geschichtlichen Wert. Schöngeistige Literatur aus
vergangenen Zeiten lässt uns in Zeitalter eintauchen, in denen die
Menschheit noch weit entfernt vom heutigen Stand der Technik war. Sie
lässt uns nachvollziehen, mit welchen Problemen die Menschen damals
zu kämpfen hatten. Probleme, die uns heute fremd scheinen, doch
ebenso Probleme, die nach wie vor bestehen. Und sie lässt uns
erleben, wie Menschen damals lebten und sprachen. Und eben dies ist
der entscheidende Punkt, wenn es um die Frage geht, ob schöngeistige
Literatur die Entwicklung eines Menschen zu Humanität und
Bewusstsein des eigenen Selbst befördert. Niemand kann in seinem
Leben alles erleben, aber die fiktionale, literarisierte Wirklichkeit
kann als Ersatz dienen um der Fülle des Lebens möglichst nahe zu
kommen. Die Literatur, in der Autoren aus allen Teilen der Welt und
den verschiedensten Schichten lesenswerte Erfahrungen teilen, kann
einen Einblick geben in Perspektiven, die man selbst nie einnehmen
wird. Diese erweitern indirekt die eigene Lebenserfahrung. Sie
ermöglichen es Einem – durch die Augen eines anderen, aber
immerhin im eigenen Kopf – mehr Leben zu leben als das eine,
welches man täglich führt.
Abschließend kann man die Frage
dieser Erörterung demnach wohl mit einem Ja beantworten, die
schöngeistige Literatur befördert die menschliche Entwicklung zu
Moral und Selbstbewusstsein. Natürlich gibt es Alternativen zur
dieser Literatur um Erfahrungen zu sammeln. Jedoch glaube ich kaum,
dass diese die Intensität und Vielfalt des Lesens übertreffen
können. Bei jeder Leseerfahrung merkt der Leser, dass die Lektüre
einen verändert hat; man ein Stück gewachsen ist. Literatur erzählt
aufregende Geschichten, entwirft bunte Universen und verstrickte
Handlungsgeflechte. Sie entführt einen in die Innenwelt von
Menschen, die faszinieren oder auch abstoßen. Sie lässt den Leser
das Spiel mit der Sprache und dem Wort genießen und überrascht
einen immer wieder damit, welch unendlich vielseitigen Experimente
mit den 26 Buchstaben des Alphabets möglich sind.