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Aufsatz
Theologie

Leuphana Universität Lüneburg

o.N.

Ida R. ©
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ID# 56599







Elisabeth Neuse (1874‑1956)


Vorbemerkungen

Elisabeth Neuse zählt zu den ersten Religionspädagoginnen1 im deutschsprachigen Raum. Seit 1905 als Oberlehrerin im Hannoverschen tätig, wirkte sie - zum Teil in exponierter Position - in verschiedenen Berufsverbänden. Überregionale Bedeutung gewann sie u.a. als Mitglied des Hannoverschen Kirchentages. Durch ihre (zeitweilige) Zusammenarbeit mit Magdalene von Tiling erhielt sie aber auch Einfluss auf das (preußische) Unterrichtswesen.

In literarischer Hinsicht setzte sie sich insbesondere mit dem „Kulturprotestantismus“ auseinander. Ihr religionspädagogischer Zugriff verdankt sich auch einer spezifisch „lutherischen“ Interpretation der „Theologie der Krisis“.


1. Elisabeth Neuses beruflicher Werdegang


Elisabeth Neuse wurde am 18. Dezember 1874 als älteste Tochter des Oberlehrers Ernst Neuse in Hannover geboren. Aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Milieu - ihre Geschwister Martha und Eberhard sollten später ebenfalls den Lehrberuf ergreifen - besuchte sie zunächst die höhere Töchterschule, anschließend das Lehrerinnenseminar in Hannover. Im Frühjahr 1893 legte sie ihre Prüfung für Lehrerinnen an mittleren und höheren Mädchenschulen ab.

Anschließend - seit Michaelis 1893 - nahm sie die Lehrtätigkeit an einer privaten höheren Töchterschule in Hildesheim auf. 1895 wechselte sie in den Volksschuldienst der Stadt Hannover. 1902 ließ sie sich zum Zweck der Vorbereitung auf die Oberlehrerinnenprüfung beurlauben2 und nahm ihr Studium der Studium der ev. Theologie und Germanistik in Göttingen auf 3.

Hier studierte sie sowohl an der Universität, als auch in den speziell für angehende Oberlehrerinnen eingerichteten „wissenschaftlichen Kursen“. An der Theologischen Fakultät hörte sie vor allem Rudolf Otto und Wilhelm Heitmüller hörte, also Vertreter der »Religionsgeschichtlichen Schule«4. Im Rahmen der Oberlehrerinnenkurse besuchte sie Seminare von Wilhelm Bousset, aber auch von Paul Tschackert und Paul Althaus d.Ä.: beide gehörten einem gemäßigten theologisch-positiven Flügel an5.

Von ihrem Studienverhalten her wird man also nicht unbedingt auf eine spezifische theologische Positionierung schließen können. Im Gegenteil: Elisabeth Neuse schien daran gelegen, die Vertreter verschiedener innerprotestantischer Richtungen6 zu hören.

1904 meldete sich Elisabeth Neuse zur Oberlehrerinnenprüfung für die Fächer ev. Religion und Deutsch. Nachdem sie im Frühjahr 1905 ihr Examen erfolgreich bestanden hatte7, kehrte sie in den Schuldienst zurück: Zunächst an eine private höhere Töchterschule in Hannover, seit Michaelis 1906 an die städtische höhere Mädchenschule mit Lehrerinnenseminar in Leer. Hier war sie auch Mitglied der Prüfungskommission8.

Im Sommer 1910 bewarb sie sich erfolgreich an der späteren Wilhelm-Raabe-Schule: dem Lüneburger Lyzeum. Diesem Umstand verdanken wir eine Schilderung ihrer Persönlichkeit: „Sie ist sehr wahr, ein christlicher Charakter u. hat nichts mit den engagierten Frauenrechtlerinnen zu tun. Ohne sich etwas zu vergeben, weiß sie den rechten Ton zu treffen, um Streit zu vermeiden.“9.

Am 20. April 1911 wird sie in ihr neues „Amt“ eingeführt10. Seitdem unterrichtete Elisabeth Neuse mehr als 35 Jahre am Lüneburger Lyzeum und dem angegliederten Seminar Religion, Deutsch und Geschichte11.

Neuses beruflicher Werdegang hat also auf den ersten Blick nichts Spektakuläres an sich. Er scheint - im Gegenteil - für ihre Generation durchaus typisch zu sein: Viele aus dem bildungsbürgerlichen Milieu stammenden Familien konnten zwar die Kosten für eine Ausbildung zur Volksschullehrerin, nicht aber die Mittel für ein Studium aufbringen12. Erst die Tätigkeit im Schuldienst verhalf Frauen wie Elisabeth Neuse, aber auch Magdalene von Tiling (1877‑1974)13, Carola Barth (1879‑1959)14, oder Marie Martin (1856-1926)15 - zu einer entsprechenden Möglichkeit.


2. Zum „kirchlichen Engagement“ Elisabeth Neuses


Von nicht unerheblicher Bedeutung für die Frage des kirchlichen Engagements scheint mir Elisabeth Neuses verbandspolitischer Einsatz. So schloss sie sich bereits während ihres Studiums mit anderen Lehrerinnen zur »Konferenz evangelischer Religionslehrerinnen« zusammen16. Gemeinsam mit Käthe Claus (Düsseldorf), Julia Diek (Hamburg), Margarete Fleck (Hamburg), Gertrud Keßler (Berlin), Antonie Ludewig (Jena), Magdalene von Tiling (Göttingen) und Margarethe Wacker (Flensburg) gehörte sie deren Vorstand an.

Die Konferenz selbst bemühte sich u.a. darum, den Forderungen der „Denkschrift der Bremer Lehrerschaft“17 entgegen zu treten. Satzungsmäßig avisierte die Konferenz für den Religionsunterricht an den (Ausbildungs-) Seminaren 1. die innerliche Verarbeitung „der Einflüsse der Gegenwart“, 2. die Auseinandersetzung mit den „neuzeitlichen Fragen über die Weltanschauung“ und 3. die Diskussion „der wichtigsten Ergebnisse wissenschaftlicher Bibelforschung“18.

Auf religionsdidaktischer Ebene, also hinsichtlich des Religionsunterrichts in der Schule selbst, forderte man, dass „die Bibel im Mittelpunkt des Unterrichts stehen“ und die Zöglinge „zu mehr Denken, Urteilen und Handeln in bezug auf religiöse Fragen“ angeleitet werden sollten19. Grundsätzlich sei der Religionsunterricht allerdings „auf dem Grunde des Wortes Gottes und der kirchlichen Bekenntnisse“20 zu gestalten.

Nicht nur durch diese Formulierung setzten sich die in der Konferenz zusammen geschlossen „lutherischen, unierten und reformierten“21 Lehrerinnen im Wesentlichen von ihren männlichen Kollegen ab22. Das von diesen so sehr betonte „Gefühl“, das neben Denken, Urteilen und Handeln trat23, kam bei den positiven Religionslehrerinnen offensichtlich nicht zur Sprache.

Zum Jahreswechsel 1916/17 gab sich die Konferenz - offensichtlich aus strategischen Erwägungen heraus - einen neuen Namen: Als „Verband evangelischer Religionslehrerinnen“ erhielt sie zu Beginn der Weimarer Republik erheblichen Zulauf24. Seit 1924/25 war Elisabeth Neuse erste Vorsitzende des nun neu gegründeten Hannoveraner Zweigvereins25. In dieser Eigenschaft saß sie nicht nur im Landeskirchentag26, sondern war auch an den im Landeskirchenamt stattfindenden Gesprächen über die Religionsunterrichtsbeiratsbildung beteiligt27.

Hier veranlasste sie die Vertreter der Hannoverschen Landeskirche, ihr Verhältnis zur Religionslehrerschaft neu zu bestimmen: In dem diese jetzt von einem „Vertrauensverhältnis“ sprachen, kamen sie Forderungen nach, die die weitgehend männliche Religionsoberlehrerschaft seit den Stellungnahmen des preußischen Kirchensenats vom Januar 1927 erhoben hatte28. Dem am 20. März 1930 konstituierten und bis 1933 tagenden Religionsunterrichtsbeirat gehörte Elisabeth Neuse dann allerdings nicht mehr an.

Die genauen Gründe dafür kennt man zwar nicht. Es lässt sich aber vermuten, dass ihr „Ausscheiden“ mit der Umwandlung des Verband evangelischer Religionslehrerinnen in den „Verband für Religionsunterricht und Pädagogik“29 zusammenhängt: In diesem tagten - unter Federführung Magdalene von Tilings - fortan männliche und weibliche Religionslehrer, die sich der neu entstehenden „Pädagogik auf reformatorischer Grundlage“30 widmeten.


Während Elisabeth Neuse im Kaiserreich mit eigenständigen Schriften oder Aufsätzen nicht in Erscheinung trat, kam es in der Weimarer Republik verschiedentlich zu Aktivitäten. Dabei sind es zunächst die sog. „Richertschen Richtlinien“31, die Neuses literarische Aktivität provozierten: die Neuordnung des höheren Schulwesens - also: zunächst die Einführung von Deutscher Oberschule und Aufbauschule - zog eine Umgestaltung der bisherigen Lehrpläne nach sich32.

Zwar werteten die Entwürfe das Fach Religion - rein formal betrachtet - auf. Zählte es doch jetzt neben Deutsch, Geschichte und Erdkunde zu den (kulturkundlichen) Kernfächern. Der damit verbundene Zugriff auf das „Kulturgut“ Christentum wurde aber von der Religionslehrerschaft überwiegend als Preisgabe christlich-religiöser Gehalte an den relativistischen Zeitgeist verstanden33.

Elisabeth Neuse bezog nun ebenfalls einen kritischen Standpunkt gegenüber der ersten Version der Richtlinien34. Sie kritisierte aber weniger die hinter den Richtlinien stehende „Theologie“, als vielmehr deren mangelhaften Zugriff auf schulische Wirklichkeit. Im Religionsunterricht säßen nicht nur Kinder aus unterschiedlich religiös geprägten Elternhäusern, die gerade als Konfirmanden verschiedene religiöse Milieus frequentierten.

Darüber hinaus gehörten auch die Religionslehrer verschiedenen protestantischen Flügeln an. Wie - so wendet Neuse daher ein - könne man da eine Einheit auf „religiös‑sittlichen Gebiet“ voraussetzen?35

Wenn man in dieser Situation die deutsche Bildungseinheit in den Vordergrund schiebe, so habe dies etwas Künstliches: „Glauben wir wirklich, daß die Kinder bei unserem neutralen, überwiegend kirchengeschichtlichen Unterricht nicht merken, was wir ihnen verbergen wollen; den Gegensatz zwischen den Anschauungen ihres Elternhauses und denen ihres Lehrers und Geistlichen?“36 Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht sie bereits 1925 im wesentlichen in einer Begründung des Religionsunterrichts von der “Theologie der Krisis” her.

Diese interpretiert sie als Freilegung der reformatorischen Wurzeln des Christentums: „Die Richtlinien könnten nicht nur vor dem Kriege, sie könnten vor 20 Jahren geschrieben sein, so stark betonen sie die Religionsgeschichte, so völlig sind sie noch im sog. Kulturprotestantismus befangen. [ . ] Der Protestantismus aber, dessen Lebenskräfte man überall spürt, ist nicht der Kulturprotestantismus der Richtlinien, sondern der reformatorische Protestantismus, der Protestantismus Luthers und Calvins.“37


Er muß bedenken, daß in der christlichen Kirche von Anfang an die weibliche Frömmigkeit, deren Grundform die alles tragende Liebe ist, ebenbürtig neben der männlichen stand, deren Grundform der alles wagende Glaube ist, und er muß dieser inneren Verschiedenheit zweier gleichwertiger sich ergänzender Formen bei der Auswahl und Behandlung des Stoffes Rechnung tragen.“38

Mit diesen Ausführungen gaben die Richtlinien nun aber zu erkennen, dass sie offensichtlich einem Traditionsstrang entsprangen, der von nicht wenigen liberalen Protestanten39 geteilt wurde: Die Geschlechterdifferenz wurde als eine biologische betrachtet, sie wirkte sich auf die Grundlagen der gelebten Frömmigkeit aus40.

Wie argumentiert nun demgegenüber Elisabeth Neuse? Zunächst einmal setzt sie gerade nicht bei der Frage nach dem spezifisch weiblichen Verhalten bzw. einer entsprechenden Frömmigkeit ein, sondern fragt allgemeiner nach dem Verhältnis von Glaubensinhalt (fides quae creditur) und Glaubensäußerung (fides qua creditur), also: nach dem Verhältnis von gelehrter und gelebter Religion.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ausführungen der Methodischen Bemerkungen als (normative) Setzungen41. Und ihre Argumentation schien Gehör zu finden: Verzichteten doch die Richtlinien in ihrer zweiten Auflage auf allzu konkrete Ausführungen42. Darüber hinaus aber gelang es Neuse, auch die Aufmerksamkeit Magdalene von Tilings auf das Problem der Geschlechterdifferenz zu lenken.

Kritisierte diese doch noch im März 1926, dass die Richtlinien an der herkömmlichen Sichtweise festhielten, dabei aber übersähen, dass auch die religiöse Erziehung der männlichen Jugend das soziale Element pflegen müsse43: „Der Wille der Frauen allein kann zum Beispiel die Wohnungsnot nicht beheben, kann auch nicht eine Versöhnung der sozialen Gegensätze schaffen.

Frömmigkeit kann ihrem innersten Wesen nach nur eine sein, man könnte den Glauben ihre Wurzel, die Liebe ihre Frucht nennen, nie aber darf eins ohne das andere sein.“45

Damit dürfte allerdings deutlich sein, dass sich gerade auch Elisabeth Neuse gegen biologisch abgeleitete Frömmigkeitszuschreibungen wendet. Gleichwohl aber lässt sie einen konstruktiven Ansatz erkennen, vor dessen Hintergrund das gemeinsame Wirken der Geschlechter möglich wird46. Von hier aus scheint Elisabeth Neuse später - im Dritten Reich - auch eine Ablehnung des nazistischen Frauenbildes möglich gewesen zu sein: „Sie [Elisabeth Neuse] hatte eine hohe Auffassung von der Aufgabe der Frau in der Gemeinschaft, und trotz ihres gütigen Wesens, trotz ihrer Neigung zu Scherz und Fröhlichkeit konnte sie wahrhaft eifern für ihr ethisches Erziehungsziel.

Im christlichen Glauben tief verwurzelt, haßte sie die Oberflächlichkeit und nahm ihre Aufgabe so ernst, daß sie sich auch in den Jahren des Nationalsozialismus mit der gewandelten Auffassung von dem Frauenbild gewissenhaft auseinandersetzte.“47


Elisabeth Neuse beschäftigte sich nun aber auch direkt mit pädagogischen Ansätzen: So konnte sie etwa das von den Richtlinien avisierte Prinzip der Arbeitsgemeinschaft von Schülern und Lehrern als einen grundlegenden pädagogischen Fortschritt würdigen48. Sie kritisierte diesen Ansatz jedoch gleichzeitig von theologischen Überlegungen aus: „Dem Gedanken des Arbeitsunterrichts gegenüber darf nie vergessen werden, daß die Urform aller christlichen Unterweisung Verkündigung einer Botschaft, eben des Evangeliums ist.

Ein im zweiten Teil gemeinsam mit Magdalene von Tiling verfasster, in den späten 1920er Jahren erschienener Aufsatz setzte sich mit der Bildungstheorie Georg Kerschensteiners (1854‑1932) auseinander. Elisabeth Neuse arbeitet dabei in einem ersten Teil vorbehaltlos Stärken und Schwächen des Konzeptes heraus. So zeigt sie hier zwar die Grenzen des Freiheitsprinzips im Hinblick auf das menschliche Miteinander auf50.

Sie kann aber Kerschensteiners Konzept grundsätzlich würdigen: Bejahe dieses doch Autorität und Freiheit als sich wechselseitig durchdringende Bildungselemente51. Deutlich anders argumentiert der gemeinsam mit Magdalene von Tiling verfasste zweite Teil. Gibt er doch wesentliche Aspekte dieser Grundeinsicht preis. Die anthropologischen Grundlagen des Kerschensteinerschen Konzepts beruhten auf idealistischen Voraussetzungen: „Die idealistische Auffassung vom Wesen des Menschen geht auf die antike Philosophie zurück: der Mensch ist das Maß aller Dinge.

Eine Pädagogik der Wirklichkeit wird das Wesen des Menschen in dem einen erkennen, der allein so war, wie Gott den Menschen wollte: in dem Menschen Jesus Christus.“52 An dieser Stelle allerdings scheint nun Neuses eigene Linie - sie argumentiert in der Regel theologisch-konstruktiv - verlassen zu sein. Es steht daher zu vermuten, dass zumindest diese Passage die Handschrift Magdalene von Tilings trägt.


4. Die Rekonstruktion der theologischen Dimension


Die verschiedenen, bisher dargestellten Aspekte sind abschließend noch einmal vor dem Hintergrund der Frage nach den theologischen Wurzeln Neuses zu rekonstruieren. Auf diese Weise dürften Einblicke in die spezifische Form des Luthertums, das Neuse repräsentierte, möglich sein. Neuse setzte sich nämlich mit der Theologie der Krisis auseinander53. Grundsätzlich beschreibt Elisabeth Neuse diese „neueste“ Theologie als einen Ansatz, der weltliches Kulturschaffen und Christentum einander gegenüber stelle.

Repräsentiert durch Karl Barth, aber auch durch Emil Brunner, Paul Altbaus und Werner Elert ginge es „neuester Theologie“ darum, die alten kulturprotestantischen Engführungen zu überwinden. Dabei subsumiert Neuse - im Unterschied etwa zu von Tiling - unter der Chiffre „Kulturprotestantismus“ sowohl liberale als auch die positive theologische Positionen: Die neueste Theologie setze sich nicht nur „mit den beiden großen Vertretern des romantischen und pragmatischen Subjektivismus, mit Schleiermacher und Ritschl“ auseinander, sondern auch mit „der Religion der modernen Mystiker, Romantiker und Reichgottespraktiker“54.

Dieses Eigentliche sieht Neuse nun im Wesentlichen in dem von der Theologie der Krisis wieder entdeckten Rechtfertigungsgedanken: „Diese Begegnung mit Gott, die beides in sich schließt, Gericht und Begnadigung, ist das, was Luther die Rechtfertigung nennt, und so hat die Theologie das Kernstück der Reformation wiedergefunden, von dem Dilthey noch 1910 in seinem Buche: ,Das Erlebnis und die Dichtung‘ sagen konnte[ .] ,Die ganze Lebensverfassung, welche die Voraussetzung der protestantischen Rechtfertigungslehre bildet, ist vergangen, und damit hat die Rechtfertigung durch den Glauben keinen Sinn mehr für uns.‘ Die neue Richtung in der Theologie kennt kein höheres Ziel, als aus der Rechtfertigung heraus zu leben und zu wirken.“57

Welche Konsequenzen ergeben sich nun aber aus dieser Wiederentdeckung für den Religionsunterricht? Es will mir scheinen, als vollziehe Neuse eine gewisse Akzentverlagerung. Zwar bleibt die Schwierigkeit bestehen, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher theologischer Herkunftsmilieus gemeinsam unterrichtet werden. Daneben tritt jetzt aber zumindest gleichrangig das Problem der Verborgenheit Gottes: „Die jungen Menschenkinder heute wissen etwas von der Feindschaft gegen Gott, von einem Kampf mit ihm; sie ahnen wenigstens, was damit gemeint ist, wenn man mit Elert vom Begriff des Schicksals ausgeht und dann, nachdem seine Hoheit, Freiheit und Lebendigkeit festgestellt ist, das Wort ,Schicksal‘ mit dem Wort ,Gott‘ vertauscht.

Die Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens erschöpft sich nicht in der Sicherstellung eines neuen analytischen Zugriffs. Er ermöglicht Neuse auch, ihren religionspädagogischen Ansatz zu erweitern. Indem sie nämlich die Rechtfertigung in die eschatologisch verstandene Gegenwart übersetzt, gelingt es ihr, den Christen als Bürger zweier Welten anzusprechen. Damit aber schafft sie sich einen unerlässlichen Freiraum: „Nur erinnern möchte ich noch einmal an die grundsätzliche Scheidung zwischen Gottes Reich und Gottes Schöpfungswelt.

Ihre Einheit liegt in der Persönlichkeit des einzelnen Christen, der eben ein Bürger beider Welten ist. Ein Doppeltes darf er dabei nicht vergessen. Einmal: Auch diese Schöpfungswelt ist Gottes Ordnung, in ihre Wirklichkeit hat ihn Gott gestellt, aus ihrer Wirklichkeit erwachsen ihm seine Aufgaben; sodann aber auch das andere: Weil es sich um zwei wesensverschiedene Welten handelt, kann der Christ nicht einfach die Gesetze des Himmelreichs auf irdische Verhältnisse übertragen.“59

Ist sie doch ein sowohl dem weltlichen als auch dem geistlichen Bereich zugehöriges Gebilde. Während sie in und für die Welt dienende Funktionen zu übernehmen habe,61 komme ihr - als Gemeinschaft aller Gläubigen - im geistlichen Bereich die Aufgabe zu, jeden einzelnen Menschen an seine soziale Verantwortung zu erinnern: „Die Laien sind in der Gegenwart zur Mitarbeit an der Kirche herangezogen wie nie zuvor.

Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die heranwachsenden Kinder höherer und niederer Schulen mit den kirchlichen Nöten und Aufgaben unserer Zeit bekannt gemacht werden.“62

Wenn Elisabeth Neuse nun zwar insgesamt keine konkreten ethischen Aufgaben benennt, wohl aber auf die Mitarbeit aller sozialen Schichten abhebt, so dürfte dies die grundsätzliche Bedeutung, die sie dem Bereich des weltlichen Regiments in ihren Überlegungen beimisst, unterstreichen. Einer Verselbständigung dieses Bereichs ‑ etwa im Sinne von guten Werken als einer notwendigen Vorleistung für die Regulierung des Gottesverhältnisses ‑ ist dabei durch die Vorschaltung der Rechtfertigungslehre prinzipiell gewehrt63.

Schließlich ist aber auch zu bedenken, dass die sich in den späten 1920er Jahren nur zögerlich zu einer akademisch‑theologischen Disziplin formierende Religionspädagogik für Neuses „reformatorischen“ Ansatz nicht hinreichend gerüstet war.


5. Zusammenfassung


  1. Der berufliche Werdegang der Lüneburger Studienrätin und Verbandsfunktionärin Elisabeth Neuse scheint für ihre Generation durchaus typisch gewesen zu sein: Zunächst seminaristisch ausgebildete Lehrerin, unterzog sich Elisabeth Neuse - wie viele andere auch - in einem fortgeschrittenen Alter dem akademischen Studium. Auf das Oberlehrerinnenexamen folgte die Unterrichtstätigkeit an höheren Mädchenschulen.

  2. Neuses kirchliche Wirksamkeit äußerte sich im wesentlichen auf verbandspolitischem Terrain: So gehörte sie verschiedenen professionellen Vereinigungen des theologisch konservativen Spektrums an und vertrat diese u.a. auf dem Hannoverschen Landeskirchentag. Es scheint ihr auch gelungen zu sein, ihren vermittelnden Einfluß in bezug auf die Unterrichtsbeiratsdiskussionen, geltend zu machen.

  • Erklärbar scheint dieses „Ausscheiden“ möglicherweise dann zu sein, wenn man sich ihre religionspädagogische Entwicklung vor Augen führt: Im Kaiserreich literarisch weitgehend abstinent, beginnt sie in der Weimarer Republik, eigenständige Beiträge zu verfassen. Auffällig ist dabei, dass sie in ihren Argumentationen ein bestimmtes Schema verfolgt: In bezug auf die vereinheitlichende Grundtendenz der Richertschen Richtlinien, aber auch hinsichtlich der Geschlechterdifferenz tritt Neuse für eine Position ein, die als theologisch konstruktiv bezeichnet werden kann.

    Etwas anders verhält sie sich in der Auseinandersetzung mit Kerschensteiners Pädagogik: Während sie sein Anliegen grundsätzlich würdigen kann, dürfte die kritische Rückführung auf den idealistischen Grundansatz die Signatur Magdalene von Tilings tragen.

  • In theologischer Hinsicht wendet sich Elisabeth Neuse um die Mitte der 1920er Jahre entschieden der Theologie der Krisis zu, die sie als reformatorische Theologie rezipiert. Im Gegenzug kann sie die Vorkriegstheologie liberal-theologischer, aber auch theologisch-positiver Provenienz unter der Chiffre „Kulturprotestantismus“ verhandeln. Auch damit stellt sie sich in einen gewissen Gegensatz zur wortgewaltigen Magdalene von Tiling, die etwa zeitgleich für eine „Pädagogik auf reformatorischer Grundlage“ eintrat.


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