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Die Sehnsucht der Zivilisation nach der Natur: Eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung des Locus amoenus
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Seminararbeit
Soziologie

Philipps-Universität Marburg

1999, Becker

Andrea F. ©
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ID# 15638







Die Sehnsucht der Zivilisation nach der Natur -

eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung des Locus amoenus


PHILIPPS-UNIVERSITÄT MARBURG

FACHBEREICH ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTEN / SPORTWISSENSCHAFT


Studienbegleitende Hausarbeit

zu dem Thema:


DATUM DER ABGABE: August 1999


EINGEREICHT BEI: PROF. DR. BECKER


Inhalt


I. Einleitung 3


II. Zum Naturbegriff 4


III. Die gegenwärtige Mensch-Natur-Beziehung 5


IV. Der Locus amoenus 11


1. Der Locus amoenus als literarischer Topos . 11


2. Der Locus amoenus und die Gartenkunst 18


3. Der Locus amoenus und die Erotik 22


4. Der Locus amoenus und der Locus terribilis 24


5. Der Locus amoenus und der Locus desertus 25


V. Schlussbetrachtung . 26


VI. Literaturangaben 30


I. Einleitung


Der Begriff 'Natur' begegnet uns häufig. In Reisebüros, in der Werbung, in der Politik . und manchem auch in Tagträumen. Doch was ist Natur eigentlich, was verstehen wir unter diesem Begriff? Ist Natur etwas Gefährliches oder etwas Angenehmes, etwas, wonach man Sehnsucht hat?

Der 'Naturschutz' ist zum erklärten Anliegen vieler Gesellschaften geworden, insbesondere wird dieses Bestreben in den westlichen Industriestaaten artikuliert, deren Bewohner und deren Gesellschaftsleben ich in dieser Arbeit unter dem Begriff Zivilisation subsumiere. Die dieses Bestreben begleitenden Diskussionen basieren vorwiegend auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen mit dem Ziel der Regeneration - also der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes - der Natur.

Der Mensch ist jedoch nicht nur physisch, sondern auch emotional von ihr abhängig. Um dieses oft vernachlässigte, emotionale Verhältnis zwischen Mensch und Natur wird es in dieser Arbeit gehen. "Die Geistesgeschichte ist [ .] aufgefordert, die naturwissenschaftlich geführte Auseinandersetzung um unsere ökologische Situation durch einen mit historischem Bewußtsein geführten ästhetischen Diskurs zu begleiten und kritisch zu ergänzen."[1]

In den folgenden Kapiteln werde ich zunächst kurz auf die Definition des Naturbegriffs eingehen und dann die gegenwärtige Mensch-Natur-Beziehung aus meiner Sicht beschreiben und versuchen, Erklärungsansätze für diese zu finden. Wenigstens seit der Antike bis heute sehnen sich die Menschen nach einem ganz besonderen "aus bestimmten Landschaftselementen zusammengesetzten idyllischen Ort"[2] in der Natur, deshalb wird die Behandlung des "literarischen Topos"[3] 'Locus amoenus' den Schwerpunkt dieser Arbeit bilden.

Topos meint in diesem Zusammenhang soviel wie "festes Klischee, formelhafte Wendung, Bild."[4]


II. Zum Naturbegriff


Die Begriffe Ökologie/Ökonomie und Natur/Technik werden von vielen Menschen heute in ihrer Bedeutung als selbstverständlich gegensätzlich betrachtet. Ein nachhaltiger Einklang zwischen diesen Bereichen wird als Utopie gesehen. Der Mensch sieht also einen Gegensatz zwischen der ursprünglichen, unberührten Natur und der von ihm mittels technischem Fortschritt veränderten Natur.

"Im Verlauf des Modernisierungsprozesses bestimmen unterschiedliche Naturdiskurse unser Verhältnis zur Natur. Gegenüber dem sich seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts durchsetzenden instrumentell-technischen/naturwissenschaftlich-rationalen Naturdiskurs artikulieren sich Gegen-Diskurse. Diese Diskurse begleiten den Prozeß fortschreitender Naturbeherrschung, -unterwerfung und -verwüstung.

Die Gegendiskurse bestimmen sich dialektisch als Momente des Modernisierungsprozesses selbst. Der fortschreitenden Naturentfremdung, der dominant rationalen Aneignung der Natur entsprechen unmittelbar die jeweiligen Versuche einer emotionalen und ästhetischen Wiederaneignung der Natur."[5]

Auch Stefan Heiland sieht eine Distanz zwischen dem Menschen und der Natur und beschreibt Kompensationsversuche: "Filmberichte über die Savannen Afrikas oder die Artenvielfalt in Korallenriffen sind keine Seltenheit in den Fernsehprogrammen. ( .) Es ist zu vermuten, daß die Filme über 'Naturparadiese unserer Erde' eine ähnliche Kompensationsfunktion erfüllen wie die ästhetisch gesehene Landschaft.

Sie vermitteln das, was für einen Großteil der Bevölkerung nicht mehr unmittelbar erlebbar ist."[6]

Gernot Böhme beschreibt, welche 'Wunschdefinition der Natur' der Mensch für sich entwickelt hat und wie er die Natur erfahren möchte: "Die Natur soll etwas sein, aus dem dem Menschen etwas widerfährt. Er möchte sie erfahren als etwas, das von selbst da ist, ohne sein Zutun, das eine eigene Aktivität, Bewegung, das ein eigenes Wesen hat."[7]

Um zwei naheliegende Ansätze für eine Definition des Naturbegriffs zu präsentieren, muss ich abermals Heiland bemühen: " 'Natur' lässt sich zumindest auf zweierlei Weisen verstehen. Zunächst als gesamter Kosmos mit seiner Materie und all seinen Wirkungsmechanismen. Zweitens als eingeschränkter Begriff: als Gegensatz zu menschlicher Tätigkeit."[8]

Da im Rahmen dieser Arbeit kein umfangreicher Naturdiskurs geführt werden kann, begnüge ich mich an dieser Stelle mit der Definition des Naturbegriffs, wie er sich aus den oben aufgeführten Feststellungen und Zitaten ergibt. Vor dem Hintergrund des Gegenstandes dieser Arbeit kann hier der Begriff 'Natur' nur im engeren Sinne verstanden werden, also gemäß Heilands zweiter Definition "als Gegensatz zu menschlicher Tätigkeit."[9] In der heutigen Zeit ist Natur ein gradueller Begriff - je unberührter ein Teil der Natur ist, desto natürlicher ist er, desto mehr ist er Natur.

Eine 'gute Natur' muss möglichst ursprünglich und unberührt sein, sie muss Wildnis sein und für diese gilt: "Der Wert der Wildnis ist umgekehrt proportional zum Grad ihrer Erschließung."[10]


III. Die gegenwärtige Mensch-Natur-Beziehung


Natur.

Würde man in einer Schulklasse, von einer Studentengruppe oder von einer Gruppe Berufstätiger ein Brainstorming zu dem Begriff 'Natur' durchführen lassen, so - dies wage ich, auszusagen, auch ohne einen solchen Versuch unternommen zu haben oder ihn irgendwo belegt zu wissen - würde man in den entstandenen Wortlisten vorwiegend positiv besetzte Begriffe vorfinden.

Rückschließend könnte daraus dann entnommen werden, dass auch der Begriff 'Natur' selbst vorwiegend positiv besetzt ist.

Hat man Vertrauen in die Kompetenz heutiger Werbefachleute, so ist es aber gar nicht nötig, den oben angeregten Versuch durchzuführen, denn sie haben die oben gemutmaßte Erkenntnis - wenn vielleicht auch auf anderen Wegen - schon längst für sich gewonnen. Sie, die in den Marketingabteilungen der Firmen die Entscheidungen fällen, nutzen die mit den Begriffen 'Natur', 'Natürlichkeit' und 'Ursprünglichkeit/Unberührtheit' einhergehenden Konnotationen und Gefühlsregungen zur Anpreisung ihrer Produkte und Dienstleistungen schon lange und immer stärker.

So haben sich schon viele Kinobesucher 'Marlboro Country' angesehen und so wissen auch viele Deutsche, welches Bier 'aus dem Herzen der Natur' kommt, um nur zwei Werbungen zu nennen, die das Thema 'Natur' besonders deutlich als Botschaftsträger nutzen. Natur wird eben als pittoresk empfunden. "The word [picturesque] is a valuable coin in the currency of tourism."[11]

Die Menschen suchen in ihrer Freizeit, sei es ein Nachmittag, ein Wochenende oder ein mehrwöchiger Urlaub, die Natur auf. Das Leben "in lebensunwerten, lieblosen Städten und unter lebensfeindlichen Arbeitsbedingungen, wobei selbst die um sich greifende Automatisierung als Arbeitserleichterung hochgelobt wird, zieht neue Formen von Unlust, Frust und gesundheitliche (psychische und physische) Schäden nach sich.

So entsteht bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Abwechslung, nach neuen körperlichen und geistigen Herausforderungen in einer scheinbar intakten Natur und Umwelt."[12] Die Unzufriedenheit über ihr urbanes Leben bzw. die Sehnsucht nach der Natur war und ist bei manchen Menschen sogar so groß, dass sie in ländliche Bereiche zogen und ziehen. In Deutschland war diese Bewegung (Stadtflucht) in den 60er und 70er Jahren unseres Jahrhunderts besonders stark zu beobachten.

Einigen Menschen ist aber auch der ländliche Bereich in Deutschland noch zu stark von der Zivilisation heimgesucht, so dass sie in die Wälder Skandinaviens oder Kanadas auswandern.

Sei es ein Tagesausflug oder gar das Auswandern in die Natur, ist es eine Flucht oder eine Suche? Es ist wohl beides: eine Flucht vor den Dingen, von denen man in seinem Lebensumfeld in der Zivilisation belastet wird und eine Suche nach den Dingen, die man in diesem Umfeld nicht finden kann.

Natur bietet Ruhe (kein Autolärm, kein Maschinenlärm und für viele vor allem: kein Menschenlärm) solange nicht auch dieser Vorzug der Natur von der Zivilisation per Flugzeuglärm eingeholt wird. Hat man diese Ruhe gefunden, so ist man der Reizüberflutung seiner gewohnten Umwelt entflohen.

Sie erkennen einen größeren Zusammenhang: in der Zivilisation - und besonders in der Stadt - leben die meisten Menschen in einer für sie klar zu definierenden Welt mit klaren, festen Grenzen. Das Aufsuchen der Natur bedeutet Ausbruch und Grenzüberschreitung, was bereits einen Reiz in sich darstellt. Hinzu kommt, dass eigene Probleme der Alltagswelt im Angesicht der nun größer, gar unendlich, erscheinenden Welt massiv an Bedeutung/Wichtigkeit verlieren.

Der "Wertewandel vom Materialismus zum Postmaterialismus"[13] brachte auch einen Wandel in den menschlichen Bestrebungen bzgl. der Natur mit sich: man strebt nun nicht mehr die reine Dominanz des Menschen über die Natur an, sondern vielmehr die Einheit zwischen Mensch und Natur.[14] Die Natur ist nun nicht mehr lebensbedrohlicher Feind, sondern lebensspendender Freund.

Nur als Folge dieses Wandels ist es zu verstehen, dass die Natur - wenn mit den Sinnen betrachtet - vom Menschen als ästhetisch wertvoll genossen werden kann. Diese "Wahrnehmung schön oder erhaben empfundener Landschaft"[15] bezeichnet Bach als ästhetisches Naturerleben[16]

Viele Menschen sehnen sich daher - von romantischen Gefühlen eingenommen - nach einem einfachen Leben in der Natur. Aber es erwarten den Menschen dort auch Gefahren und Unannehmlichkeiten, insbesondere gilt dies für Menschen, die das Leben in der Natur - ohne die technischen Errungenschaften als Hilfsmittel (Materialismus, s.o.) - nicht gelernt haben.

So ist das Verhältnis des Menschen zur Natur eher ambivalent. "An irreconcilable tension seems to govern human attitudes toward nature. We think of it both as an innocent refuge from the corruption of human society and as the savage condition from which civilization is an escape. These views have always orbited each other, like twin stars, and they are reflected in most periods and at every level of our culture, from Jean-Jacques Rousseau to Walt Disney and Steven Spielberg."[17]

Einer der wichtigsten Gründe für den Menschen, in die Natur zu fliehen, ist aber wohl die Zeit. In der Zivilisation unser ständiger Wegbegleiter - im Kopf, am Kirchturm und am Arm - ist sie in der Natur scheinbar nicht vorhanden. Es wird hell, es wird dunkel, das ist alles.

Henry David Thoreau beschreibt allerdings nicht nur die Zeit, sondern auch andere o.g. Faktoren als Motivationsgründe für sein Projekt 'Walden', während dessen er - von kurzen Ausflügen unterbrochen - in einer Blockhütte am Waldensee, etwa vier Kilometer von Concord, Massachusetts, entfernt lebte. Er lebte dort vom 4. Juli 1845 bis zum 6. September 1847. Sein ganzes Buch Walden: oder Leben in den Wäldern handelt im Grunde davon, Motivationsgründe für dieses Projekt zu beschreiben, an einer Stelle des Buches gibt er aber eine grobe Zusammenfassung derer:


Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müßte, daß ich nicht gelebt hatte. Ich wollte nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. ( .) Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.


Zwar haben viele Menschen Sehnsucht nach einem solchen Leben, doch kommt es nur sehr selten zur Realisierung. Statt dessen suchen sie die Natur in ihrer Freizeit z.B. mit Wanderschuhen und Zelt auf. Dadurch wird ihre Sehnsucht zwar nicht gestillt, aber sie gehen ihr zumindest ansatzweise nach.

Viele dieser Menschen begründen ihre Vorliebe für diese Art der Freizeitgestaltung mit ihrem im Alltag materiell übersättigten Leben und der daraus resultierenden Sehnsucht nach Primitivität. Es lässt sich dieses Phänomen wohl am besten mit der Maslow'schen Bedürfnispyramide erklären. In dieser Lehre beschreibt Maslow fünf Bedürfnisse, von denen der Mensch geleitet wird.


Entwicklungsbedürfnis


Wertschätzungsbedürfnis


Zugehörigkeitsbedürfnis


Sicherheitsbedürfnis


Grundbedürfnisse


Man kann sich bei den Menschen nun drei mögliche - sehr stark pauschalierte - Ausgänge für den Versuch der Befriedigung dieser Bedürfnisse vorstellen:

1. Sie konnten die ersten vier (von unten an) Bedürfnisse befriedigen, finden darin ihre Erfüllung und versuchen, sich dahingehend zu entwickeln (Entwicklungsbedürfnis), diese Bedürfnisse auch weiterhin und vielleicht noch besser zu befriedigen.

2. Sie konnten die ersten vier (von unten an) Bedürfnisse befriedigen, sind mit ihrem Lebenswandel aber dennoch latent unzufrieden.

3. Sie konnten die ersten vier (von unten an) Bedürfnisse nur bedingt befriedigen.


Bei dem ersten Ausgang werden die betroffenen Menschen wahrscheinlich versuchen, ihren bisherigen Weg unbeirrt weiterzugehen und nach wie vor Zielen wie Materialismus, Karriere und soziale Integration durch entsprechendes Engagement entgegenzustreben. Sie haben für Naturschwärmereien keinen Sinn und kein Verständnis, sie sind von den Strukturen der Gesellschaft absorbiert worden, sie sind ein funktionierendes Teil davon.

Schon Rainer Maria Rilke wusste um diese Menschen und hat ihnen ein Gedicht gewidmet:


Großstadt.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer

In tiefen Zimmern, bange von Gebärde,

Geängsteter denn eine Erstlingsherde;

Und draußen wacht und atmet deine Erde,

Sie aber sind und wissen es nicht mehr.[19]


Bei dem zweiten Ausgang werden die Menschen wahrscheinlich ihren bisherigen Lebenswandel hinterfragen und evtl. von alternativen Lebensmöglichkeiten außerhalb ihrer gewohnten Zivilisationsumgebung träumen. Im extremsten Fall werden sie ihr äußeres Umfeld dahingehend ändern und evtl. sogar auswandern (s.o.), in den meisten Fällen wird es aber bei den Gedanken daran bleiben und werden die Menschen von ihrer zu starken Sozialisierung in der alten Umgebung und in den alten Mustern festgehalten.

Mögliche Entscheidungen für die dritte Gruppe zu skizzieren würde zu viele Mutmaßungen voraussetzen. Die populärste ist aber sicherlich die des Aussteigens.

Ich habe eingangs den gegenwärtigen Naturdiskurs zusammenfassend widergespiegelt und in diesem Kapitel einige Argumente gelistet, die die Menschen dazu bewegen, aus ihrer alltäglichen, direkten - z.B. städtischen - Umwelt zu fliehen und die Natur aufzusuchen. Welche genauere Vorstellung haben diese Menschen aber von der Natur, welche Bedingungen muss ein Ort erfüllen, um realen (z.B. für einen Spaziergang) oder auch ideellen (z.B. für einen Traum) Ansprüchen zu genügen - und auch: welche Beziehung möchten sie selbst zu diesem Ort haben? Möchten sie dort leben, möchten sie ihn besuchen oder reicht ihnen gar ein Foto oder die bloße Vorstellung? In der Literatur gibt es Antworten auf diese Fragen, es gibt Beschreibungen solcher Orte und es gibt Beschreibungen von Situationen an solchen Orten. "[ .] Curtius originally characterized the locus amoenus"[20], ein literarischer Topos, der genau solche Orte meint.


IV. Der Locus amoenus


Während 'Locus' in diesem Kontext 'Ort' heißt, kann amoenus laut lateinisch-deutschem Wörterbuch mit "reizend gelegen; angenehm, lieblich, schön"[21] übersetzt werden, so dass das Fremdwörterbuch den Locus amoenus als ein "aus bestimmten Elementen zusammengesetztes Bild einer lieblichen Landschaft als literarischer Topos (bes. der Idylle [ .])"[22] beschreibt.


1. Der Locus amoenus als literarischer Topos


In diesem Unterkapitel soll nun gezeigt werden, was dieser Topos in der Literatur genau beschreibt und welche Schriftsteller sich seiner bedienten. Da der Locus amoenus ein literarischer Topos ist, ergibt sich automatisch, dass ich in dem gesamten Kapitel über den Locus amoenus sehr viel aus der Primärliteratur zitieren werde.

Ich werde mich dabei nicht auf Ausschnitte von ein bis zwei Zeilen beschränken, da ich damit die Intentionen der Autoren - nämlich eine amöne Atmosphäre zu erzeugen - zunichte machen würde; diese Atmosphäre zu erhalten ist aber für das Verständnis der Begrifflichkeit in diesem Fall besonders wichtig.

Curtius zitiert Aeneis, um aufzuzeigen, dass zumindest die einzelnen Bestandteile des späteren Topos bereits in Virgils Dichtung Verwendung fanden:


Devenere locos laetos et amoena virecta

Fortunatorum nemorum sedesque beatas.

Largior hic campos aether et lumine vestit

Purpureo, solemque suum, sua sidera norunt.


Heitere Fluren betraten sie dann und grünende Auen,

Dort ist freie ätherische Luft mit purpurnem Lichte;

Alles Gefild ist erhellt von anderer Sonne und Sternen.[24]


"In dem ersten Vers ist das Wort amoenus 'anmutig, lieblich' verwendet. Es ist Virgils ständiges Beiwort für 'schöne' Natur (z.B. Aeneis V 734 und VII 30)"[25]. Als Terminus in der Sekundärliteratur "erscheint der locus amoenus im 14. Buch von Isidors Enzyklopädie. [ .] Der locus amoenus ist [ .] bei Isidor ein Begriff aus der Morphologie der Bodengestaltung."[26] Laut Rodriguez et al. war es allerdings Curtius, der den Locus amoenus als Erster in dem heutigen Sinne als literarischen Topos charakterisierte[27]. "Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach.

Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu."[28] Schönbeck definiert ihn - ähnlich wie Curtius - als Dreiheit von Ruheplatz, Baum und Quelle.[29] Für die Südländer muss das Lager als Mittelpunkt des Locus amoenus schattig sein, was durch Bäume oder eine felsige Grotte erreicht wird, wobei der Ort trotzdem von lichtem Sonnenglanz erhellt sein muss, denn das Licht lässt die Farben besser hervortreten.

Mit diesem Begriff können nun auch im Nachhinein Naturbeschreibungen seit der Antike einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden. So empfindet z.B. Homer die unbewohnte Ziegeninsel beim Kyklopeneiland als liebliche Natur und beschreibt sie als Ideallandschaft[31]:


Dort sind Wiesen schwellend und süß, voll rinnender Wasser

Bis ans Meer, da stünde der Weinstock immer in Trauben;

Und ein Saatgrund, eben und rein, es würden die vollen

Halme sich beugen zum Schnitt: so fett ist unten das Erdreich [ .]

Oben im Haupte der Bucht entspringt das lautere Wasser

Mitten im Fels, ein Quell, von flüsternden Pappeln umstanden.[32]


Homer beschreibt also bereits in der Odyssee einen Locus amoenus mit vielen dazugehörigen Elementen: Wiesen (als weiche Sitzgelegenheit), Wasser aus einer Quelle (frisch und sauber zum Trinken, Erfrischen und Waschen), Wein (als Genussmittel und zur Bewusstseinserweiterung), fruchtbarer Boden, Getreide (als Nahrungsquelle), Pappeln (auch als Schattenspender).

Der Locus amoenus ist zwar älter als die Bukolik ("Hirten- od. Schäferdichtung (Dichtung mit Motiven aus der einfachen, naturnahen, friedlichen Welt der Hirten)"[33]), doch erst mit ihr "tritt er einen Siegeszug durch die europäische Literatur an"[34] - er "ist so eng mit ihr verbunden, daß die Begriffe 'amöne' und 'pastorale' Landschaft zu Synonymen geworden sind. [ .] Die Bukolik ist daher das wichtigste Zeugnis für den locus amoenus."[35] Zwar ist Theokrit der eigentliche Begründer der Hirtendichtung, doch konnte sie nur darum fester Bestandteil der abendländischen Tradition bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts[36] werden, weil Virgil sie von Theokrit übernahm[37]:


Und nun jegliches grünt und blüht, Feld, Anger und Fruchtbaum

und die Wälder umher zur schönsten Stunde des Jahres.[38]


Der Topos Locus amoenus bleibt der Bukolik erhalten und erhält dort viele - sich im Grunde nur leicht unterscheidende - Ausschmückungen. "Goethes Faust ist eine 'Wiederbringung aller Dinge' im Weltprozeß der Literatur - also auch der Hirtenpoesie"[39]:


Und duldet auch auf seiner Berge Rücken

Das Zackenhaupt der Sonne kalten Pfeil,

Läßt nun der Fels sich angegrünt erblicken,

Die Ziege nimmt genäschig kargen Teil.


Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,

Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.

Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche

Siehst Wollenherden ausgebreitet ziehn.


Verteilt, vorsichtig abgemessen schreitet

Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand;

Doch Obdach ist den sämtlichen bereitet,

Zu hundert Höhlen wölbt sich Felsenwand.


Pan schützt sie dort, und Lebensnymphen wohnen

In buschiger Klüfte feucht erfrischtem Raum,

Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen,

Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.


Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;

Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,

Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.


Und mütterlich im stillen Schattenkreise

Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;

Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,

Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.


Hier ist das Wohlbehagen erblich,

Die Wange heitert wie der Mund,

Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich:

Sie sind zufrieden und gesund.


Und so entwickelt sich am reinen Tage

Zu Vaterkraft das holde Kind.

Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage:

Ob's Götter, ob es Menschen sind?


So war Apoll den Hirten zugestaltet,

Daß ihm der schönsten einer glich;

Denn wo Natur im reinen Kreise waltet,

Ergreifen alle Welten sich.[40]


Goethes Beschreibung ist nicht utopisch, bei Ovid hingegen war der Realitätsbezug nebensächlich. "In its benign and delicious form, the locus amoenus, or pleasant place, is characterized as a pastoral, Arcadian, languid, and utopian place."[41]So wollte Ovid mit Worten einen idealisierten Ort schaffen, unter anderem einen idealisierten Mischwald mit "nicht weniger denn sechsundzwanzig Arten!"[42] Weitere Bestandteile der Ovid'schen Utopie sind der ewige Frühling und das stete Vorhandensein verschiedenster Gaben der Natur bei gleichzeitiger Unberührtheit.


und unbepflanzt / die bästen Früchte trug.

[ .]

Es währte stäts die schöne Frülingszeit.

Der süsse West blies durch die Blumen-heid:

Kein Nordes-grimm / ein Tod der Kräuter war.

Und ungebaut / die Erde Frucht gebar.

Im Feld stund stäts der Aehren schweres Gold.

Man fand allzeit / wz jeder wünscht' und wolt.

Es floss der Strom / mit Milch und Nectar-Wein.

Es schenkten auch die Bäume Honig ein.[43]


Curtius meint, dass die "schönste Ausführung des locus amoenus in der spätlateinischen Poesie [ .] ein Gedicht des Tiberianus aus constantinischer Zeit"[44] bietet.


Zwischen grasigen Gefilden floß ein Strom durch kühles Tal,

Ließ die Kieselsteine funkeln, war von Blütenflor umsäumt.

Oben schwarze Lorbeersträucher und der Myrten grün Gehölz

Ward bewegt vom sanften Lufthauch, der mit Schmeicheln sie umweht.

Unten aber war des Rasens Pfühl zu schönem Flor erblüht,

Krokus rötete den Boden, Lilie schuf ihn leuchtend weiß;

Doch den ganzen Hain erfüllte eines Veilchenteppichs Duft.

Zwischen diesen Frühlingsgaben und der Knospen holder Zier

Wie der Liebesgöttin Flamme ragt der Rose goldne Pracht,

Über feuchtem Rasen wölbte sich der Hain, von Tau benetzt.

Viele Bächlein sprudeln murmelnd hier und dort aus reichem Quell,

Strömen, gleiten, fluten, perlen in der Tropfen Lichterspiel.

Moose kleiden aus die Grotten, grüner Efeu rankt sich hin,

Aller Vögel süße Lieder tönten durch den Schatten dort:

Mit des Stromes Murmelrede klang es aus dem Laub in eins,

Denn des Zephyrs Muse hatte Melodienstrom erregt.

Wer durchwandelt jenen grünen Lustbezirk von Duft und Klang,

Den hat Vogel, Hain und Windhauch, Schatten, Strom und Blum erfreut."[45]


Der Locus amoenus ist die Landschaft des Glücks, die dem Durchreisenden auf seinem Weg Ruhe und Entspannung gibt.[46] Sie ist "frei von allen widrigen Einflüssen: gegen die Hitze schützt der Schatten der Bäume, der Sommer bringt reiche Ernte; das Obst ist reif, die Zikaden zirpen und die Vögel singen wohlklingend. Der Raum schwingt von Musik und bereitet alle erdenklichen Annehmlichkeiten."[47]


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