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Der Verfall der Figuren in den Romanen:
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Diplomarbeit
Literaturwissenschaft

Philosophische Fakultät Novi Sad

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Andrea F. ©
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ID# 2489







Der Verfall der Figuren in Ransmayrs Romanen


1.    Einleitung


In dieser Arbeit befasse ich mich am Beispiel Christoph Ransmayrs Romane Die Letzte Welt und Morbus Kitahara mit der Problematik des Verfalls der Figuren. Dieser Aspekt der Forschung spielt eine wichtige Rolle, weil Ransmayr mit ihr ein Endzeitgefühl unter den Menschen verdeutlicht.


Mit dieser Forschung beweise ich, dass die Verantwortungsträger für den Verfall der Figuren einerseits kalte und erstarrte zwischenmenschliche Beziehungen und andererseits Enttäuschung, Entfremdung und Kommunikationsunfähigkeit zwischen den Menschen sind, was sich als Ergebnis der Gesellschaft erweist, in der Ransmayrs Figuren in Isolation, völlig auf sich selbst und ihr eigenes Leid konzentriert leben bzw. vegetieren.

Die Gesellschaft in dieser Arbeit soll als ein geschlossenes System behandelt werden. Sie wird einerseits von außen d. h. von der Wirklichkeit allmählich zerstört. Andererseits zerstört diese Gesellschaft sich selbst. In solchen sozialen Systemen sind die Figuren gefangen und deswegen dem Verfall geweiht. Jeder Versuch solchen sozialen Systemen zu entkommen bzw. in der Wirklichkeit Zuflucht zu finden scheitert und endet wieder mit dem Verfall.

Die Figuren verfallen, indem sie ihre Identität verlieren, verschwinden und sterben. Um das zu zeigen behandle ich diese Problematik nicht nur unter sozialen sondern auch unter psychologischen Aspekten. Der Verfall der Figuren wird auch im Hinblick auf ihre psychischen Störungen und physischen Makel betrachtet.


Im Hauptteil meiner Arbeit beginne ich mit der Erklärung des Begriffs Verfall, ausgehend von seiner religiösen Deutung bzw. im Bezug auf das Christentum, dann betrachte ich diesen Begriff im Kontext der Postmoderne und was er für Ransmayr darstellt. Weiter befasse ich mich mit Der Letzten Welt und Darstellung seiner Figuren, und zwar mit der Beschreibung von Tomi, seiner Bewohner und ihrer einsamen und entfremdeten Lebensweise.

Dann nehme ich Hinblick auf das düstere Menschenbild in diesem Roman. Die Verwandlung der Figuren, als eine Form des Verfalls, soll auch in dieser Arbeit analysiert werden und am Ende wird Cottas Verfall behandelt. Weiter beschäftige ich mich mit dem Verfall der Figuren in Morbus Kitahara, ausgehend von ihrer Bestimmung durch Moor, durch Entfremdung und Gewalt. Dann soll der Verfall der Figuren in Morbus Kitahara sowohl im Hinblick auf ihre psycho-physischen Kennzeichnungen betrachtet werden, als auch in Bezug auf die Vergangenheit und Erinnerungen.

Weiterhin soll der Versuch unternommen werden, die Figuren der beiden Romanen bzw. ihr Verfall zu vergleichen. Schließlich folgt eine prägnante Konklusion der getroffenen Beurteilungen.


2.    Der Begriff des Verfalls


Der Begriff Verfall hat, geht man von den verschiedenen Standpunkten aus, ein weites Spektrum der Bedeutungen. Ein wichtiger Aspekt der Deutung des Verfalls ist seine religiöse Darlegung, die einer apokalyptischen Vision vom Ende der Welt und der Menschen entspricht. In dieser Arbeit soll der Verfall zuerst aus dieser Perspektive und zwar im Bezug auf das Christentum analysiert werden, weil nur dadurch zu sehen ist, wie sich die Auffassung von diesem Begriff vor allem im Rahmen der Postmoderne, zu der Ransmayrs Romane gehören, geändert hat.


2.1 Die religiöse Deutung des Verfalls


Es ist zu vermuten, dass jede Kultur beim Versuch, sich innerhalb des Spannungsbogens von Vergangenheit und Zukunft zu orientieren, eine Vorstellung vom Ende produziert. Die einflussreichste Vorstellung vom Ende ausgehend vom christlichen Standpunkt ist eine Erlösungsvision. In der Offenbarung des Johannes wird von der Zerstörung der Welt erzählt, weil die bestehende Welt als böse und schmutzig beschrieben wird.

Die Vision von der Errettung und der vollkommenen Erlösung spendet Trost unter den Menschen und verringert den Leidensdruck, den die Gegenwart den Gläubigen auferlegt. Die letzten Tage der Menschheit können nur als sinnvoll erfahren werden, wenn auf die erwünschte totale Zerstörung der Neuanfang folgt. Neuanfang kann aber Vollkommenheit und Erlösung bedeuten, die einer Rückkehr in paradiesische Urzustände entsprechen.

Die Erfüllung der Herbeigesehnten bildet somit die Legitimation für die Zerstörung des Bestehenden.[1] Die Fähigkeit, die Welt im globalen Maßstab zu zerstören, lässt nunmehr Zweifel am utopischen Ausgang der Apokalypse entstehen und damit entzieht sich die Gestaltung des Neuanfangs der Denkbarkeit. Dieser Zweifel lässt sich vor allem in der modernen Welt bzw. im 20. Jahrhundert bemerken.


2.2. Der Verfall im Kontext der Postmoderne


Das Bild des 20. Jahrhunderts, das zwei Weltkriege hervorgebracht und die Mittel bereitgestellt hat, den eigenen Lebensraum umfassend zu vernichten, wird durch Zerstörung und Vernichtung geprägt.[2] Was bleibt ist die Katastrophe. Die biblische Darlegung der Apokalypse wird also immer mehr in den Hintergrund gerückt.

Das Leben im Angesicht der selbstgemachten Vernichtung lässt keinen Raum für einen möglichen Neuanfang. Unter den Menschen wächst immer mehr die Angst vor einem Atomkrieg, vor ökologischen und sozialen Katastrophen globalen Ausmaßes. Tschernobyl, AIDS heißen die politischen Wirk- und Reizworte. Zwei Milliarden werden jährlich für Waffenproduktion und Waffenkauf eingesetzt. [3]


„Die Betonierung der Landschaft, die Vergiftung der Natur, ( … ) die weltweiten militärischen Auseinandersetzungen ( … ) – all diese Faktoren einer immer mehr sich selbst und den Menschen fremd werdenden Lebenswelt bilden Grund und Anlass eines Krisenbewusstseins, das sich seit Beginn der achtziger Jahre wiederholt und nachhaltig öffentlich zum Gehör gebracht ( … ) wird.”[4]


Trotz der Entwicklung der Wohlstands– bzw. Überflussgesellschaft ist ein Mangel zu spüren, Mangel an Kontakt und Kommunikation, an Nachbarschaft, an beglückenden Lebensgefühlen, Mangel an äußerem und innerem Frieden, Mangel an Spontaneität, Mangel an Eros, Mangel an vegetativ –sensitivem Rhythmus, Mangel an Zusammenhang und Sinn.[5]

Daraus folgt, dass sich der Mensch gefangen fühlt. Seine Identität steht unter Bedrohung, die zwischenmenschlichen Beziehungen scheitern. Flucht in die Isolation, Entfremdung und Kommunikationsunfähigkeit kennzeichnen den modernen Menschen. Die zunehmende Angst vor dem Weltuntergang und damit verbundenes Menschenbild findet ihren Ausdruck in der so genannten postmodernen Apokalypsenliteratur.[6] Eine Vielzahl an Texten widmet sich dem Komplex, Apokalypse, Endzeit und Katastrophe.

In der Literatur werden also Zerstörung, Vernichtung, möglicher Atomtod der Menschheit und zahlreiche pessimistische Zukunftsvisionen behandelt. Die bedeutendsten Beispiele dafür sind Günther Grass’ die Rättin, Christe Wolfs Störfalls, wie auch Christoph Ransmayrs Erzählung Strahlender Untergang sowie seine Romane Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Die Letzte Welt und Morbus Kitahara.[7] In seinen Romanen behandelt Ransmayr also den Verfall im Bezug auf den Menschen, der von Außen beengt wird, wobei sich seine Auffassung dieser Problematik völlig von ihrer religiösen Deutung entfernt und mehr dem Geist der Postmoderne entspricht.



Ransmayr geht davon aus, dass die Visionen und Versionen der uns bestehenden Welt - und Menschheitsuntergänge den endgültigen Untergang und die Auslöschung des Menschen als Individuum sowie als Spezies beinhalten.[8] Auf diese Weise gewinnt der Untergang eine eigentümliche Zeitlosigkeit; er wird zur universellen Struktur, die alle Epochen und Zeiten durchzieht und erscheint so als allgegenwärtige, beständige Katastrophe.[9]

Mit dieser Problematik befasst sich, im Jahre 1988 erschienen, von Kritikern wie vom Publikum begeistert aufgenommen, der zweite Roman von Christoph Ransmayr Die Letzte Welt, der sehr schnell zum Bestseller geworden ist, was angesichts des Themas als unerwartet gelten muss : „Düster ist das Buch, erzählt von Untergang einer Welt in stilisierter Sprache dazu im antikisierenden Raum– Zeit Gefüge.“[10] Sieben Jahre später veröffentlichte Ransmayr seinen Roman Morbus Kitahara, in dem er „das Leben nach dem zivilisatorischen Tod durch die Massenverbrechen der Nazis“[11] thematisierte und mit diesem Roman stellte sich der Autor in Opposition zu Vertretern der Anschauung, dass fünfzig Jahre Vergangenheitsbewältigung genug sind.


In beiden Romanen wie auch in Ransmayrs früherem Werk wird in den Vordergrund die Problematik des Verfalls, der sich als allmähliches Ende menschlicher Zivilisation ereignet, gerückt, wobei Ransmayr diese Problematik einerseits im Rückgriff auf den Mythos (in Der Letzten Welt) und andererseits auf jüngstvergangene Geschichte (in Morbus Kitahara) beschreibt.[12] Obwohl beide Romane in ihren Erzählstrukturen, Themen – und Motivenberreiche, Personenkonstellationen sehr unterschiedlich sind, gleichen sie sich so sehr in ihrer Darstellung vom Ende dem Inhalt nach, weil mit beiden Romanen Ransmayr die gleiche Modelle der Wirklichkeit entwirft, die gleich verfallen.

Ransmayr verwendet für den Verfall ein Spektrum der Synonyme wie z. B. Untergang, Zerstörung, Verwesung, Niedergang und stellt ihn als ein Prozess, der nicht enden will. Dadurch wird dem Untergang Dauer verliehen. Er bezeichnet noch lange nicht das Ende, sondern enthält auch Zukunft, eine Zukunft, die sich als seine Fortsetzung erweist.

Ransmayr inszeniert den Untergang als stetige Wende zum noch Schlechteren, Unmenschlichen. Mit dieser ständigen Präsenz wird der Verfall zur beklemmenden immanenten Struktur auch der Gegenwart.[13] Daraus lässt sich schließen, dass Ransmayrs Definierung des Verfalls aus dem Rahmen der religiösen Auffassung der Apokalypse hervorragt, weil bei ihm keine Erlösungsvision und Erretung der Menschen vorkommt, sondern der Mensch verfällt ständig, und fühlt sich ständig gefangen ohne Hoffnung auf die bessere Zukunft, was völlig dem Geist der Postmoderne entspricht.


Andererseits werden sie von Außen allmählich zerstört (Tomi durch die Metropole Rom und Moor durch amerikanische Besatzer und Brand, einen Ort, wo die Bilder des Luxus und Wohlstands dominieren). In Der Letzten Welt spielt Ransmayr, indem er Tomi mit dem Attribut eiserne Stadt versieht, auf den Ovidschen Weltalter an. In Nasos apokalyptischer Vision entsteht durch den Untergang Aeginas ein Volk, das im Zeichen der Ameisen stand: willig, gehorsam, kriegerisch und seelenlos, das völlig dem Bild des totalitären Staats Roms entspricht.

In Morbus Kitahara wird ein Regime, das für Krieg und Arbeitslager verantwortlich war, ersetzt durch das weltumspannende System der Sieger, das sich durch Vergeltung, Krieg und Massenvernichtungswaffen behauptet.[14] Das alles zeigt, dass es nach dem Verfall weitergeht, dass dem Schlechten das Schlechtere folgt und dass nur eines wirklich zum Scheitern verurteilt ist und das ist die Hoffnung.[15] Obwohl Ransmayr anscheinend zwei verschiedene Zeiten und Orten darstellt (Das antike Rom und das Nachkriegsösterreich) darstellt, handelt es sich doch um zwei gleiche erfundene Welten, in denen die Figuren einer erstarrten und entfremdeten Umwelt ausgesetzt sind, die sie determiniert und in die Isolation und den Außenseitertum und somit auch in den Untergang führt.

In Morbus Kitahara kommen die beiden Protagonisten, Ambras, der ehemalige KZ Häftling und Bering, am Ende des Romans zum Mörder und selenlosen Befehlsvollstrecker geworden, gemeinsam um. Ihren Tod verkörpert ihr Untergang. In Der Letzten Welt hingegen behandelt Ransmayr das Ende komplexer, nicht nur als Tod, sondern auch als Verwandlung und damit greift er das zentrale Thema Ovidschen Metamorphosen, wobei die Verwandlung der Figuren nicht die Fortdauer ihres Wesens bedeutet, sondern dessen Ende.[16] Daraus lässt sich auch feststellen, dass die Figuren trotz der verschiedenen Formen ihres Verfalls gleich enden, weil ihr Verfall angesichts ihrer erstickenden Umwelt und ihrer Unfähigkeit zum Zusammenleben in einem geschlossenen System unausweichlich ist, wenn auch sie einen Schritt nach Außen machen.




Der Roman Die Letzte Welt wird im Hinblick auf postmodern apokalyptische Textverfahren gelesen und gedeutet. Holger Mosebach spricht hier über die verschiedenen Endzeitvisionen, die den Roman durchziehen. „Der Roman erzählt von verschiedenartig ausgestalteten Endzeitvisionen, die ihren Fluchtpunkt in der düsteren Perspektive auf die Menschheit haben.“[17]


Auf den ersten Blick ist die Romanhandlung sehr leicht zu verstehen. Im Mittelpunkt steht der griechische Dichter Ovid mit seinem kanonischen Meisterwerk der europäischen Literaturgeschichte Metamorphoses, in dem der Dichter Ovid den Versuch unternahm, „diese gewaltige Kosmogonie, einen ganzen mythischen Weltverlauf von der Schöpfung bis zu seiner Gegenwart darzustellen.“[18] Ransmayr thematisiert des Weiteren die Verbannung Ovids nach Tomi (die heutige Konstanza) an der Schwarzmeerküste.

Alles, was über die Verbannung bekannt ist, wissen wir von Ovid selbst. Ransmayr nimmt in seinem Roman nicht nur Bezug auf die Metamorphoses sondern auch auf Ovids Exilschriften EpistulaeexPonto (Briefe vom schwarzem Meer) sowie Tristia (Lieder der Trauer). Er schickt den Römer, Cotta- nach Cotta Maximus, dem engen Freund des Publius Ovidius Naso- auf die Suche nach Ovid und nach seinem verschollenen, verschwundenen Werk.


Aus diesem Leitsatz ist weiter zu schließen, dass das Thema des Romans eine große Verwandlungsgeschichte ist und es ist wichtig zu betonen, dass diese vielfältigen Verwandlungen der Welt im Zusammenhang mit Verfall und Zerstörung stehen. Dieser Zusammenhang lässt sich am besten an den Figuren des Romans erkennen.

Diese Verwandlungen ereignen sich in einem völlig von der Außenwelt entfernten sozialen System, das den Figuren des Romans keine optimistische Zukunft bietet. Die Verwandlungen der Figuren manifestieren sich durch ihr Verschwinden, Identitätsverlust und Tod. Sie werden von anderen gefühllos und ohne Mitleid aufgenommen, was dafür spricht, dass die im Roman dargestellte Menschenwelt völlig isoliert und entfremdet lebt bzw. die zwischenmenschlichen Beziehungen scheitern, was wieder zum Verfall unterschiedlicher Art führt. Für den Verfall der Figuren ist also ihre einsame und entfremdete Lebensweise, die durch ihre Umwelt determiniert ist, verantwortlich.

3.1. Tomi im Zeichen des Verfalls


Sie plagen „Nöte und Beschwerden der Armseligkeit.“[27] Der „vom Meer und vom Gebirge gleichermaßen bedrängte Ort, der so sehr in seinen Bräuchen, den Plagen der Kälte, der Armut und schweren Arbeit gefangen war “[28], vermittelt „Bilder von raucherfüllten Gassen, überwucherten Ruinen und Eisstößen.“ [29] Die Häuser verfallen, fast alles ist aus Eisen, Türen, Fensterläden. „Tomi war so öde, so alt und ohne Hoffnung ( … ).“[30] „Ein Kaff wie Tomi betrete und verlasse man wohl am besten ohne Zeichen und Gruß.“[31] Die Verwandlung Tomis durch heftige Wetterkatastrophen und wuchernden Pflanzenwuchs führt schließlich zum völligen Niedergang der Stadt.

Die Zerstörung findet weiter ihren Nachhall in Gestank. Hinter dem Schlachthaus breitet sich ein „Geruch von Blut und Jauche“[32] aus. Selbst die frische Frühlingsluft riecht nach „Essig und Schneerosen.“[33] Diese Zerstörung kommt wiederum in Trachila, Nasos Zufluchtsort und Grubenstadt Limyra zum Ausdruck. Trostlos, vernichtet und der Natur überlassen präsentieren sich diese abgelegenen Orte.

Die römische Metropole ist auch dem Verfall geweiht, was an Nasos Parabel Pest in Aegina lesbar ist. Das gewaltige Ameisenheer, das nach der Pest entsteht, machte sich über lebende und Tote her, zerstört und entvölkert die Insel. Daraus ist festzustellen, dass sogar das Imperium des Augustus dem Untergang nicht entkommen kann.[34]


Wer sind die Menschen in Tomi und was für ein Leben führen sie? Ihre Bewohner sind arme, schmutzige und oft brutale Bauern, die ein beengtes und von Gewalt bestimmtes Leben führen, ein Zusammenleben, das durch Lieblosigkeit und Brutalität geprägt ist. Die Menschen in Tomi leben nebeneinander, völlig auf sich allein gestellt unter harten Bedingungen ein weitgehend archaisches Leben als Bauern, Hirten, Fischer und Erzkocher, in völliger Isolation, ohne sich um einander zu kümmern.

Sie leben in einer Umwelt, die genauso abstossend ist wie sie.[35] Im Gegensatz zu Rom fehlt hier jeder Verwaltungsapparat, jeder politische und identitätsgestiftete Zusammenhang zwischen den Bewohnern. Jeder lebt ohne engere Beziehung zu den Nachbarn, ausgeliefert den Launen der Natur, bestimmt durch Tomi, wo der Verfall selbstverständlich ist.[36] Der Verfall der Figuren lässt sich weiterhin an ihrem Verhalten und Aussehen erkennen.

3.2. Die Bewohner von Tomi im Zeichen des Verfalls

Die erste Gemeinsamkeit für alle Bewohner von Tomi ist ihre Brutalität. Die Männer Tomis sind vor allem durch ihr betont brutales und barbarisches Verhalten gekennzeichnet. Marsyas und Tereus sind Vertreter eines unbeherrschten, gewaltbereiten Auftretens, das nicht selten unerfüllte Begierden offenbart. Marsyas beispielsweise gerät in Wut, da keine Frau zu finden ist, die mit ihm das Bett teilen möchte.

Er wartet die ganze Nacht lang auf die einzige Frau die nicht vor ihm flieht.[37] „Er schrie im leeren Dunkel der Höhle nach ihr und geriet über die Unerfüllbarkeit seiner Erwartungen in eine solche Wut, dass er zertrat und zerschlug, was noch nicht zertreten und zerschlagen war.“[38]

Tereus, der Dorfschlachter wird wegen seiner Brutalität und seines Jähzorns gemieden, sogar auch von seiner Frau Procne. Konfliktlösungen tragen bei ihm gewalttätige Züge.[39] Den betrunkenen Marsyas, der in der beschriebenen Szene die Nacht hindurch auf einer Schnapsflasche bläst, kann er nur durch Gewalt zur Ruhe bringen, indem er:


An den Schlachttagen ist er besonders reizbar. Seine Frau ist beschämt wegen seiner Gewaltbereitschaft. Tereus verlässt häufig seine Frau, um tagelang zu einer namenlosen Prostituierten zu gehen. Aber Procne scheint von dem Treiben ihres Mannes nichts zu merken, denn „kränklich und ohne Klage begleitete sie ihren Gemahl durch ein hässliches Leben.“[41] Tereus schlägt oft seine Frau:

„wortlos und ohne Zorn wie ein ihm zur Schlachtung anvertrautes Tier, so als diese jeden Schlag allein dem Zweck, einem kümmerlichen Rest ihres Willens und den Ekel zu betäuben, den sie vor ihm empfand.“[42]

Zu den Gewalttaten dieses Mannes gehört auch die Vergewaltigung seiner Schwägerin Philomela. Nach dem schändlichen Verbrechen verstümmelt Tereus das Mädchen, damit sie nie wieder sprechen kann. Philomelaa droht dadurch dem Wahrsinn zu verfallen.

Die Kinder von Tomi sind auch brutal und gewalttätig. Sie sind wie Erwachsene grausam und intolerant. Die verstümmelte Philomela wird beispielsweise von den brutalen Kindern malträtiert:[43]

Diese Brutalität findet auch Ausdruck in dem Verhalten der Einwohner den Flüchtlingen gegenüber.

„Infolge der Naturkatastrophen sind zahlreiche Bewohner des Umlandes gezwungen, in Tomi Zuflucht zu suchen; sie richten sich notdürftig ein. Kaum ein Tag vergeht jedoch ohne Streit und Prügelei zwischen den Menschen aus dem Gebirge und denen der Stadt. Letztere grenzen sich von den Barbaren ab, werfen Steine und Abfall über die Mauern und giessen Jauchekübel aus, wenn die Flüchtlinge durch die Gassen gehen.“[45]

Daraus lässt sich feststellen, dass allen Bewohnern ihre Rohheit, Aggression, Gewaltbereitschaft und Triebbessenheit gemeinsam sind und gerade diese negativen Eigenschaften führen sie in den Verfall, weil sie keine wahren, menschlichen Gefühle kennen. Die Männer sind Täter, die stets von den Gewaltphantasien besessen sind.

Die Frauen, bei denen positive Eigenschaften zu beobachten sind, sind ihre Opfer, wie z. B. Procne und Philomela, die von Tereus körperlich missbraucht wurden. Die Frauen sorgen sich um ihre Kinder, wie z.B. Fama um ihren kranken Sohn Battus, und sorgen sich um Ihresgleichen, wie z. B. Procne, die Marsyas aus dem Brunnen rettet. Deshalb können die Frauen als trauernde Figuren charakterisiert werden: angefangen bei Alcyone, die vor Trauer um Ceyx beinahe den Verstand verliert, Cyane, die um ihren verbannten Mann Naso trauert, Fama um ihren versteinerten Sohn Battus, Pyrrha aufgrund ihrer Einsamkeit mit Deucalion.

Die Beispiele sind bereits erwähnt, Phineus΄ fauliger Schwanz, den Echo nicht anfassen will, Marsyas΄ abstossendes Wesen, das keine Frau anzieht und Tereus΄ Geilheit, die er mit irgendeiner namenlosen Hure auslebt. Sogar der zivilisierte Römer Cotta fällt über Echo wie ein triebgesteurtes Tier her. Kurz gesagt verkommt Zuneigung in Tomi zum Gewaltspiel und Sexualität zum Herrschaftsanspruch.[47]

Ein anderes Merkmal, das alle Bewohner von Tomi kennzeichnet, ist ihre Gleichgültigkeit. So erregte Cotta bald keine Aufmerksamkeit mehr, das Verschwinden von Echo bemerkt niemand, das Episkop kann nur einen Moment die Bewohner von Tomi faszinieren. Sogar die Versteinerung von Battus wird schnell vergessen wie das Schicksal aller Bewohner dieser Stadt.

Aus dem Gleichmut mit dem das entbehrungsreiche und hässliche Leben in Tomi ertragen wird, fällt nur die Sehnsucht nach Cyparis und seinen Filmen heraus.[48] Angesichts der Verwandlungen, der heftigen Wetterwechsel, Gesteinsabgänge und Kataklysmen reagieren die Bewohner teilnahmslos und indifferent. Die Tatsache, dass sich einige Bewohner verwandeln wird unbekümmert akzeptiert.


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