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Aufsatz
Politik

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

2, Barth, 2016

Matthias B. ©
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ID# 53798







Gliederung:

  1. Einführung in die Teilnehmende Beobachtung

  2. Malinowskis “Die Argonauten des westlichen Pazifiks”

    1. Die Theorie von Malinowskis Feldforschungsprogramm

    2. Die Ausübung und Rezeption des Reiseberichts

  3. Die Marienthal-Studie von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisl

    1. Die theoretischen Überlegungen der Forschungsgruppe

    2. Ausübung und Rezeption der Marienthal-Untersuchung

  4. Vergleichende Methodik-Analyse der beiden Pionier-Arbeiten

  5. Quellenverzeichnis


1. Einführung in die Teilnehmende Beobachtung


Wer Feldforschung betreibt, will durch Beobachtung und Befragung im natürlichen Raum empirische Daten erheben. Die Methode der Teilnehmenden Beobachtung wird zu den Methoden der Feldforschung gezählt. Prägend für die Methode der Teilnehmenden Beobachtung ist die persönliche Teilnahme des Forschers an jenen Personen, die Forschungsobjekte seiner Untersuchung sind.

Je nach Auffassung der Theorie kann diese persönliche Teilnahme unterschiedlich intensiv ausfallen: von der bloßen physischen Präsenz in dem Raum, den sich die zu beobachtenden Personen teilen bis zur vollen Interaktion mit der Gruppe, und sogar Übernahme einer eigenen Rolle in der Struktur der Gruppe. Die persönliche Teilnahme stellt den Forscher vor eine besondere Herausforderung: So muss er zum einen eine besondere Nähe zu den zu untersuchenden Personen aufrechterhalten, ohne zugleich die wissenschaftliche Distanz aufzugeben, die zwingend nötig für die Sammlung von Belegmaterial ist.

Das Vielversprechende an dieser Methode besteht darin, dass durch die unmittelbare Teilnahme an der Situation jene Aspekte des Denkens, des Handelns oder auch der Organisation der Gruppe deutlich werden, zu denen Forscher sonst wohl keinen Zugriff hätte. Zu beachten ist dabei, dass sich die Methode der Teilnehmenden Beobachtung in dreierlei Hinsicht von der alltäglichen Teilnahme und Beobachtung unterscheidet: und zwar durch Absicht, Selektion und Auswertung.1 Anders als etwa ein vorbeilaufender Passant, der die Situation ähnlich wahrnimmt, hat der teilnehmende Beobachter eine formulierte Beobachtungsabsicht, seine Beobachtungen sind nach bestimmten Vorgaben auswählt und sortiert - das beschreibt der Begriff der Selektion - , und er kann im Anschluss an den Prozess des Beobachtens eine Auswertung seines Belegmaterials formulieren — die Auswertung.

Als teilnehmender Beobachter kann der Forscher sowohl offen als auch verdeckt agieren. Bei einer offenen Teilnehmenden Beobachtung ist es den Versuchspersonen bewusst, dass der Forscher aktiv als Forscher tätig ist — und nicht etwa als etwa ein neues Stammesmitglied. Bei der verdeckten Teilnehmenden Beobachtung wiederum ist den Versuchspersonen nicht ausdrücklich bewusst, dass der Beobachter eine Forschungsabsicht verfolgt.

Es ist davon auszugehen, dass sich Versuchspersonen einem erkennbaren Forscher auftretenden Beobachter etwas verschlossener geben werden.

In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie die Pioniere der Methode in Ethnologie und Soziologie der Teilnehmenden Beobachtung diese Arbeitsweise verstanden haben. Für die Pioniere unter den Ethnologen soll die Forschungsarbeit ,,Argonauten des westlichen Pazifik” (1922) von Bronislaw Malinowski stehen, das heute zum Kernstück der empirischen Arbeit der Anthropologie geworden ist.

Als Beispielstudie der Soziologie soll die Marienthal-Studie herangezogen werden. In “Die Arbeitslosen von Marienthal” (1933) werden die sozio-psychologischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit aufgezeigt, wobei auch die Teilnehmende Beobachtung ihre Anwendung fand. Ein besonderes Augenmerk der Analyse der Beispielstudien soll dabei auf dem theoretischen Überbau der jeweiligen Methodik, auf dem historischen Hintergrund der Studie, aber auch auf der tatsächlichen Ausübung der Methode in der Feldforschung liegen. In einem vierten Punkt soll die Rezeption der Zeitgenossender beiden Studien analysiert werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird in einem kurzen, einführenden Abschnitt der historische Hintergrund des jeweiligen Werkes verdeutlicht, während die Kapitel zum theoretischen Überbau - genau wie die Kapitel zu Ausübung und Rezeption der Werke - dieser Einordnung in der Gliederung untergeordnet sind.

Diese Gliederung wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit vorgenommen, eine Wertung ist dabei auszuschließen. Ein abschließendes Kapitel soll Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen Pionier-Arbeiten der Teilnehmenden Beobachtung klar benennen, und vor allem hervorstellen, wie und warum die Teilnehmende Beobachtung in der Ethnologie und in der Soziologie zu Beginn unterschiedlich verstanden und angewandt wurde — oder ob es zu den Anfangszeiten der Teilnehmenden Beobachtung doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen den beiden Fächern gab.


2. Malinowskis “Die Argonauten des westlichen Pazifiks”


Nordwestlich von Papua-Neuguinea liegen die Trobriand-Inseln, die der polnisch-britischen Anthropologen Bronislaw Malinowski im Jahr 1915 erreichte. In den Folgejahren beobachtete Malinowski das Naturvolk — seine Entwicklung der Methode der Teilnehmenden Beobachtung spielte bei der Beschreibung der Trobriander eine besondere Rolle. Während seinem Aufenthalt entwickelte der Anthropologe nicht nur die Grundlagen für ein neues ethnographisches System, er beeinflusste auch die Wahrnehmung der Ethnologie auf fremde Völker: Vor Malinowski hatte man es im Zeitalter der Kolonialisierung nicht gewagt, von fremden Kulturen als ebenbürtig zu sprechen.

Finanziert wurde sein Aufenthalt vom Robert Mond Fond, einem Projekt des Groß-Industriellen und Chemikers Robert Mond.2 Malinowski kam zur Anthropologie erst durch James Frazers ,,Der goldene Zweig”. Während seinem Graduiertenstudium an der London School of Economics nahm Malinowski Kontakt zu bedeutendenen Kulturanthropologen wie C.G.Seligman, E. Westermarck und R. R.

Marett auf, und verfasste erste anthropologische Schriften.3 Malinowskis Forschungen kennzeichnet eine streng empirische Ausrichtung, seine theoretische Schriften im Vorfeld seines Aufenthalts auf den Trobriand-Inseln waren bestimmt von der Tendenz, die Vielfalt kultureller Erscheinungen auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen. Malinowski setzte sich für eine klare Trennung von Ethnosoziologie und Geschichtswissenschaft ein: Seiner Ansicht nach dürfe ein kulturelles Phänomen in der Gegenwart nicht aus der Geschichte heraus erklärt werden, sondern müsse anhand seiner heutigen Funktion für die betreffende Kultur erklärbar sein.

Malinowskis Funktionalismus beschäftigt sich vornehmlich mit individuellen Handlungen, sozialen Zwängen und den Beziehungen zwischen den Bedürfnissen des einzelnen und der Befriedigung dieser durch kulturelle und soziale Institutionen.4 Bronislaw Malinowski verbrachte - mit Unterbrechungen - zwei Jahre auf den Inseln der Trobriander. Dabei erkundete er mehrere Dörfer, fotografierte Stammesbräuche- und Einwohner.

Außerdem nahm er am Leben der Trobriander aktiv teil. Mit der Erst-Veröffentlichung von “Die Argonauten des westlichen Pazifiks” im Jahr 1922 erlangte Malinowski schnell große Bekanntheit — auch über die Grenzen der Fachwelt hinaus.


Im Bereich der theoretischen Vorüberlegungen Malinowskis spielen sicherlich seine Überlegungen zum Funktionalismus eine Rolle, insgesamt lässt sich jedoch festhalten, dass Malinowski nicht mit einem festgezurrten Theorie-Konzept auf der Insel-Gruppe ankam, sondern vielmehr seine theoretischen Überlegungen parallel zu seinen Erkundungen der Trobriand-Inseln entwickelte — ein Umstand, durch den er flexibler - und vor allem exakter - arbeiten konnte.5 Malinwoski erklärt die Aufgabe des teilnehmenden Beobachters so:


,,Das Ziel besteht, kurz gesagt, darin, den Standpunkt des Eingeborenen, seinen Bezug zum Leben zu verstehen und sich seine Sicht seiner Welt vor Augen zu führen. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu studieren, wir müssen das untersuchen, was sie am unmittelbarsten betrifft, nämlich ihre konkreten Lebensumstände.”6


Die Grundlage dieser Methode besteht darin, völlig alleine den engen Kontakt mit den Eingeborenen zu suchen.7 Nicht ein sporadisches Eintauchen, nur der wirkliche Kontakt kann grundlegend für die Methode der Teilnehmenden Beobachtung sein: Familienstreitigkeiten, Klatsch, die Arbeit der Einwohner auch triviale Ereignisse sollen in die Beobachtung miteinfließen.

Malinowski scheut keine Entwicklung von vorgefassten theoretischen Ideen, er fordert aber eine korrekte Einführung dieser Begriffe und die Bereitschaft, Annahmen im Angesicht der Praxis zu verändern oder gar fallen zu lassen.8Zu Beginn seines Berichts vergleicht Malinowski die Kultur eines Volkes mit der Zusammensetzung des menschlichen Körpers – bestehend aus einem Skelett, Fleisch und Blut, und einem Geist.

Das Skelett der Kultur entspricht der Architektur einer Gesellschaft: Verwandschaftsverhältnisse, Sprache, Regeln und Gesetze alle kulturellen Besonderheiten, die sich in einer Form manifestiert haben. Skelett, Blut und Fleisch, und der Geist der Kultur diese drei Teile der Kultur soll Malinowskis Ethnologe bei seiner Feldarbeit gleichzeitig beobachten, um zu einer korrekten Analyse zu gelangen.

Zu Beginn des ersten Trobriand-Bandes erläutert er, wie er den jeweiligen Methoden-Weg erst für sich entdeckte, und dann daraus eine tiefere theoretische Ausgestaltung entwickelte.9 Über diese Methoden sollen folgende Aspekte der Kultur beobachtet werden:


  • Die Imponderabilien des wirklichen Lebens (Blut und Fleisch)

  • Die Mentalität der zu beobachtenden Personen (Geist)


    Der erste Weg seiner Forschungsarbeit besteht für Malinowski somit darin, ,,den sozialen Aufbau klar und fest zu umreißen und die Gesetze und Regelmäßigkeiten aller kulturellen Phänomene aus dem Irrelevanten auszusondern”.10 Mit der Methode der konkreten, statistischen Dokumentation soll eine vollständige Liste aller Phänomene der zu beobachtenden Kultur erstellt werden – und keine reine Auflistung der Sensationen und Kuriositäten.

    Eine Herausforderung für Malinowski besteht darin, dass die Struktur einer Kultur meist nicht in klarer Form vorliegt. Aus einer ausführlichen Sammlung von Belegmaterial will dann generalisierende Schlüsse ziehen — so soll die Struktur der Kultur deutlich werden.11 Zur Erweiterung der Alltagsbeobachtungen sind dabei auch Interviews denkbar, in denen die Personen mit fiktiven Fällen konfrontiert werden.

    So kann der Forscher herausfinden, wie die Beobachtungspersonen Teilnehmer in bestimmten Fällen reagieren bzw. was sie für sinnvoll empfinden würden. Um diese großen Datensammlungen zu ordnen, schlägt Malinowski vor, die gesammelten Erkenntnisse in Karten- oder Tabellenform zu rekonstruieren: So soll die Systematik in dem Handlungsgeflecht der zu beobachtenden Personen deutlich werden – und zwar besser als jeder Interviewer dies erfragen könnte.

    Diese Rekonstruktionen müssen konkret über ihre Beobachtungs-Grundlage und Ergebnis Auskunft geben können. Hierbei spricht Malinowski meist von der ,,synoptischen Karte”, die ihm als ideale Darstellung von empirischen Daten vorschwebt. Malinowski will diese Methode als ,,Methode statistischer Dokumentation durch konkrete Zeugnisse” nennen.12 Die Teilnehmende Beobachtung spielt hier eine geringere Rolle, und doch kann direkte Kontakt, der eine bedeutende Rolle in dieser Methodik spielt, dabei helfen, genau diese Daten zu sammeln, die es für eine synoptische Karte braucht. Auf dem zweiten Weg tritt die Teilnehmende Beobachtung schon deutlich erkennbarer hervor: Es geht um das Erfassen der konkreten Eindrücke des Zusammenlebens der Gruppe: das ,,Blut und Fleisch” der Kultur.

  • Mit diesem Grundgerüst aus drei methodischen Wegen wollte Malinowski die Kultur der Trobriand-Inseln erforschen.


    2. 2. Die Ausübung und Rezeption des Reiseberichts


    In der Vorrede des Trobriand-Berichts lobt der Ethnologe James G. Frazer die detaillierte Methodik von Malinwoskis Forschungsarbeit.21 Frazers Lob ist insofern bemerkenswert, als dass Frazer als einer der letzten Vertreter der ,,arm-chair-antrophology” gilt jener Generation von Anthropologen also, die es bei ihrer Arbeit vermieden, direkte Feldforschung mit Kontakt zu den zu untersuchenden Völkern zu betreiben.

    Der Beginn seines Aufenthalts auf den Trobriand-Inseln war nicht leicht: weder die bereits anwesenden Europäer, noch die Eingeborenen, konnten beziehungsweise wollten Malinowski wertvolle Informationen nennen. Erst als Malinowski beschloss, alleine den Kontakt zu den Eingeborenen zu suchen - er schlug sein Zelt im Dorf der Omarakana auf-, konnte Malinowski erste sinnvolle Ergebnisse sammeln.22 Schrittweise erlernte er Sprache und Alltagsregeln der Inselbewohner, die Eingeborenen fassten Vertrauen.

    Malinowski berichtet von seinen ersten Eindrücke von der körperlichen Erscheinung der Eingeborenen, ihre Kleidung und erste erkennbare Kennzeichen ihrer Bräuche. Dabei ist er zunächst darum bemüht, die grobe Struktur der einzelnen Aspekte zu umfassen später folgen ausführlichere Beschreibungen. Mit welchen Mitteln beschreibt Malinowski nun aber konkret das ,,Skelett” der Kultur der Trobriander? Während Familien - und Sexualleben sowie die Auffassung des Inselvolks von Recht und Gesetz vor allem mit verallgemeinernden Beschreibungen und verdeutlichenden Anekdoten erläutert werden, ergänzt Malinowski die Beschreibungen des Kula-Rings etwa durch eine Skizze etwa die ,,Schematischen Querschnitte der drei Typen des trobriandischen Kanus”, während eine Tabelle die Stadien des Kanubaus detailliert in die einzelnen Schritte der Herstellung zerlegt – und eine Landkarte zeigt die einzelnen Handelswege- und Richtungen zwischen den Völkern.23 Eine Kombination aus verschiedenartigen Beobachtungen über die Bräuche, Regeln und Gesetze auf der Trobriand-Insel wird hier also durch die Erhebung von konkreten statistischen Daten in Form von synoptischen Karten ergänzt.


    ,,Wenn wir an einem heißen Tag in den tiefen Schatten der Obstbäume und Palmen treten und uns selbst inmitten der wundervoll gestalteten und verzierten Häuser wiederfinden, die sich da und dort in lockeren Gruppen von Grün verbergen, umgeben von kleinen Ziergärten aus Muscheln und Blumen, mit von Kieseln eingesäumten Pfaden und steingepflasterten Sitzkreisen, so scheint es, als ob die Wunschbilder vom ursprünglichen, glücklichen, wilden Leben sich plötzlich erfüllt hätten, wenn auch nur in einem flüchtigen Eindruck.” 24


    Diese Textausschnitte dienen aber nicht einfach dem Wohlgefallen des Lesers, sie sind dazu bestimmt, jenen Eindruck zu vermitteln, den Malinowski selbst beim ersten Betreten der Dörfer der Kula-Eingeborenen hatte. Insbesondere in seiner Analyse des Kula-Ring greift Malinowski immer wieder auf diese Beschreibungsmethode zurück er ist sicher, dass die Vorstellung von Magie für die Trobriander beim Kula eine zentrale Rolle spielt.25 Zusätzlich zu den recht bunten Beschreibungen der Inselbewohner und der Fauna und Flora der Inselgruppe hat Malinowski während seinem Aufenthalt auf den Trobriand-Inseln nicht nur ein umstrittenes Tagebuch verfasst - das man jedoch nicht als tatsächlich ethnographisches sondern eher persönliches Tagebuch verstehen sollte -, sondern auch Erlebnisberichte über seine Teilnahme an den Seefahrten der Inselbewohner finden sich in seinem Bericht.2627 Neben dem Detailreichtum seiner Beschreibungen sticht an dieser Stelle vor allem auch seine Verwendung von Kiriwina-Ausdrücken - der Sprache der Eingeborenen - für eine Vielzahl von Brauchtumsbegriffen, Sprichwörtern oder Sachnamen hervor.28 Jeder Begriff wird auch übersetzt.

    Die Sorge: Ein Gespräch mit und über abstrakte Begriffen, die der Trobriander zuvor nicht kannte, in Bezug auf dessen religiöse oder politische Vorstellungen, würde dessen geäußerte Meinung verfärben.29 Um das zu vermeiden, bevorzugt Malinwoski seine Methode der aktiv-teilnehmenden Beobachtung. Um etwa zu verstehen, welche Gefühle den Trobriander beim Lagerfeuer nach dem Kula-Tausch überkommen, sitzt er selbst am Lagerfeuer dabei — Malinowski schreibt dazu: ,, .dies alles enthüllt uns nicht nur die kahle Struktur ihrer Vorstellungen von der Magie, sondern auch die damit verbundenen Empfindungen und Gefühle und das Wesen der Magie als einer sozialen Kraft.” (Kramer, Malinowski 1979, S. 433).

    Mehr denn je wird nun die Sprachanalyse des Kiriwina und der Auflistung von Eingeborenentexten intensiviert teils im Original, teils in freier Übersetzung. Malinowski lässt diese Zitate nie unkommentiert, er erläutert den Kontext der Zitate: Etwa eine Charakterisierung des Sprechers oder eine Beschreibung von Einwohnerzahl, Lage oder Wohlstand des Dorfes, in dem die zuvor genannten Zitate gesprochen wurden.

    Ein Kritikpunkt an Malinowskis Teilnehmender Beobachtung bestand an der fehlenden Repräsentativität und fehlende Überprüfbarkeit der Forschungsergebnisse.35 Konkret warfen Malinowskis Kritiker ihm vor, dass er nur in einer bestimmten Gegend geforscht habe, und damit nicht wissen könnte, ob seine Methode (und die damit zusammenhängenden Ergebnisse) tatsächlich überall anwendbar sei — oder doch lediglich nur gut geeignet, um die Kultur in Papua-Neuguinea zu erforschen.36 Zu Malinowskis Verteidigung ist zu sagen, dass er später auch weitere Forschungsreisen unternahm, etwa nach Mexiko oder nach Afrika, und dort ähnlich arbeitete.37 Der Historiker H. R.

    Hays merkt an, dass es Malinowski weder gelungen sei, einen Katalog mit Beschreibungen und Biografien seiner Gesprächspartner anzulegen, noch einen vollständigen Bericht über die Kultur der Trobriander — stattdessen konzentrierte er sich auf bestimmte Teilaspekte der Kultur wie den Kula-Brauch und die magischen Ritualsprüche.38 Einig waren sich die Kritiker und Anhänger Malinowskis in den 20er Jahren darin, dass sie sein Werk als bedeutenden Auftrieb für die Geschichte der ethnologischen Feldforschung werteten — auch wenn sie uneins darin waren, wie gewinnbringend seine Methode der Teilnehmenden Beobachtung tatsächlich sein kann.

    Die Studie ,,Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit’’ (1933) von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel gehört heute zu den Klassikern der Soziologie. Im Zentrum der Studie steht die Arbeiterkolonie Marienthal, die durch die Schließung der gleichnamigen Textil-Fabrik von heute auf morgen in der österreichischen Arbeiterkolonie Massenarbeitslosigkeit herrschte.

    Diese Lage nahm ein österreichisch-amerikanisches Forscherteam zum Anlass, detailliert zu untersuchen, welche Folgen diese Massenarbeitslosigkeit für das Leben in der Stadt haben würde. Der Sozialistenführer Otto Bauer hatte Lazarsfeld das Dorf als Beobachtungsgrundlage für seine Untersuchungen empfohlen.39 Lazarsfeld bildete eine Forschungsgruppe von 15 Personen - wobei vier Teilnehmer selbst aus Marienthal stammten -, deren Arbeit von der Wiener Arbeiterkammer und einer privaten Stiftung finanziert wurde.

    Die Marienthal-Studie war die erste und einzige große Forschungsarbeit der “Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle”, die sich 1931 gegründet hatte.


    Zu Beginn der Forschungsarbeiten im Herbst 1931 bestand kein fester Plan oder Rollenverteilung: Allgemein lässt sich bemerken, dass die Studie stark problembezogen, und nur wenig theorie-geleitet war. Dies liegt sicherhlich darin, dass es bis dato wenige sozialwissenschaftlichen Erklärungen zu den Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit gegeben hatte. Einen besonderen Einfluss auf das theoretische Gerüst des Marienthal-Projekts kann man der Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler zuschreiben, für die der Projektleiter Lazarsfeld zuvor gearbeitet hatte.

    Bühler hatte zuvor ein entwicklungspsychologisches System entwickelt, und darin Kategorien wie Leistungswillen, Selbsterfüllung gebildet. Ihr Versuch bestand darin komplexe Lebenswelten empirisch zu erfassen.40 Weiter kann der Soziologen Ferdinand Tönnies als Inspiration für die Marienthal-Studie genannt werden, der laut Lazarsfeld als erster die Verbindung von theoretischen Überlegungen und systematischen Beobachtungen in die Diskussion einführte.41 Schwerpunkt der Untersuchung sollte nicht auf dem einzelnen arbeitslosen Marienthaler liegen, sondern vielmehr auf dem Dorf Marienthal, das von Massenarbeitslosigkeit betroffen ist.


    ,,Zwischen den nackten Ziffern der offiziellen Statistik und den allen Zufällen ausgesetzten Eindrücken der sozialen Reportage klafft eine Lücke, die auszufüllen der Sinn unseres Versuches ist. Was uns vorschwebte, war eine Methode der Darstellung, die die Verwendung exakten Zahlenmaterials mit dem Sicheinleben in die Situation verband.” 42


    Besondere Aufmerksamkeit wollten die Forscher zum einen der Stellung der Arbeitslosigkeit widmen, aber auch zu ihren direkten Auswirkungen. Das Forschungsteam verbrachte 120 Tage in Marienthal, den Forschern war es dabei besonders wichtig, nicht nur als Reporter oder Beobachter in Marienthal zu sein, sondern sich tatsächlich auch nützlich in das Gemeinschaftsleben der Marienthaler einzufügen.43 Die Zielvorgabe, das arbeitslose Dorf zu verstehen, führte dazu, dass bestimmte die Charakterisierung und psychologische Deutung der einzelnen zu beobachtenden Personen nicht durchgeführt wurden.44 Ein besonderes Interesse bestand an objektiv gültigen und vorallem quantitativen Daten, der Anteil von Berichten über das subjektive Erleben der Arbeitslosigkeit von einzelnen Marienthalern sollte auf ein Minimum reduziert werden.45 Die Methodik des Forschungsteams lässt sich in reaktive und nicht-reaktive Methoden unterteilen: Zu den reaktiven Methoden gehören mündliche und schriftliche Befragungen, projektive Daten über die Wünsche und Vorstellungen, biographische Interviews in all diesen Bereichen spielt eine Form der Teilnehmenden Beobachtung eine bedeutsame Rolle, in welcher der Forscher bemüht war, die Perspektive des Marienthalers einzunehmen, um seine subjektiven Lebensumstände besser zu erfassen.46 Zu den nicht-reaktiven Methoden, in denen die Teilnehmende Beobachtung keine besondere Rolle spielte, gehört die sorgfältige Sammlung amtlicher Statistiken, Analyse von öffentlich einsehbaren Dokumenten und verdeckte Beobachtung von Gesprächen und Verhalten der Marienthaler.


    3. 2. Ausübung und Rezeption der Marienthal-Untersuchung


    Die Marienthal-Studie wurde schon von Zeitgenossen für ihre Methoden-Vielfalt gerühmt, auch heute gilt sie noch als Musterbeispiel für eine vorbildliche empirische Studie in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Die Forscher stellten sich den Arbeitslosen selbst nie als Feldforscher vor, sondern gaben sich als Mitarbeiter von staatlichen Einrichtungen aus, etwa der Winterhilfe.47 Um sich in der komplexen Situation in Marienthal erst einen besseren Überblick zu verschaffen, begann das Forscherteam nicht nur damit, Marienthal in geographische Cluster zu unterteilen, sondern auch für jede einzelne Familie Katasterblätter anzulegen, auf denen alle Informationen, Interviews und Beobachtungen notiert wurden.

    In ihren 120 Tagen in Marienthal führten die Beobachter eine Vielzahl von Interviews durch: Ziel dieser Befragungen war es aus vielen subjektiven Einblicken ein zusammenhängendes objektives Bild zu erstellen, während die schriftlichen Befragungen einen anderen Zweck hatten. Da die Marienthal-Forscher sowohl Methoden verwendeten, in denen die Teilnehmende Beobachtung eine Rolle spielte, als auch Methoden, in denen dies nicht zu erkennen ist, soll der Übersicht halber in dieser Hausarbeit nur auf diese Methoden eingegangen werden, in denen Grundzüge der Teilnehmenden Beobachtung tatsächlich zu beobachten sind.


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