Die Leiden des jungen Werther
Analyse des Briefes vom 16. Juni
Der
Brief vom 16. Juni stammt aus dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“,
der 1774 von Johann Wolfgang Goethe verfasst wurde. Die Handlung spielt in der
Zeit um 1771 in der deutschen Kleinstadt Wahlheim und handelt von dem Jurist
Werther, der sich unglücklich in die bereits vergebene Lotte verliebt. Während
seiner Zeit mit Lotte erlebt er Höhen und Tiefen, die er in Briefen an seinen
Freund Wilhelm festhält. Um der Beziehung zwischen seiner geliebten Lotte und
ihrem Mann Albert nicht im Wege zu stehen und aus Enttäuschung über die
Erniedrigung, die er durch Adelige erfahren musste, begeht er schließlich
Selbstmord. Der Roman ist in der Epoche des Sturm und Drang (1765-1785) zu
verordnen und stellt, typisch für diesen Gefühlüberschwang, die Leidenschaften
Werthers ins Zentrum.
Der Brief vom 16. Juni ist ein
wichtiger Brief im Laufe des Romans, weil darin zum ersten Mal Lotte und
Werther aufeinander treffen. Zunächst entschuldigt er die lange Pause seit dem
letzten Brief damit, dass er eine Lotte kennengelernt habe, in die er sich
offensichtlich verliebt habe. Während er den Anfang des Briefes schreibt
unterbricht er sich und besucht sie noch einmal, um kurz darauf im Detail von
seiner ersten Begegnung mit Lotte zu erzählen. Er sei mit Begleitung in einer
Kutsche auf dem Weg zum Ball des Amtmann S. gewesen und auf dem Weg dorthin
wollten sie noch Charlotten S. mitnehmen. Seine Begleitung warnte ihn davor,
sich nicht zu verlieben, da Charlotten bereits vergeben sei. Als Werther in
Lottes Haus hineinging, sah er Lotte in einem einfachen, weißen Kleid mit roten
Schleifen, als sie mehreren Kindern Brot verteilt. Bei dieser ersten Begegnung präsentiert
sich Lotte als tätige Hausfrau, von deren Anblick Werther fasziniert ist. Als
sie wieder losfuhren, unterhielten sich die beiden über Bücher und Tanz und
verstanden sich auf Anhieb. Werther zeigt sich von allem, was Lotte äußert,
beeindruckt und bewundert ihren Charakter, ihre Wangen, ihre Augen und Lippen.
Diese Bezauberung versetzt Werther in einen Rauschzustand, in dem er weder
seine Umgebung, noch Lottes Worte richtig wahrnimmt. Diese Bewunderung hält
auch während des Balles an und verstärkt sich, als er sie tanzen sieht.
Schließlich fordert er sie selbst zum Tanz auf und erreicht seinen absoluten
Glückszustand während einem Walzer. Dieser hält jedoch nicht lange an, weil
eine Frau Lotte mahnend an Albert erinnert. Auf Werthers Nachfrage erklärte
sie, dass Albert ihr Verlobter sei, worauf Werther etwas verwirrt reagierte.
Als auf einmal ein starkes Gewitter einsetzte und einige Angst bekamen,
organisierte Lotte ein Zählspiel, um die aufgeregten Leute abzulenken. Als das
Spiel beendet und das Gewitter verzogen ist, traten Lotte und Werther mit
tränenvollen Augen ans Fenster und schauten hinaus. Als Lotte Klopstock
erwähnt, wird Werther von einem Strom von Gefühlen erfasst, kniet nieder und
küsst ihre Hand, weil er auch an Klopstock dachte und eine innere Übereinstimmung
und Seelenverwandtschaft mit ihr fühlt. Mit dieser Situation endet der Brief
vom 16. Juni.
Der Text weist eine sehr expressive
Sprache auf, was der gefühlsbetonten Literatur des „Sturm und Drang“
entspricht. Kennzeichnend dafür ist, dass der Dichter seinen Gedanken- und
Gefühlsstrom nicht in strenge Regeln und Formen fassen kann. Deshalb liegt ein
sehr unregelmäßiger Satzbau vor, der oft durch Einschübe und Ausrufe
unterbrochen wird. Diese beziehen den Leser, der die Rolle des Freundes Wilhelm
übernimmt, in die Handlung ein (z.B.: S. 20, Z. 12: „Warum ich dir nicht
schreibe?“, S.27, Z.18: „Du verstehst mich!“). Weiterhin enthält der Text viele
Adjektive, um die Personen, Handlungsort, die Gefühle und die Wahrnehmung
Werthers zu beschreiben. Des Weiteren gebraucht Goethe viele Vergleiche und
Metaphern, um Werthers Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Das Gefühl beim Tanzen
wird bildlich dargestellt (S.26, Z.9: „Wir schlangen uns in Menuetts umeinander
herum“, „.27, Z.4f: „wie die Sphären umeinander herumrollten“). Um seine starke
Bewunderung gegenüber Lotte auszudrücken, benutzt er häufig Hyperbeln (S.22,
Z.20: „das reizendste Schauspiel“, S.27, Z.11f: „das liebenswürdigste
Geschöpf“). Er muss sich jedoch gleich am Anfang des Briefes nach einem ersten
Versuch, ihre Art zu beschreiben, eingestehen, dass ihr Charakter nicht mit
Worten darzustellen ist (S.20, Z.28ff: „Das ist alles garstiges Gewäsch, was
ich da von ihr sage, leidige Abstraktion,...“).
Seine Erregtheit kommt auch durch die
vielen Wortzusammenziehungen zum Ausdruck (S.27, Z.1: „ging’s“, Z.5: „weil’s“,
Z.10: „mir’s“). Die Verwirrung, nachdem Werther den Namen des Verlobten hört,
drückt Goethe in einem komplizierten Satz aus. Die folgende Unordnung des
Tanzes wird durch die beiden Hendiadyoins „drunter und drüber“ (S.28, Z.16) und
„Zerren und Ziehen“ (S.28, Z.17) dargestellt. Lotte rettet die Situation, indem
sie Werther aus seiner Verwirrung reißt. Dieses Chaos wird in dem Gewitter, das
heraufzieht, wieder aufgenommen. An dieser Stelle unterbricht sich Werther und
denkt über den Eindruck eines Unglücks nach, wenn es übergangslos auf ein
Vergnügen folgt. Diese Reflektion spiegelt auch seinen Gefühlszustand wieder,
weil das Gewitter symbolisch für das kommende Unglück, Werthers Selbstmord,
steht. Wiederholt rettet Lotte die Situation, indem sie das bereits erwähnte
Spiel organisiert. Die Beschreibung des Spiels erscheint lustig aufgrund der
Lautmalerei (S.29, Z.30,31: „patsch!“) und des Ausrufs „Nun gebt acht!“ und
bildet damit einen Gegensatz zum Unwetter. Nachdem das Spiel beendet, und das
Unwetter verzogen ist, gipfelt der Text schließlich in der Szene, in der
Werther Lottes Hand küsst. Hier häufen sich wiederholt Hyperbeln (S.30, Z.12:
„der erquickendste Wohlgeruch“, Z.21: „unter den wonnevollsten Tränen“), die
die Atmosphäre beschreiben sollen. Die Metapher „Strome von Empfindungen“
(S.30, Z.19) zeigt Werthers Gefühlüberschwang, den die Erinnerung an Klopstocks
Gedicht schafft.
Die Begegnung mit Lotte führt zu
einer entscheidenden Veränderung der Lebenssituation Werthers. Bis zu diesem
Zeitpunkt erleben wir Werther als eher ungeselligen Menschen, der -abgesehen
von einigen Zufallsbekanntschaften- ein abgeschiedenes und einsames Leben lebt.
Von nun wendet sich sein Leben und er richtet sein ganzes Denken auf Lotte und
die Liebe. Daher sind die folgenden Briefe von einer euphorischen Stimmung
geprägt, die jedoch immer wieder von melancholischen Briefen unterbrochen
werden, als Werther ernüchternd feststellen muss, dass seine Liebe zu Lotte
unerfüllt bleiben muss.