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Seminararbeit
Soziologie

Universität Konstanz

2006, Pietrow-Ennker, 2,0

Tomas K. ©
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ID# 54619







Universität Konstanz

Geisteswissenschaftliche Sektion

Fachbereich Geschichte und Soziologie

Seminar: Kinder, Küche, Kommunismus. Frauen in der Sowjetunion.

Prof. Dr.

Sommersemester 2006


Die Selbstwahrnehmung der sowjetischen Frauen

in der Stagnationszeit


Verfasser:

10

Studiengang B.A. Soziologie (8. Semester)

Nebenfach: Gender Studies (5. Semester)

Datum: 10.05.2008

Inhaltsverzeichnis


1. Einleitung

2. Politische und soziale Rahmenbedingungen der Stagnationszeit (1977-1985)

3.1. Weiblichkeit

3.2. Kinder

3.3. Haushalt

3.4. Mann/Partner

3.5. Arbeit

4. Schluss

Literaturverzeichnis


1. Einleitung


Diese Hausarbeit widmet sich den sowjetischen Frauen und deren alltäglichem Leben in der kommunistischen Sowjetunion. Von vorrangiger Bedeutung für die Arbeit war der Zeitraum zwischen den Jahren 1977 bis 1985, der gerne als Stagnationszeit bezeichnet wird. Begonnen wird mit einem Abriss über die politische und soziale Situation in dieser von Stillstand gekennzeichneten Periode.

Daran schließt sich der eigentliche Hauptteil an. Vorrangig wird die individuelle Wahrnehmung der persönlichen Situation von sowjetischen Frauen untersucht. Um die Selbstwahrnehmung zu Untersuchen wurden im Wesentlichen Interviews von Hansson und Liden, Zeitungsanouncen und literarische Erzählungen zu Hilfe genommen. Die jeweiligen Zitate wurden bestmöglich in Bezug zur in der Sowjetunion propagierten Meinung gesetzt oder wurden an die von westlichen Wissenschaftlern faktischen Ergebnisse angehängt.

Aus Gründen der Knappheit und Übersichtlichkeit wurde versucht überwiegend Ansichten und Stellungnahmen zu rezitieren, die als typisch für die sowjetische Frau gelten dürften. Keinen Eingang in die Arbeit fand die Fremdwahrnehmung, insbesondere die Wahrnehmung des kapitalistischen Westens und die Einstellungen von Männern zur Rolle der Frau. Problematisch erwies sich manchmal die Platzierung einzelner Zitate.

Es wurde versucht eine subjektive Aussage so zu platzieren, dass sie größtmögliche Aussagekraft im und durch den Kontext erhält. Einige Meinungen hätten an anderen Stellen genauso gut aufgeführt werden können, es wurde jedoch darauf verzichtet.

Gegliedert wurde der Abschnitt über die Selbstwahrnehmung in die Punkte Weiblichkeit, Kinder, Haushalt, Mann/Partner und Arbeit. Der Begriff der Weiblichkeit ist von zentraler Bedeutung in der sowjetischen Gesellschaft. Eng verstrickt mit ihm waren die Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Es soll geklärt werden inwieweit die verschieden Rollen auf genetische Bedingungen oder die Sozialisation rückgeführt wurden, ob sie begrüßt wurden und ob die Eltern sie an die nächste Generation weitergaben.

In enger Verbindung mit der Weiblichkeit stand der Wunsch nach eigenen Kindern. Bereits die Ein-Kind-Familie stellte für die Frau eine große Belastung dar und wie wir sehen werden ist die staatlich erwünschte Mehrkinderfamilie, trotz verbesserter sozialer Bedingungen, aus Sicht der Frau nicht zu realisieren. Neben der Zeit, die für die Versorgung der Kinder aufgewendet wurde, bestand ein wesentlicher Teil des Alltags aus der Führung des Haushalts.

Wie sich die Hausarbeit gestaltete und wie die ungleiche Verteilung zwischen den Partnern bewertet wurde ist von zentraler Bedeutung. Die Beziehung zum Partner war nicht selten kompliziert und Ehescheidungen waren an der Tagesordnung. Es soll verdeutlicht werden von welchen Vorstellungen die Ehe geprägt war und welche Rolle die Frau sich innerhalb der Beziehung beimisst.

Abgeschlossen wird der Hauptteil mit einem Blick in die Berufswelt. Hier kristallisierten sich wieder Rollenbilder heraus, die eine Benachteiligung der Frau zum Ergebnis hatten. Wie diese aussahen, in welchem Maße sie auf Akzeptanz bei der Arbeiterin stießen und welche Folgen sie für diese hatten, soll geklärt werden. Weiterhin soll geklärt werden welche Beweggründe es für die Frau gab einer solch Zeitraubenden Tätigkeit wie der Arbeit nachzugehen.

Der Schluss dieser Arbeit beinhaltet eine Typisierung der sowjetischen Frau in der Stagnationszeit. Unter Berücksichtigung aller oben genannten Punkte soll anhand der subjektiven Aussagen ein Bild der Frau generiert werden das bestmöglich ihrer damaligen Selbstwahrnehmung entspricht.


2. Politische und soziale Rahmenbedingungen der Stagnationszeit (1977-1985)


Als Stagnationszeit wird sowohl von westlichen als auch russischen HistorikerInnen und PolitologInnen die zweite Hälfte der Regierungszeit Leonid Breznevs bezeichnet. Dieser Zeitraum ist gekennzeichnet durch Reformscheue, ideologische Enge und wirtschaftlichen Stillstand. Im Innern war die Sowjetunion von wirtschaftlichen und sozialen Problemen betroffen und im Äußeren sah sie ihre Stellung als Weltmacht bedroht, da der kalte Krieg in eine neue Phase eintrat und der Einfluß innerhalb der sozialistischen Staatenwelt zunehmend schwand.1

Breznevs Regierungszeit war eine Zeit großer Stabilität, ohne wesentliche Veränderungen. Die vier Parteikongresse fanden angepasst an den Fünfjahrplan im Abstand von fünf Jahren statt, dienten der Selbstdarstellung von Funktionären, der Verkündung des Programms und dem moralischen Appell. Die Innenpolitik war repressiv-reformscheu und die Außenpolitik gezeichnet von der prinzipiellen Bereitschaft zur Abrüstung aber der gleichzeitigen Intervention in der Tschechoslowakei und Afghanistan und dem Konkurrenzkampf mit der USA.2

Im konservativen russischen System bildete sich ein wachsender Kreis von nicht Systemkonformen Personen, der besonders in der zweiten Hälfte der 70er Jahre sichtbar wurde. In Samizdat-Werken gaben sich SchriftstellerInnen systemkritisch und verliehen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck. Die Partei reagierte hierauf mit einem ideologischen Gegenangriff; die Propagandatätigkeit wurde verstärkt und die neue Verfassung verabschiedet, in der den Bürgerrechten größere Bedeutung beigemessen wurde.

Der Konflikt zwischen DissidentInnen und der Regierung verschärfte sich nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von Helsinki, mit der Russland sich verpflichtete die Menschenrechte zu respektieren. MenschenrechtlerInnen begannen von nun an die in der KSZE-Schlussakte aufgeführten Rechte einzufordern. Beantwortet wurden diese Ansprüche mit dem Exil des Menschenrechtlers Andrej Sacharov und dem Einmarsch in Afghanistan.

Mit Beginn der 80er Jahre kam es zu gesteigerten Repressionen seitens des KGBs und Ausweisungen von DissidentInnen.3

Die Gesellschaft veränderte sich auch dahingehend, dass sich die „soziale Schere zwischen Intelligenz und einfacher ArbeiterInnenschaft“ deutlich öffnete. Die Schicht der FacharbeiterInnen verschmolz mit der Schicht der technischen Intelligenz, die nicht der Machtelite angehörte, zu einer neuen Mittelschicht, die von nun an eine tonangebende Rolle innehatte. Der seit den 50er Jahren steigende Lebenstandart der Bevölkerung stagnierte in den 70er sowie 80 Jahren und die Stimmung innerhalb der Bevölkerung war gekennzeichnet von Desillusionierung und Pessimismus.

Vermehrt wurde deshalb das Glück im privaten Bereich gesucht.4


3.1. Weiblichkeit


Sowjetische Psychologen und Pädagogen begrüßten die Aufrechterhaltung von spezifischen Frauen- und Männerbildern. Die Überwindung von Geschlechterdifferenzen stand für sie außer Frage. Sowjetische Forscher gingen davon aus, dass „weibliche Schwäche“ wichtig und notwendig sei und dass „weibliche Vornehmheit, wenn man so sagen darf, anzuerziehen, ist notwendig. Parallel zu ihr soll sich ein ritterliches Verhalten der Jungen zu den Mädchen herausbilden.“5 Weiterhin sei es Aufgabe der „geschlechtlichen Erziehung“ dem Mädchen anzugewöhnen, „daß es auf sich, seine Kleidung, die Sauberkeit und Gefälligkeit derselben, auf seine Manieren und die Weiblichkeit dieser Manieren achtet.“6

Prinzipiell schloss der Begriff „zenstvennost“ die Sorge um die eigene Familie und enge Freunde sowie Emotionalität ein. Ausgeweitet wurde der Begriff für die sozialistische Sowjetunion durch die Implikation der Sorge um das Kollektiv und die Gesellschaft. Neben der inneren Schönheit ist für die Verlagsangestellte Lisa die äußere Schönheit für das Ideal der Frau von Bedeutung: „Die ideale Frau ist… selbständig. (…) Und sie muß schön sein.

Auch wenn sie von Natur aus nicht schön ist, muß sie es verstehen, sich schön zu machen. Und ich glaube, die schönste Harmonie, ja die Krönung der Schöpfung, das kann nur eine Frau erreichen, weil ja die Frauen so viel schöner als die Männer sind. Wenn sie dann noch innere Schönheit hat, eine eigene Ansicht, Selbständigkeit - dann ist sie die ideale Frau.“9

Die Ingenieurin Elizaveta ging davon aus, dass verschiedenes Verhalten bei Frauen und Männern biologisch prädestiniert sei und nicht das Ergebnis einer spezifischen Sozialisation. Weiterhin marginalisiert und rechtfertigt sie diese Unterschiede: „Wir verhalten wir uns unterschiedlich, könnte man sagen, in der oder jener Situation, gegenüber den oder jenen Problemen, die es zu lösen gilt, unterschiedlich so denke ich – wir verhalten uns unterschiedlich. (…) Aber das ist nicht besonderes.

Aber auf jeden Fall gibt es welche.“10 Die Studentin Ljalja war der Meinung, „daß Frauen anders geartet sind als Männer. Wir sind keine völlig gleichen Geschöpfe.“11 Fundamentale Unterschiede im Standpunkt zu Familie und Kindern, die sozialisationsbedingt und unabänderbar seien, sah die Friseurin Anna: „(…) für Frauen ist eine Familie wichtiger. Ein Mann kann auch ohne Familie leben, für ihn ist es genug, wenn ab und zu eine Frau kommt und für ihn putzt und wäscht.

Wenn er Lust hat, schläft er mit ihr, wenn er keine Lust hat, läßt er es bleiben. Natürlich könnte eine Frau auch so leben, aber ich glaube, daß die meisten Frauen ein Heim wollen, eine Familie und Kinder. Von alters her versorgen die Frauen ihre Familie und bedienen ihren Mann, nähen und waschen. Der Mann soll das Essen herbeischaffen, und die Frau das Feuer im Herd hüten.

Das ist bei den Frauen schon so tief eingewurzelt, daß es nicht mehr zu ändern ist.“12

Die Direktorin Natalija schrieb den Frauen größere Emotionalität und Trivialität zu, den Männern hingegen Rationalität und den Blick für das Ganze, aber nicht für Details: „Die Sache ist die [d.h. Männer und Frauen] vor allem eine Unterschiedliche Haltung zur Familie haben, wir haben eine sehr unterschiedliche Haltung zur Politik, wir haben eine unterschiedliche Haltung zur Umwelt.

Das…, das ist offensichtlich die Spezifik des Mannes. Und im Haus hat der Mann andere Interessen: er freut sich über das Kind, aber er kann nicht bemerken, daß, sagen wir, das Geschirr nicht gespült ist. Das interessiert ihn nicht. Die Frau bemerkt es sofort. Er schenkt der Tatsache, daß, sagen wir, seine Frau eine neue Frisur hat, keine Aufmerksamkeit, er bemerkt es nicht, das ist völlig normal.

Aber gleichzeitig hört er, was sie im Radio über das, sagen wir, Weltgeschehen berichten. was dort alles vorgeht, in Jugoslawien, in Polen… (…)Die Frau handelt mehr im konkreten Leben. Aber der Mann handelt mehr in der dieses Leben umgebenden Außenwelt.“13


Ende der 70er Jahre trat ein neues Thema ins Zentrum der Aufmerksamkeit hinsichtlich der Frauenfrage: „Die Angst vor dem Verlust der Weiblichkeit“14 Um dem zu begegnen sahen es die Wissenschaftler als primäre Aufgabe die feminine Weichheit und Emotionalität zu bewahren. Parallel hierzu sahen sie die Aufgabe der Männer in der stärkeren Wahrnehmung ihrer traditionellen Rolle als Beschützer der Frauen.

Folglich lag die Stärkung der traditionellen Stereotypen in ihrem Interesse.15 Dem entsprechend erzog die Arbeiterin Galina ihre Kinder geschlechtertypisch: „Ich wollte natürlich, daß der Junge mehr solche Alltagsqualitäten besitzen sollte, daß er beschützen kann, aber das Mädchen, wollte ich, daß sie sanfter sein sollte, weiblicher. „Und was ist das, Weiblichkeit?“ - „Nun, es gibt solche vulgären Mädchen… Ich mag keine Mädchen, die rauchen.

Ich würde nicht wollen, daß sie rauchen, daß sie… sich solche schroffen Bewegungen angewöhnen. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.“ - „Aber dem Jungen würden Sie das Rauchen erlauben?“ - „Ja, dem würde ich… (…) Natürlich nicht in dem Alter, in dem er jetzt ist.“16 Eine ungleiche Erziehung war auch für das Zimmermädchen Lida entscheidend: „Ein Junge muss so erzogen werden, daß er mutig ist, kräftig und zäh wird.

Es muß ja später nett und modisch angezogen sein, und das kann es nicht früh genug lernen. Man muss ein Mädchen so erziehen, daß es lieb und nett wird. Es muß auch sanft sein und darf sich nicht prügeln. Dagegen muss ein Junge unbedingt lernen, sich zu wehren.“…Ein Mädchen soll doch weiblich sein, d.h. brav und sanft. Wenn es sich mit Jungen prügelt, behandelt man es automatisch wie einen Jungen.

Es wird hart und bleibt es auch als erwachsene Frau. Damit hat es seine Weiblichkeit verloren, und es kann dann noch so hübsch sein, seine Härte verscheucht alle Männer.“17


3.2. Kinder


Mit der Wiederzulassung der Soziologie kam die prekäre demographische Lage zum Vorschein. Man sah sich dem Problem ausgesetzt im eigenen Land zur Minderheit zu werden. Während die Geburtenrate in der RSFSR sank, nahmen die Geburten, außer in Georgien, in den zentralasiatischen und transkaukasischen Sowjetrepubliken rapide zu. Das Bevölkerungswachstum war dort in etwa drei mal so hoch.

Bedrohlich war die Situation da dies zu einem Fachkräftemangel hätte führen können und dies bei gleichzeitigem Anstieg schlecht ausgebildeter Arbeitskräfte. Der Mangel an Spezialisten und Sprachprobleme hätte zu einer Destabilisierung der Armee führen können.18 Überwiegend wünschen sich Frauen eine Familie mit 2 Kindern, die Demographen hielten die Drei-Kind-Familie für erforderlich.

Um der fallenden Geburtenrate in Russland entgegenzuwirken wurden die Frauen nach dem XXV. Parteikongress zum Kindergebären angeregt. Dies geschah einerseits durch das Vorhaben die Arbeitsbedingungen der Frauen zu verbessern und andererseits durch das Bestreben die Arbeit und den Beruf leichter zu vereinbaren. Die von Breznev geforderte Erleichterung der Lage der Frau erfuhr eine praktische Umsetzung im Beschluss aus dem Jahr 1977. Innerhalb des Gesundheitswesens sollte den Ausgaben für Mutterschaftsvorsorge und Kinderkrankenhäusern eine höher Priorität zukommen.

Weiterhin wurde eine weit reichende Propagandakampagne für die Familie ins Leben gerufen. Frauen wurden in etlichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ermutigt früh zu heiraten und Kinder zu gebären.20

Breznev erkannte im Jahr 1981, dass die bisherigen Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenrate nicht ausreichten. Frauen sollten während der Schwangerschaft und bei der Kindererziehung stärker von sozialen Einrichtungen unterstützt werden. Weiterhin schlug er einen teilweise bezahlten Mutterschaftsurlaub von bis zu einem Jahr ab der Geburt vor, einen zusätzlichen Drei-Tage-Urlaub für Mütter mit zwei oder mehreren Kindern im Alter von bis zu zwölf Jahren, Teilzeitarbeitstellen für Mütter mit kleinen Kindern, verbesserte Vorschuleinrichtungen, Urlaubsvergünstigungen und eine Erhöhung des Kindergeldes von 5 auf 20 Rubel sowie eine einmalige Zahlung von 50 Rubeln für das erste und 100 Rubeln für jedes weitere Kind.

So niedrig wie sie jetzt sind, können sich die Frauen den Luxus von zwei oder drei Kindern überhaupt nicht leisten.“22 Der finanzielle Aspekt war auch für das Zimmermädchen Lida ausschlaggebend für die in Russland gewöhnliche Ein-Kind-Familie: „Unter den heutigen Umständen ist es fast unmöglich, auch nur ein Kind zu ernähren. Die Kinderkleidung ist bei uns furchtbar teuer.

Man muß enorm viel Geld ausgeben, denn ein kleines Kind wie Danilo wächst nicht nur jeden Tag, nein, der wächst fast jede Stunde. Er braucht ständig neue Schuhe, neue Hemdenneue Hosen. Auch das essen für ein Kind ist sehr teuer. (…) Wegen solchen Dingen kann sich fast niemand mehr als ein Kind leisten. Ich glaube nicht, daß jemand freiwillig ein zweites Kind bekommt.“23

Die Anzahl der Kindergärten wuchs seit der Stalinzeit stetig an. Im Jahre 1928 standen nur rund 2500 Kindergärten zur Verfügung, 1932 waren es knapp 20000 und 1975 knapp 100000. Genügend Einrichtungen standen dennoch nicht zur Verfügung: Nur etwa 40% der Mütter fanden für ihre Kinder einen Kindergartenplatz im Jahr 1980.24 Die restlichen Kinder mussten während der Arbeitszeit der Mutter in der Obhut einer Babuschka oder Njanja oder standen unter Aufsicht älterer Geschwister.25 Über die desolaten Zustände in den Tagesstätten äußerte sich die Romaistin Sonja kritisch: „Die Tagesheime sind unter aller Kritik.

Kindererziehung blieb weiterhin Aufgabe der Mütter. Jede siebte Mutter war 1977 allein erziehend. Gehörte der Vater noch zur Familie hielt dieser sich von der Kindererziehung fern, so blieb die Erziehung Frauensache und Russland bewegte sich auf einen Zustand der vaterlosen Gesellschaft hin.28 Problematisch wirkte sich die Zeitnot unter der Mütter litten aus. Ihnen blieb nur wenig Zeit sich den Sorgen den Kinder zu widmen und so empfanden nur 25% der befragten Jugendlichen ihr Verhältnis zu den Eltern als zufrieden stellend.29 Die Vertragsangestellte Lisa konnte ihrem Kind nicht so viel Zeit widmen wie sie für richtig erachtete: „Nein, ich bin eine ganz schlechte Mutter.

Ich erziehe meinen Sohn nur so nebenbei, ich werde müde, wenn ich mich mit ihm beschäftigen muß. Ich gebe ihm dann einen Bleistift, damit er irgend etwas zeichnet und sich selbst beschäftigt, aber ich versuche, ihm doch Freude an der Arbeit beizubringen, das ist fast das Wichtigste, was man einem Kind beibringen kann.“30

Ich habe allerdings noch nicht abgetrieben. Aber der Tag wird wohl noch kommen, denn es gibt kaum eine Frau, die noch nicht irgendwann abgetrieben hat.“32 Die Vertragsredakteurin Lisa, die schon sieben mal abgetrieben hat, sieht die Ursache für die ungewollten Schwangerschaft in der schlechten Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, in deren Risiken, aber auch in der der unzureichenden Akzeptanz von diesen: „Ja, es gibt die Spirale, die wird bei uns verwendet, aber nicht oft.

Manche Frauen, welche eine Spirale wollen, stehen lange darum an. Wir versuchen, die Pille zu lassen, sie sind gefährlich. Sie sollen auch für die ungebohrenen Kinder gefährlich sein. Und manche verwenden Aspirin, aber auch das soll gefährlich sein. Bei uns treibt man vor allen Dingen ab. Es ist einfach fürchterlich, es ist furchtbar, es ist mehr als furchtbar, aber was soll man tun? Bei uns sind die Verhütungsmittel ganz unzureichen und dann ist man ja gezwungen, abzutreiben. es gibt also die Spirale, die nur selten verwendet wird.

Ich hätte es nie gewagt mit ihnen über Verhütungsmittel zu sprechen. (…) denn in der Schule sagen sie einem ja nichts, und ich schäme mich übrigens, mit fremden Leuten über so etwas [über Sex und die Regel] zu reden, es ist mir zu intim.“34 Eine fragen nach den gängigen Verhütungsmitteln beantwortete sie wie folgt: „Ich glaube die einheimischen Kondome. Aber ich will nur die importierten.

Sie sind wesentlich besser. Dann gibt es natürlich die Pillen. Der Arzt erlaubt mir aber keine Pillen. Meist kommt man ohne jedes Mittel aus, denn jede Frau hat ja sichere Tage. Es geht also einigermaßen, und es geschieht ja auch nicht jeden Abend.“35

Um die Frau als Mutter zu würdigen wird der 1944 eingeführte Mutterorden weiterhin verliehen. Durchwegs wird von sowjetischen Wissenschaftlern die Berufstätigkeit von Frauen nicht in Frage gestellt(synonym?), der Rolle als Mutter gilt jedoch höchste Priorität. Es wurde betont, dass die Mutterrolle selbst bei erfolgreichen Frauen im Vordergrund stehe, sie aber nicht auf den Beruf verzichten wollen, da dieser das Leben abwechslungsreicher und harmonischer werden lasse.

Das zum Idealbild der sowjetischen Frau gilt auch für die gewollte kinderlose Künstlerin Viktorija. Auf die Frage nach der idealen Frau antwortet sie: „Nicht wie ich wahrscheinlich! (…) Eine Frau sollte natürlich vor allem eine gute Frau und Mutter sein.“ – „Ist es wirklich Ihre Überzeugung, daß sie so sein sollte, oder bloß ein Stereotyp?“ – „Hm, schwer zu sagen, wissen Sie, ich habe immer das Gefühl, nicht daß ich, wie soll ich sagen, eine Art Schmarotzerin wäre, sondern, daß meine Art zu leben nicht zum Gesetz werden sollte. (…)“ - „Aber Sie haben doch gesagt, daß es für sie die richtige Entscheidung war, keine Kinder zuhaben?“ - „Ja, das stimmt.

Ich bin nicht so. Aber ich fühle mich deshalb schuldig.“37 Die Mutterrolle genießt auch bei der Studentin Ljalja höchste Wichtigkeit: „Mein Beruf und meine Arbeit machen mir auch Freude, aber an erster Stelle steht doch für mich mein Kind.“38

Die Verlagsangestellte Lisa sieht in der Kinderlosigkeit das größte Desaster, vor allem für die Frau: „Nein, nein, wenn ein Mann und eine Frau bereits in den 40ern sind und man immer noch nicht Kinderstimmen in ihrem Haus hört, dann ist das ganze Leben sinnlos, es ist das Ende. Und natürlich ist die Frau dabei am unglücklichsten. Bei den Bauern war es früher so, daß man sich deswegen scheiden lassen konnte, und das finde ich richtig.


3.3 Haushalt


Die Frau war nicht nur in weitaus stärkerem Ausmaß für die Erziehung der Kinder verantwortlich, sondern darüber hinaus für die Gesundheit und das Wohl der ganzen Familie. Forscher betonten, dass die Frau Herrin im Haus sei und von ihr in entscheidendem Maß der Lebensstil, die Ordnung, die Traditionen und Gewohnheiten abhingen. Ihre Aufgabe sei es eine gute Hausfrau zu sein, die Familie zu verwöhnen, dem Mann schöne Kleidung zu stricken, die Wohnung hübsch einzurichten und das Wochenende erholsam und sinnvoll zu gestalten.41 Frustriert über die Pflichten im Haus äußert sich die Künstlerin Viktorija: „Nun, weil mir die häusliche Pflicht zum Hals heraus hängt! ich weiß, ich sollte unbedingt… Dann muss man erst einmal das Mittagessen kochen, dann das… Die Sache ist die, daß ich es nicht will, aber es ist meine Pflicht.

Doch warum hab ich diese Pflicht, mein Gott?!“42

Obwohl man die Führung des Haushaltes im Verantwortungsbereich der Frauen sah, plädierten russische Wissenschaftler für Gleichberechtung der Partner und eine gleichmäßige Lastenverteilung. Eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen kam jedoch zum Ergebnis, dass Frauen pro Woche etwa 30,5 Stunden in Hausarbeit investieren, Männer hingegen nur 10,5 Stunden.43 Eine internationale Untersuchung von Soziologen zufolge leisteten die sowjetischen Frauen trotz gleichzeitiger Berufstätigkeit im Haushalt viermal so viel wie Männer.44 Das Zimmermädchen Lida rechtfertigte die ungleiche Lastenverteilung mittels typischer Rollenbilder von Weiblichkeit und Männlichkeit: „ Ich kenne eine Frau, die wirklich Hilfe bekommt - von einem Nachbarn.


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