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Seminararbeit / Hausarbeit

Die Eisenbahn in Gerhart Haupt­manns Bahn­wärter Thiel

3.240 Wörter / ~14 Seiten sternsternsternsternstern Autorin Lea H. im Jul. 2017
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Seminararbeit
Literaturwissenschaft

Universität, Schule

Karl-Franzens-Universität Graz - KFU

Note, Lehrer, Jahr

1, Schwab, 2016

Autor / Copyright
Lea H. ©
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Format: pdf
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Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 66796








510.205: KS Wissenschaftliches Arbeiten
(Die Gattung Novelle)
WS 2015/16




Die Eisenbahn in Gerhart Hauptmanns
Bahnwärter Thiel



Proseminararbeit


















Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Die Eisenbahn 2

2.1 Thiel und die Eisenbahn 2

2.2 Die Eisenbahn als Dingsymbol 4

3 Lene 7

3. 1 Lene und Thiel 7

3.2 Lene vs. die Eisenbahn 8

4 Zusammenfassung 10

5 Literaturverzeichnis 11

5. 1 Primärliteratur 11

5. 2 Sekundärliteratur 11



























1 Einleitung


Gerhart Hauptmanns im Jahre 1888 veröffentlichte „novellistische Studie“1 Bahnwärter Thiel war nicht nur der erste große Erfolg des Autors, sondern zählt außerdem zu den bedeutendsten Werken des Naturalismus. Das Werk gilt aufgrund der behandelten Themen wie dem sozialen Milieu, technischen Neuerungen, psychischer Krankheit und Vereinsamung als exemplarisch für diese Strömung. Besonders die Eisenbahn stellt in dem Werk ein Symbol für die Industrielle Revolution und das anbrechende Maschinenzeitalter dar, allerdings spiegelt sie innerhalb der Novelle sinnbildlich Thiels Geisteszustand sowie den tragischen Verlauf der Handlung wider.2 Obwohl Thiel als Bahnwärter auf die Eisenbahn angewiesen ist, so ist sie auch die Ursache für den Tod seines geliebten Sohnes und letztendlich Thiels Wahnsinn. Ähnliches gilt auch für seine zweite Frau Lene: Zwar profitiert er von der Beziehung zu ihr, weil sie sich um den Haushalt und Thiels Sohn Tobias kümmert, allerdings trägt sie aufgrund der Vernachlässigung des Kindes Schuld an Tobias’ Tod. Die unübersehbaren Parallelen zwischen Lene und der Eisenbahn lassen sich auch anhand der Bildsprache des Werkes erkennen.
In dieser Arbeit soll die Bedeutung der Eisenbahn als das zentrale Dingsymbol in Bahnwärter Thiel analysiert werden. Daneben sollen die Parallelen zwischen der Eisenbahn und Thiels Ehefrau Lene aufgezeigt werden, die schlussendlich für Thiels psychischen Zusammenbruch verantwortlich sind. Die zentrale Frage ist daher, wie die symbolische Bedeutung der Eisenbahn mit der Handlung verbunden ist und inwiefern Lene Ähnlichkeiten mit ihr aufweist.

Für diese Analyse werden mithilfe der Sekundärliteratur Passagen, insbesondere jene, in denen der Schwerpunkt auf der Eisenbahn liegt, der Novelle analysiert und kontrastiert, um relevante Motive, sprachliche Bilder und wichtige Gemeinsamkeiten herauszufinden. Zunächst wird auf die Beziehung zwischen Thiel und der Eisenbahn, dann auf das Symbol der Eisenbahn im Handlungsverlauf eingegangen. Im zweiten Teil wird Thiels Frau Lene vorgestellt und es wird erläutert, inwiefern zwischen der Figur und der Eisenbahn Parallelen bestehen.

2 Die Eisenbahn


Das Dingsymbol der Eisenbahn durchzieht die ganze Novelle, da sie „im Mittelpunkt des ganzen Geschehens steht“3, und sich in ihrer Darstellung Thiels Zustand sowie der erschütternde Handlungsverlauf widerspiegeln.


2.1 Thiel und die Eisenbahn


Durch seinen Beruf als Bahnwärter wird Thiels Leben bestimmt von der Eisenbahn. Schon der Titel der Novelle sowie die stete Bezeichnung Thiels als „der Wärter“4 suggerieren, dass sein Beruf eng mit der Identität der Figur verbunden ist. Da Thiel als einziger in der Familie berufstätig ist, hängt die Existenzgrundlage der Familie von Thiels Anstellung als Eisenbahnwärter ab. Auch sein Sohn Tobias stellt sich vor in Zukunft als Bahnmeister sein Geld zu verdienen, was Thiel mit großem Stolz erfüllt: „Sobald die Antwort »ein Bahnmeister« von den blutlosen Lippen des Kleinen kam,[...] begann Thiels Gesicht sich aufzuhellen, bis es förmlich strahlte von innerer Glückseligkeit.“5 Sein Beruf als Bahnwärter stellt nicht nur Thiels Existenz sicher, sondern birgt für ihn die einzige Möglichkeit dem von Lene dominierten Zuhause zu entfliehen und sich seinen Erinnerungen an seine verstorbene Frau Minna zuzukehren: „So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet sein sollte.“6

Thiel hat während seiner Zeit als Bahnwärter bereits negative Erfahrungen mit der Eisenbahn gemacht. In den ersten Zeilen der Novelle wird nahezu beiläufig von den Verletzungen berichtet, die er aufgrund seiner Arbeit mit der Eisenbahn davontrug7:

Das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte; das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war.8


Das Unheimliche, Unberechenbare, Durchkreuzende und physisch Bedrohende der Bahnstrecke ist damit in einer für den Leser hier nicht durchschaubaren Weise schon vorweggenommen“9 und das grausame Ende der Novelle wird vorausgedeutet. Weiters wird in dieser überwältigenden Begegnung mit der Eisenbahn Thiels Rolle als Bahnwärter in Frage gestellt, da aufgezeigt wird, dass „sich die gradlinig rasende Maschine weder bewachen noch führen lässt“10.
Die Arbeit als Bahnwärter mit den nach Fahrplänen klar geregelten Zügen macht Thiels alltägliches Leben „repetitiv, beständig und planbar“, sowie seinen „Arbeitsalltag ritualisiert“11:

Thiel begann wie immer so auch heute damit, das enge, viereckige Steingebauer der Wärterbude auf seine Art für die Nacht herzurichten. Er tat es mechanisch [...]12; „jeder Handgriff war seit Jahren geregelt; in stets gleicher Reihenfolge wanderten die sorgsam auf der kleinen Nußbaumkommode ausgebreiteten Gegenstände13.


Thiel wird so selbst einer Maschine gleichgestellt, die wie auf Gleisen operiert und ihrem sozialen Umfeld und der letztendlichen Katastrophe nicht entfliehen kann:14

So kann der Eindruck der Determination entstehen, einer unentrinnbaren, geradezu naturgesetzlichen Notwendigkeit [...]. Noch mehr gilt von Thiel, daß er ein Getriebener, ein hilflos Ausgelieferter, nicht aber ein selbstständig Handelnder ist.15


Wilhelmer erläutert in seiner Interpretation die Verbindung des Eisenbahnsymbols mit Thiels psychischer Verfassung:

Die Eindringlichkeit, mit der in Bahnwärter Thiel die Gewalt und die Gradlinigkeit der Eisenbahn sowie ihrer Schienenwege mit dem psychischen Zustand Thiels verknüpft werden, hat dazu geführt, das Eisenbahnmotiv über seine zeitgeschichtliche Relevanz hinaus metaphorisch zu deuten. Die Unausweichlichkeit der Schienenwege steht demnach sinnbildlich für die Unausweichlichkeit des Thielschen Schicksals und die Gewalt der Maschine für dessen Vollstreckung.16


2.2 Die Eisenbahn als Dingsymbol


Die Eisenbahn begleitet die gesamte Handlung der Novelle nicht nur als Dingsymbol, in dessen Bildsprache sich die verhängnisvolle Entwicklung der Geschehnisse spiegelt, sondern sie erweist sich schlussendlich auch als reale Gefahr für Thiels Sohn Tobias. Die Beschreibung der Bahnstrecke zeigt sich schon beginnend von ihrer ersten Erwähnung als unheimlich und bedrohlich:17

Die schwarzen parallellaufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren, eisernen Netzmasche [...]. Auf den Drähten, die sich wie das Gewebe einer Riesenspinne fortrankten, klebten in dichten Reihen Scharen zwitschernder Vögel.18

Hauptmann führt in diesem Zusammenhang das Feuergleichnis ein, das sich in zahlreichen darauffolgenden Beschreibungen der Bahnstrecke wieder finden lässt19:

Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe [...].20

Bei seinem ersten Auftritt wird der Zug nahezu wie ein „mythisches Ungeheuer eingeführt“21:

Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht unähnlich war.

Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und das alte heilge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen.22


Die verschiedenen optischen und akustischen Eindrücke, die „Hufschläge“, die „Wolke von Staub, Dampf und Qualm“ und die zitternde Erde, die hier beschrieben werden, sowie das Feuergleichnis, können leicht mit dämonischen oder gar teuflischen Vorstellungen in Verbindung gebracht werden. Besonders das „heilge Schweigen“ der ansonsten unberührten Natur, das das „schwarze, schnaubende Ungetüm“ durchbrochen hatte, verstärkt diese Assoziation mit dem Dämonischen noch mehr.

Der zweite Auftritt der Eisenbahn erfolgt unmittelbar nach Thiels Traumvision von Minna. Dabei wird die Beschreibung des Zuges zunehmend unheimlicher:

Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel.

Thiel fühlte ein Grauen, und je näher der Zug kam, eine um so größere Angst; Traum und Wirklichkeit verschmolzen ihm in eins. Noch immer sah er das wandernde Weib auf den Schienen [...].23


Die Szene ist geprägt von Blut und lässt die Maschine als mörderisch und unheilvoll erscheinen. Das korreliert mit Thiels vorherigen Traum, in dem eine Frau auf den Geleisen „etwas Schlaffes, Blutiges, Bleiches“24 in Tücher gewickelt mit sich trägt, was Thiel sogleich an Minna erinnert: „Er hatte sie gerufen: »Minna, Minna,« und davon war er erwacht.“25 Da Minnas Tod nicht mit der Eisenbahn zusammenhängt, sondern sie „im Wochenbett gestorben“26 ist, ist der Zusammenhang zwischen der Eisenbahn und der Erscheinung zunächst noch nicht klar. Im weiteren Verlauf der Handlung wird aber ersichtlich, dass diese Szene ein Vorzeichen auf den tragischen Tod Tobias sein muss. Das blutige Bündel, das Minna herumträgt, kann als ihr Sohn Tobias gedeutet werden, der vom Zug überrollt werden wird. Thiel kann zwar zu diesem Zeitpunkt auch noch nichts von dem bevorstehenden Unfall wissen, trotzdem „verwebt [er] die Vergangenheit und die Zukunft, ohne daß [er] sich der vorrausdeutenden Seite bewußt wird.“27
Am nächsten Tag, an dem ihn seine Familie zum Wärterhäuschen begleitet um Kartoffeln anzubauen, tritt die Eisenbahn ein weiteres Mal in Erscheinung. Noch bevor sie herannaht ermahnt Thiel, sich offensichtlich der gewaltigen Gefahr bewusst, Lene noch Tobias den nötigen Abstand halten zu lassen: „»Paß auf …« rief Thiel ihr nach, von plötzlicher Besorgnis ergriffen, »paß auf, daß er den Geleisen nicht zu nahe kommt.«“28 Lene allerdings reagiert nur gleichgültig: „Ein Achselzucken Lenes war die Antwort.“29.
Ab diesem Zeitpunkt „gipfelt die Erzählung in der blitzartigen, sekundengenauen Darstellung der Zugkatastrophe“ 30, in der Tobias lebensgefährlich verletzt wird:

Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbaren, sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen quollen kerzengrade empor, und gleich darauf brachte die Luft den Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell, beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in langer, ununterbrochener Reihe.31


Der Zug wird zwar als fauchende Maschine mit beängstigenden Pfiffen beschrieben, doch hält sich diese Darstellung der tumultuösen Ereignisse in Symbolik zurück und geht in eine sachlich nachzeichnende Schilderung über, denn „die ganze Novelle hatte ja das Symbolische dieses Ereignisses in der Vision der Frau und in dem Zug des Blutregens bereits vorweggenommen.“32

Bei der nächsten Ankunft wird die Eisenbahn von dunklem Qualm und drückendem Wind begleitet33. Das „Keuchen einer Maschine, welches wie das stoßweise gequälte Atmen eines kranken Riesen klang“34, stimmt bereits auf die verheerenden Nachricht von Tobias’ Tod ein. Thiel, zutiefst erschüttert über den Unfall seines Sohnes, verliert das Bewusstsein in dem Moment als der Zug die Unglücksstelle verlässt: „In dem Augenblick, als der Zug sich in Bewegung setzen wollte, brach Thiel zusammen.“35

Nachdem Thiel Lene und ihr gemeinsames Kind ermordet, wird die Eisenbahn ein letztes Mal erwähnt. Thiel wird „zwischen den Bahngeleisen und an der Stelle sitzend, wo Tobiäschen überfahren worden war“36 gefunden, reagiert jedoch nicht und wird als „Irrsinniger“37 erkannt. Der Zug stoppt vor Thiel, der gegen seinen Willen weggezerrt und ins Gefängnis und schlussendlich eine Nervenheilanstalt gebracht wird:

Der Schnellzug, der um diese Zeit passierte, mußte anhalten, und erst der Übermacht seines Personales gelang es, den Kranken, der alsbald furchtbar zu toben begann, mit Gewalt von der Strecke zu entfernen.38

3 Lene


3. 1 Lene und Thiel


Thiels zweite Ehefrau Lene, die im starken Gegensatz zu seiner zarten und liebevollen ersten Frau Minna steht, ist die wichtigste Figur neben dem Bahnwärter, und sie trägt am Ende zumindest Mitschuld am tragischen Ende Thiels.

Lene wird zu Beginn der Novelle kurz und direkt charakterisiert, wobei zunächst noch nicht einmal ihr Name genannt wird. Ihre Figur wird in die Erzählung eingeführt im Zusammenhang mit Thiels zweiter Ehe mit „einem dicken und starken Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund“39. Äußerlich passen Thiel und seine neue Frau gut zusammen, so haben auch die Leute im Dorf „[g]egen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, [...]äußerlich durchaus nichts einzuwenden“40. So wie auch Thiel, der von den Leuten als „herkulische[...] Gestalt“41 beschrieben wird, ist sie groß und kräftig gebaut und daher äußerlich „für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht ganz so grob geschnitten wie das seine“42 Sind sich die beiden in Bezug auf ihre äußere Erscheinung noch so ähnlich, so unterscheiden sich Thiel und seine neue Frau in einem Punkt erheblich: Lenes Seelen- und Lieblosigkeit43: „nur daß ihm im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging“44.
Obwohl Thiel unter diesen negativen Charaktereigenschaften sehr leidet, so zieht er aus der Beziehung zu Lene Nutzen, ist sie ja „eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin“45, die sich für Thiel um den Haushalt und seinen Sohn Tobias kümmert. Diese pragmatische Ehe entwickelt sich zu einer Abhängigkeit von Lene. Sowohl in wirtschaftlicher als auch in sexueller Hinsicht „[...] geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig“46.
Thiel ist unglücklich mit der Situation, was ihn schließlich dazu veranlasst, sich immer mehr in die psychotischen Fantasien über seine verstorbene Minna zu flüchten: „Zuzeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung der Dinge und er bedurfte einer Anzahl außergewöhnlicher Hilfsmittel, um sich darüber hinweg zu helfen“47. Lene vernachlässigt und misshandelt Thiels geliebten Sohn Tobias: „Er wurde besonders in Abwesenheit des Vaters unaufhörlich geplagt“48, was sich nach der Geburt ihres eigenen Kindes nur noch verschlimmert: „In dem Maße, wie diese [die Liebe des Vaters] zunahm, verringerte sich die Liebe der Stiefmutter zu Tobias und schlug sogar in unverkennbare Abneigung um“49.
Die einführende Darstellung dieses gegensätzlichen Spannungsgefüges zeigt, dass eine Katastrophe unausweichlich sein wird50. Lenes Unachtsamkeit führt schlussendlich auch dazu, dass Tobias von der Eisenbahn getötet wird und das Unglück seinen Lauf nimmt.

3.2 Lene vs. die Eisenbahn


Das Symbol der Eisenbahn beschränkt sich nicht nur auf die Handlung, sondern bei genauerer Betrachtung sind auch einige Prallelen zwischen Lene und dem Zug zu erkennen.
Thiel berichtet davon, sein „geheiligtes Land“51, wie er sein Wärterhaus nennt, nicht mehr nur den Gedanken an Minna widmen zu können, sondern auch: „Die stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen an die Lebende durchkreuzt.“52 Thiel realisiert, dass wenn Lene ihn zum Wärterhäuschen begleitet, sie dadurch noch mehr in seine private Sphäre eindringen wird: „Es war ihm plötzlich eingefallen, daß ja nun Lene des öftern herauskommen würde, [...] wodurch dann die hergebrachte Lebensweise in bedenkliche Schwankungen geraten mußte. [...] Es kam ihm vor, [...] als versuchte jemand sein Heiligstes anzutasten.“53 Sowie hier Lene Thiels Andacht durchbricht, so ist es später der Zug, der „das alte heilge Schweigen“54 in seinem Wärterhaus stört, denn er „[unterbricht] die Gebete und den Gesang, statt sich einzufügen.“55
Eine weitere Parallele zwischen Lene und des Eisenbahn liegt darin, dass Thiel in Abhängigkeit beider lebt. Wie in Kapitel 2.1 erläutert, sichert Thiels Verdienst als Bahnwärter die Existenz seiner Familie. Seine Abhängigkeit von Lene besteht einerseits in wirtschaftlicher und andererseits sexueller Hinsicht:

Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!“56; „Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte.“57


Lenes Charakterisierung ist an einigen Textstellen der der Eisenbahn sehr ähnlich. Zunächst gleicht ihre „kreischende[s] Gekeif“58 den Geräuschen eines Zuges; beide seien laut und schrill: „Der Ton einer kreischenden Stimme unterbrach die Stille so laut und schrill“59; „bis der Zug unter einem einzigen schrillen, langgedehnten Ton stillstand.60“. Auch ihr Verhalten wird dem der einer Maschine gleichgesetzt:

Nachdem die Frau hastig eine dicke Brotkante verzehrt hatte, warf sie Tuch und Jacke fort und begann zu graben, mit der Geschwindigkeit und Ausdauer einer Maschine. In bestimmten Zwischenräumen richtete sie sich auf und holte in tiefen Zügen Luft, aber es war jeweilig nur ein Augenblick, wenn nicht etwa das Kleine gestillt werden mußte, was mit keuchender, schweißtropfender Brust hastig geschah.“61


So wie Lene wird auch die Eisenbahn als hastig und keuchend beschrieben:


Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbaren, sich überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen Maschinenschlote. [...] Hinter sich vernahm er das Keuchen einer Maschine, welches wie das stoßweise gequälte Atmen eines kranken Riesen klang.“ 62


Weiters auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen der Beschreibung Lenes sexueller Annäherung und dem Herannahen des Zuges, da bei beiden eine Spinnenmetapher verwendet wird und „schon zuvor das Bild der Geleise die Vorstellung einer ehernen Zwanges erweckt hatte“63:


Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend;64 „Auf den Drähten, die sich wie das Gewebe einer Riesenspinne von Stange zu Stange fortrankten.65

Schlussendlich sind die Eisenbahn sowie auch Lene verantwortlich für Tobias’ Tod. Die brutale Stiefmutter misshandelt den Jungen nicht nur unter ihrer Obacht, sondern vernachlässigt ihn bei ihrem Ausflug zur Bahnstrecke, sodass er unter die Räder des Zuges gelangt66. Thiel erkennt sofort die Schuld seiner Frau an dem Unglück und ermordet sie aus Rache letztendlich im Schlaf: „»Tobias« – sie hatte ihn gemordet – Lene – ihr war er anvertraut – »Stiefmutter, Rabenmutter,« knirschte er, »und ihr Balg lebt.«“67

4 Zusammenfassung


Die Eisenbahn stellt in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel das zentrale Dingsymbol dar. Der Zug ist nicht nur am Ende der Novelle als Teil des verheerenden Unfalls, in dem Tobias ums Leben kommt, von Bedeutung, sondern es wird bei genauer Betrachtung des Textes ersichtlich, dass sich in der Beschreibung des Zuges der erschütternde Verlauf der Handlung spiegelt.

Die Eisenbahn ist für Thiel von großer Relevanz, da er nur durch seinen Beruf als Bahnwärter seine Familie versorgen kann und er in seinem Wärterhaus die Chance hat seiner verstorbenen Minna zu gedenken. Die negativen Erfahrungen, bei denen Thiel von dem vorbeifahrenden Zug verletzt wurde, deuten schon auf das Ende hin, in dem der Bahnwärter psychische Schäden aufgrund des Bahn erleidet. Im Zusammenhang mit Thiel ist die Eisenbahn auch von symbolischer Bedeutung, da auch sein Leben teilweise wie „auf Schienen“ verläuft.

Die Eisenbahn erscheint im Verlauf der Handlung immer wieder als Spiegel der Geschehnisse. Der Zug wird als unheilvoll und bedrohlich beschrieben, nahezu dämonisch wie ein mythisches Monster. Nach Thiels unheilvollen Traum von Minna nimmt er ihn sogar als blutiges Ungeheuer wahr, was bereits den tödlichen Unfall am nächsten Tag ankündigt. Als Tobias von der Eisenbahn überfahren wird, ist die symbolische Schilderung nicht mehr notwendig, da sie bereits in Thiels Traum vorweggenommen wurde. Auch bei der Übermittlung der Nachricht von Tobias’ Tod wird die Eisenbahn von dunklem Qualm begleitet und Thiel fällt bei der Abfahrt des Zuges in Ohnmacht. Schließlich wird Thiel nach dem Mord an Lene und ihrem Kind auf der Bahnstrecke aufgelesen und ins Irrenhaus gebracht.

Thiels zweite Frau Lene ist zwar so wie Thiel von fester Statur, aber scheint in ihrem Charakter im Gegensatz zu ihrem Mann sehr dominant, streitsüchtig und lieblos. Obwohl Thiel unter ihr leidet und sie Tobias schlägt, so ist er doch in wirtschaftlicher und sexueller Hinsicht von ihr abhängig und findet sich mit ihr ab.

Lene gleicht in ihrer Charakterisierung stark der Eisenbahn, denn auch sie ist laut und schrill, hastig keuchend und arbeitet wie eine Maschine; zudem wird auch ihre sexuelle Wirkung ähnlich wie der Zug geschildert. Parallelen bestehen auch darin, dass die Eisenbahn sowie auch Lene Thiels ruhige Andacht an Minna im Wärterhaus stören und beide Tobias’ Tod verschulden, was Thiel schließlich zum Mord veranlasst und in den Irrsinn treibt.

5 Literaturverzeichnis

5. 1 Primärliteratur


Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Stuttgart: Reclam 2001. (= Reclams Universal-Bibliothek. 6617.)

5. 2 Sekundärliteratur


Mahal, Günter: Experiment zwischen Geleisen. Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888). In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hrsg. von Winfried Freund. München: Fink 1993. (= UTB für Wissenschaft. 1753.) S. 199-219.


Wiese, Benno von: Gerhart Hauptmann, „Bahnwärter Thiel“. In: B.v.W.: Die Deutsche Novelle von Goether bis Kafka. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf: Bagel 1974, S. 268-283.

Wilhelmer, Lars: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn-Hotel-Hafen-Flughafen. Bielefeld: transcript 2015, S. 112-124.


Zimmermann, Werner: Bahnwärter Thiel. In: W.Z.: Deutsche Prosadichtungen des 20. Jahrhunderts. Interpretationen für Lehrende und Lernende. Neufassung. 8. Aufl. Bd. 1. Düsseldorf: Schwann 1989, S. 67-85.


1  Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Nachwort von Fritz Martini. Stuttgart: Reclam 2001, S. 1. (= Reclams Universal-Bibliothek. 6617.) Im Folgenden zitiert als: Hauptmann, Bahnwärter Thiel.

2  Benno von Wiese: Gerhart Hauptmann, „Bahnwärter Thiel“. In: B.v.W.: Die Deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Bd. 1. Düsseldorf: Bagel 1974, S. 272. Im Folgenden zitiert als: Wiese, Bahnwärter Thiel.

3  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 271.

4  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 4.

5  Ebda., S. 11.

6  Ebda., S. 7.

7  Vgl. Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 272.

8  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 3

9  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 272.

10  Lars Wilhelmer: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn-Hotel-Hafen-Flughafen. Bielefeld: transcript 2015, S. 115. Im Folgenden zitiert als: Wilhelmer, Transit-Orte.

11  Ebda., S. 114.

12  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 18.

13  Ebda., S. 13.

14  Vgl. Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 270.

15  Ebda., S. 270.

16  Wilhelmer, Transit-Orte, S. 118f.

17  Vgl. Wiese, Bahnwärter Thiel. S. 273.

18  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 19.

19  Vgl. Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 274.

20  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 19

21  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 274.

22  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 20

23  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 25.

24  Ebda., S. 24.

25  Ebda., S. 25

26  Ebda., S. 4.

27  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 277.

28  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 31.

29  Ebda.

30  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 278.

31  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 31.

32  Wiese, Bahnwärter Thiel, S. 278.

33  Vgl. Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 39.

34  Ebda.

35  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 40.

36  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 43.

37  Ebda.

38  Ebda.

39  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 4.

40  Ebda., S. 5.

41  Ebda., S. 3.

42  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 5.

43  Vgl. Werner Zimmermann: Bahnwärter Thiel. In: W.Z.: Deutsche Prosadichtungen des 20. Jahrhunderts. Interpretationen für Lehrende und Lernende. Neufassung. 8. Aufl. Bd. 1. Düsseldorf: Schwann 1989, S. 70. Im Folgenden zitiert als: Zimmermann, Thiel.

44  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 5.

45  Ebda.

46  Ebda., S. 6f.

47  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 7.

48  Ebda., S. 9.

49  Ebda.

50  Vgl. Zimmermann, Thiel, S. 71.

51  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 7.

52  Ebda., S. 6.

53  Ebda., S. 21.

54  Ebda., S. 20.

55  Wilhelmer, Transit-Orte, S. 121.

56  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 4.

57  Ebda., S. 17.

58  Ebda., S. 6.

59  Ebda., S. 14.

60  Ebda., S. 39.

61  Ebda., S. 28 f.

62  Ebda., S. 39.

63  Zimmermann, Thiel, S. 77.

64  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 17.

65  Ebda., S. 19.

66  Vgl. Günter Mahal: Experiment zwischen Geleisen. Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel (1888). In: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. Hrsg. von Winfried Freund. München: Fink 1993. (= UTB für Wissenschaft. 1753.) S. 216.

67  Hauptmann, Bahnwärter Thiel, S. 38.

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