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Seminararbeit
Literaturwissenschaft

Goethe Universität Frankfurt am Main

2006, Zernack

Hanna . ©
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ID# 7486







Der Nornagest þáttr


Gliederung


Einleitung Seite 3

1. Der Nornagests þáttr Seite 3

2. Der Nornagests þáttr – eine Kompilation aus verschiedenen Vorlagen Seite 7

2.1 Literarische Einflüsse auf die Rahmenerzählung Seite 7

2.2 Literarische Einflüsse auf die Binnenerzählungen Seite 11

3. Der Name Gestr Seite 12

3.1 Wortspiele mit dem Namen Gestr Seite 12

3.2 Ist Gestr Óðinn? Seite 13

4. Der Nornagests þáttr und das Christentum Seite 15

Fazit Seite 19

Literaturverzeichnis Seite 20


Der Nornagests þáttr


Einleitung


Unter þáttr versteht man eine Gruppe von volkssprachlichen Erzählungen, die meist in einem größeren Kontext überliefert sind. Viele der þættir erzählen von Treffen der jeweiligen Hauptperson mit einem norwegischen König. Sie sind deshalb häufig Bestandteile der Konungasọgur, obwohl sie auch oft den Íslendingasọgur zugeordnet werden. [1]

Der Nornagests þáttr dagegen wird zum einen den Fornaldasọgur zugeordnet. Die Hauptperson Gestr berichtet, allerdings nur in den Binnenerzählungen, von Ereignissen aus der mythischen Vorzeit, der Fornọld. Zum anderen wird der behandelte þáttr zu den Konungasọgur gezählt, da Gestr in der Rahmenerzählung an den Hof König Óláfr Tryggvasons kommt. [2]

Der Nornagests þáttr ist Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden. [3] Er ist eine in sich abgeschlossene Episode der Óláfs saga Tryggvasonar, der in der Flateyjarbók und im Codex AM 62 fol. überliefert wurde. [4]

Welche vielen verschiedenen Einflüsse sich auf den þáttr und seine Hauptperson Gestr ausgewirkt haben, soll Gegenstand der Untersuchung sein.


1. Der Nornagests þáttr


Der þáttr spielt um die Weihnachtszeit im Jahr 998 am Hof König Óláfr Tryggvasons, [5] als dieser sich in Þrandhæimi aufhält. Es ist spät am Abend als ein Fremder, der sich Gestr nennt, den König um Aufnahme bittet.

In der Nacht, als der König betend in seinem Bett liegt, glaubt er einen Elf oder einen anderen Geist in das verschlossene Haus kommen zu sehen. Das Wesen geht durch die Reihen, blickt auf die schlafenden Männer und bleibt schließlich an einem Bett stehen. Der Mann, der dort liegt, unterscheidet sich von den anderen: [6]

„Furdu sterkr láss er her firir tomu huse ok er konungr æigi iafnnuis um sligt

sem adrir lata er hann se allra manna sparkastr er hann sefr nu suo fast. Eftir

þat huerfr sa a brott at luktum dyrum.” [7]

Am nächsten Morgen lässt der König nachforschen, wer an der Stelle, an der der Elf stehen geblieben ist, gelegen hat. Es stellt sich heraus, dass es Gestr war, der sich, wie alle anderen Männer, vor dem Schlafengehen bekreuzigt hatte. [8]

Der König lässt Gestr zu sich rufen, fragt ihn nach seiner Herkunft und ob er getauft sei. Gestr antwortet darauf, dass er primgesegnet ist. [9]

Deshalb sagt König Óláfr zu Gestr: „En skamma stund muntu med mer oskidr.“ [10]


Noch im gleichen Jahr kommen Männer, die Grimr [11] heißen, von Gudmundr aus Glasisuọllum zum König und bringen ihm zwei Hörner, die ebenfalls Grimr heißen. Außerdem haben sie weitere Nachrichten für König Óláfr, von denen später

berichtet [12] werden soll.

Als der König bei den Feierlichkeiten rund um Weihnachten von Ulfr hinn raude den goldenen Ring Hnitut bekommt, sind die Männer begeistert. Nur Gestr scheint sich nichts aus dem wertvollen Schmuckstück zu machen. Darauf angesprochen erwidert jener nur, dass er schon weitaus besseres Gold gesehen habe. [13]

Die Gestir, eine Art Leibwache des Königs, bei denen Gestr sitzt, können das nicht glauben und wollen deshalb mit Gestr wetten. Er stimmt zu. Den Rest des Abends unterhält Gestr die Gesellschaft mit seiner Harfe und den Liedern ‚Gunnarsslag’ und ‚Gudrunarbrọgd’, [14] was den Leuten sehr gut gefällt.

Und als am nächsten Abend Gests Gold vor den König, der als Schiedsrichter fungiert, gebracht wird, ist es ein Stück einer Sattelschnalle aus so feinem Gold, [15] dass Gestr die Wette gewinnt. Er ist jedoch nicht an dem Gewinn interessiert, sondern gibt seinen Wettgegnern folgenden Rat:

„Takit fe yduart sealfir þuiat ek þarf æigi at hafua. En uedit ekki oftarr uit

okunna menn þuiat æigi uitu þer huern þer hittit þann firir at bæde hefuir

flæira set ok heyrt en þer.“ [16]

Anschließend verlangt der König, dass Gestr berichtet, woher er die goldene Sattelschnalle hat. Und obwohl Gestr zunächst zögert, berichtet er. Er ging [17] von Dänemark aus an den Hof von Sigurðr, dem Sohn Sigmunðrs, im Frankenland. Er traf dort den Zwerg Reginn und trat in die Dienste Sigurðrs ein.

Als Sigurðr und seine Truppen auf dem Weg zu den Hundingssöhnen sind, treffen sie auf einen kapuzenverhüllten Mann, der sich Hnikarr nennt. Er gibt Sigurðr einige Ratschläge [18] mit auf den Weg. Als Hnikarr nach dem Sieg am nächsten Morgen verschwunden ist, wird vermutet, dass es sich dabei um Óðinn gehandelt habe.

Gestr berichtet über Sigurðrs Kämpfe und Siege, darunter die gegen die Hundingssöhne, Fafnir und Reginn. [19] Der Riese Starkaðr Storverksson versucht schon zu fliehen, als er hört, dass er Sigurðr Fafnisbani vor sich hat, doch Sigurðr ist schneller und schlägt Starkaðr zwei Backenzähne aus.

Einen davon nahm Gestr als Trophäe an sich. Der sieben Öre [20] schwere Zahn hänge nun am Glockenseil des Domes in Lund.

Nun folgt der Teil der Geschichte, in der Gestr die kostbare Sattelschnalle erhält. Als Sigurðrs Pferd Grani einmal stolpert, bricht die Sattelspange entzwei. Gestr findet diese und will sie seinem Herrn übergeben, aber Sigurðr schenkt sie ihm. [21]

Außerdem kann Gestr ein sieben Ellen [22] langes Haarbüschel aus dem Schweif von Sigurðrs Pferd Grani vorweisen. Die außergewöhnliche Größe bzw. Kostbarkeit der Beweisstücke soll die Bedeutung des lang vergangenen Heldenzeitalters zeigen. [23]


Anschließend berichtet Gestr über den Tod Sigurðrs und das Streitgespräch zwischen Brynhildr und der Riesin Gygr, in dem das Edda Lied Helreið Brynhildar zitiert wird.

Als Gestr kurze Zeit bei den Söhnen Loðbrókars war, trug sich die folgende Begebenheit zu: Die unbesiegten Truppen waren auf dem Weg nach Rom, als sie auf einen Mann treffen, der gerade aus Rom kommt. Nach der Länge des Weges dorthin weist der Wanderer seine Schuhe vor, die Sohlen aus Eisen haben. Die Sohlen waren durch die weite Strecke schon sehr in Mitleidenschaft gezogen worden.

Auf Grund dessen beschließt der König, dass sie umkehren und Rom nicht plündern.


Da nun Gestr bei so vielen verschiedenen Helden und Königen gewesen war, stellte König Óláfr Tryggvason, ihm die Frage, wo bei wem es ihm am besten gefallen habe. Gestr antwortet:

„Mest glede þotti mer med Sigurde ok Giukungum. En þeir

Lodbrokar synir uoru menn sealfrdazstir at lifa sem menn uilldu. En med

Eireki at Uppsolum uar sæla mest. En Haralldr konungr harfagri uar

uandazstr at hirdsidum allra fyrr nefnndra konunga. Ek uar ok (med) Hlọdui

konungi a Saxlandi ok þar var ek primsigndr þuiat et matti æigi þar uera


Hier werden die verschiedenen heidnischen Könige und Höfe untereinander verglichen. [25] Jeder der fünf aufgezählten Höfe hat einen anderen Vorzug, den Gestr heraushebt. Bezeichnend ist jedoch, dass der letzte in der Aufzählung Kaiser Hlọðvir [26] ist, bei dem Gestr primgesegnet wurde. Es soll also eine religiöse Weiterentwicklung gezeigt

werden. [27]


Zu guter Letzt erzählt Gestr, wie er zu dem Namen ‚Nornagestr’ gekommen ist:

Wie üblich wurden bei der Geburt eines Kindes auch von Gestrs Vater die Nornen bestellt, um über das Baby zu weissagen. Die beiden ersten versprachen ein äußerst erfolgreiches Leben, was jedoch der dritten und jüngsten missfiel. Sie bestimmte, dass Gestr nur so lange leben solle, wie die einer der Kerzen an der Wiege brenne.

Die älteste Norne löschte daraufhin die Kerze, welche Gestr nun bei sich trägt.


Im Anschluss daran lässt sich Gestr von König Óláfr Tryggvason taufen. [28]

Danach wird Gestr Gefolgsmann des Königs und ist bei allen sehr beliebt. Eines Tages fragt der König Gestr, wie lange er noch leben wolle. Gestr antwortet darauf: „Skamma stund hedan af ef gud uillde þat.” [29] Also fragt der König Gestr nach der Kerze und als Gestr zustimmt, wird diese entzündet. Da sie schnell herunterbrennt, fragt Óláfr Tryggvason den Sterbenden nach seinem Alter. „Nu hefui ek þriu hundrut uetra.“ [30] Nach der letzten Ölung ist die Kerze schon fast heruntergebrannt.

Als sie verlischt, stirbt

Gestr. [31]


2. Der Nornagests þáttr – eine Kompilation aus verschiedenen Vorlagen


2.1 Literarische Einflüsse auf die Rahmenerzählung


Dem Nornagests þáttr ähnliche Geschichten finden sich in mindestens zwei altnordischen Überlieferungen wieder:

Die frühere Version ist in der Heimskringla in der Saga von Óláfr Tryggvason und in der Óláfs saga Tryggvasonar en mesta in der Flateyjarbók überliefert. [32] Dort kommt ebenfalls ein Fremder, der nur als Gestrinn bezeichnet wird, zu dem König und unterhält ihn bis spät abends mit Geschichten aus vergangenen Zeiten, unter anderem von einer heiligen Kuh.

Der Bischof muss zweimal ein Machtwort sprechen, um den König zum Schlafen zu bewegen. Als der König in der Nacht erwacht und den Gast nochmal sehen will, ist dieser verschwunden. Er hat aber zwei Stücke Fleisch von hervorragender Qualität zurückgelassen, da das, was dem König eigentlich vorgesetzt werden sollte, zu schlecht sei. Sofort ist dem König klar, dass es sich bei dem Gast um Óðinn gehandelt haben muss und er lässt das Fleisch zerstören. [33]


Auf eine weitere Nachfrage, sagt König Óláfr Haraldsson, dass er, wenn überhaupt, gern das Verhalten und die hohen Ideale des Hrólfr kraki hätte, seinen eigenen Glauben vorausgesetzt.“ Die Antwort scheint dem Gast nicht zu gefallen und er wird deutlicher: „Und warum würdest Du nicht gern jener König sein, der jeden besiegte, mit dem er kämpfte und der sehr ansehnlich war und vollendet in allerlei Sportarten, so dass es im Norden niemand vergleichbaren gab?“ Nun erkennt der König, wer hinter dem Gast steckt.

Er wirft sein Gebetbuch nach ihm und sagt: „Zu allerletzt würde ich gern du sein, Óðinn!“ [35]


In allen drei Geschichten tauchen unbekannte Männer, die sich Gestr nennen oder als Gestrinn bezeichnet werden, abends an einem Königshof auf. Sie unterhalten den König mit Geschichten oder Fragen über die Fornọld. Die moderne Zeit wird mit der vergangenen verglichen und kritsiert: [36] das von Óðinn hinterlassene Fleisch ist besser als das für den König vorgesehene; die Könige in der Fornọld waren besser; und das Gold von Sigurðrs Sattelspange ist weitaus besser als das des zeitgenössischen Ringes Hnitut.

Weiterhin geht es darin indirekt auch um einen Vergleich zwischen dem Heidentum und dem Christentum. [37]


Große Ähnlichkeit zum Nornagests þáttr hat auch der Tóka þáttr Tókasonar [38] aus der Flateyjarbók, wobei wahrscheinlich ersterer das Vorbild für den zweiten þáttr war. [39]


Gestr wurde 300 Jahre alt. Bei dieser Zahl könnte es sich um eine Anlehnung an eine bekannte europäischen Legende handeln, nämlich der Legende von Johannes á Temporibus. Dieser war Schwertträger Karls des Großen [40] und wurde 361 Jahre alt. Als sein Todesjahr wird meist 1139 angegeben. [41]

Panzer sieht die eindeutige Verschmelzung der Johannes á Temporibus-Legende mit der Geschichte von Gestr darin, dass beide Waffenträger von berühmten Männern waren. [42] Harris und Hill [43] weisen jedoch darauf hin, dass „þionustumadr“ [44] nicht „Waffenträger“ bedeutet, sondern „Dienstmann, Diener, Bedienter oder Untertan“. [45]


Eines der literarischen Ursprungsmotive des Nornagest þáttr könnte das Meleager-Motiv sein. Die Meleagersage ist aus der altgriechischen Überlieferung bekannt:

„Eine Frau gebar ein Kind. In der Nacht, in der die Moiren zur Bestimmung

des Schicksals kommen, lag sie wach und hörte ihren Spruch. Die erste sagte:

‚Dieses Kind wird hübsch sein.’, und die zweite: ‚Es wird auch tapfer sein.’,

aber die dritte rief beim Anblick des Herdfeuers: ‚Ich will, dass das Kind

nicht länger lebt, als dieses Holzscheit brennt. In dem Augenblick, in dem es

verlöscht, soll das Kind sterben.’ Darauf verschwanden die Moiren.

Die Mutter ergriff das Holzscheit, löschte und verbarg es auf dem Boden

einer Truhe. Der Junge wuchs heran und ging eines Tages mit dem Bruder

seiner Mutter auf die Jagd. Bei der Rückkehr stritten sie über die Verteilung

der Jagdbeute, worauf der Junge aus Zorn seinen Onkel erschlug. Sobald die

Mutter von dem Tod ihres Bruders vernahm, holte sie das halbverbrannte

Holzscheit aus der Truhe und warf es ins Feuer. Als es verbrannt war, fiel ihr

Sohn tot zur Erde.’ [47]


In einer türkischen Version des Meleager-Motivs, der Sage von Trakosaris, [48] hängt die Lebensdauer des Protagonisten nicht von einem Holzscheit, sondern von einer Kerze ab. Außerdem lebt der Kerzenbesitzer dreihundert Jahre lang, Trakosaris bedeutet ‚der Dreihundertjährige’.

  1. der Besuch der Moiren bzw. Vọlvur an einem Tag nach der Geburt des Kindes [50]
  2. die Auffassung des menschlichen Lebens als ein Licht, das beim Tod erlischt


Ebenfalls gemeinsam haben Meleager und Gestr die Überlistung der Schicksalsfrauen indem das Feuer bzw. die Kerze gelöscht wird und den späteren Tod durch das Verbrennen des Holzscheites bzw. das Abbrennen der Kerze. [51]


Ein Unterschied zwischen dem Nornagest þáttr und dem ursprünglichen Meleager-Motiv besteht darin, dass die Helden dieses Sagenkreises nicht länger leben als ihre Mitmenschen und durch das verbrennen des Holzscheites getötet werden. Hiermit soll ausgedrückt werden, dass der Mensch sich dem Schicksal nicht widersetzen soll.

Im Gegensatz dazu zeigen die Geschichten von Trakosaris und Nornagestr, dass der Held selbst über sein Schicksal entscheiden kann. [52]

Dies ist für den þáttr besonders wichtig, denn so kann der Verfasser zeigen, dass etwas, das als unvermeidbares Schicksal gedacht war, sich in das Gegenteil umwandelt. Aus dem Fluch der Nornen wird Rettung: [53] Erst dadurch, dass Gestr so lange lebt, kann er das Christentum kennen lernen und sich taufen lassen.




Große Teile der Binnenerzählungen, mit der Gestr am Hof König Óláfr Tryggvasons zur Unterhaltung beiträgt, sind wörtlich in der Haupthandschrift der Lieder-Edda [54] oder einem ihr verwandtem Codex entnommen. Die Heldenlieder Reginsmál und Helreið Brynhildar werden ausführlich zitiert. [55] Die Geschichten von Sigurðr finden sich in der Völsunga saga wieder, die Geschichten von den Söhnen Loðbrókar in der Ragnars saga loðbrókar. [56]


In einer anderen Ausgabe des Nornagests þáttr [57] ist der Name des Wanderers mit den Eisenschuhen, auf den die Söhne Loðbróks treffen, als ‚Sones’ angegeben. Hollander stellt einen Bezug zu dem französischen Epos des Sones de Nansai her, der als fahrender Ritter auch nach Irland, Schottland und Norwegen gekommen sein soll.

Als Belohnung für seine Hilfe im Kampf gegen die Iren wird er mit der norwegischen Prinzessin Odée verheiratet und wird sogar König von Norwegen. Der Papst beruft ihn nach Rom, wo er Imperator wird und die Stadt und den christlichen Glauben schließlich und gegen die Sarazenen verteidigt. [58]


Eine Spiegelung des Erzählers Gestr selbst bildet die Figur des Starkaðr Stórverksson. Er ist ebenfalls außergewöhnlich alt und verdankt diese Eigenschaft einem Streit zwischen Þórr und Óðinn. Ähnlich wie bei Gests Nornen möchte Óðinn nur Gutes für seinen Zögling, während Þórr Verwünschungen ausspricht. Der Riese soll drei Menschenalter leben, muss aber in jedem davon ein Verbrechen begehen.

Er wird nicht besiegt, aber immer schwer verwundet. Er kann zwar sehr schnell dichten, vergisst alles jedoch sofort wieder. [60]

Letzteres ist ein klarer Gegensatz zu dem guten Erinnerungsvermögen und den großen erzählerischen Fähigkeiten, die Gestr besitzt. [61]

Hier spiegelt sich also ein Teil des Mythos von Starkaðr Stórverksson wieder, der unter anderem in der Gautreks saga überliefert ist. [62]


Interessant ist, dass Gestr in den Geschichten, die er erzählt, niemals selbst eine aktive Rolle übernimmt. [63] Er ist lediglich als Zeuge anwesend. Und deshalb kann er auch nur von Ereignissen berichten, an denen er beteiligt war. [64]




Gestr bedeutet zunächst einmal „Fremder, nicht geladener Gast, Besucher“. [65]

Der Nominativ Plural ‚gestir’ bedeutet nicht, wie nun zu vermuten wäre, „die Gäste“, sondern dieser Begriff bezeichnet eine besondere Gruppe des königlichen Gefolges, eine Art Leibwache oder Polizeitruppe. [66]


3.1 Wortspiele mit dem Namen Gestr


Bereits als Óláfr Tryggvason den Namen seines spätabendlichen Besuchers erfährt, folgt ein Wortspiel: „Gestr muntu her uera huersu sem þu hæitir.“ [67] Damit deutet der König an, dass er um den odinischen Bezug des Namens weiss. [68]

Der Text nimmt dies immer wieder auf, mal wird Gestr als Eigenname oder gestr als ‛der Fremde’, ‛der Gast’ verwendet. Ebenso spielt der Verfasser mit dem Namen Gestr und den Gefolgsleuten des Königs, den ‛gestir’: [69]

“Ok at lyktum kemr a gestabek ok sua firir Gest hinn unkunna. [ .] Ein

herbergissuæinn skæinki utar a bekkinn gestanna. [ .] Alluel sogdu þeir utan

Gesti hinum nykomma [ .] Herbergissuæinninn gengr innar firir konung ok

segir honum þessi hin somu ord gestanna ok þessi hinn komni Gestr [ .]

bekinn. Þeir spyria hinn nykomna gest [ .] Gestr suarar [ .]” [70]


3.2 Ist Gestr Óðinn?


Gestr ist ein Name, unter dem Óðinn, der Gestaltenwechsler, [71] mehrfach bei König Óláfr Tryggvason erscheint, [72] jedoch wird er meist als der in Óðinns Gestalt geschlüpfte Teufel entlarvt. [73]

Außerdem tritt Óðinn, wie Gestr im Nornagests þáttr, auch als Erzähler auf, der sein Wissen weitergibt. [74]


Des Weiteren erinnert der Name an Gestumblindi, [75] der in der Heiðreks saga seinen Feind König Heiðrekr aufsucht und von diesem als Schlichtungsvorschlag die Aufgabe erhält, ihm gute Rätsel zu stellen. Gestumblindi stimmt zu, es folgen 29 Rätselverse. Bis auf den letzten kann der König alle lösen. Die Lösung der 26. Aufgabe ist die Sau im Garten, welche mit 9 Ferkeln trächtig ist.

Da kein Mensch die Zahl der Ferkel wissen kann, schöpft der König Verdacht:

„Konungr mælti þá, ‚Ef þú ert sá Gestumblindi, sem ek hugða, þá ertu vitrari

en ek ætlaða; en frá gyltinni segir þú nú úti í garðinum.’ Þá lét konungr drepa

hverr maðrinn mun vera.“ [76]

Die Lösung des vorletzten Verses lautet ‚Óðinn, der auf seinem Pferd Sleipni reitet’, ein schon recht deutlicher Hinweis. Und das letzte, für den König nicht lösbare Rätsel, leitet Gestumblindi wie folgt ein:

„ ‛Segðu þat þá hinzt, ef þú ert hverjum konungi

vitrari’: Hvat mælti Óðinn í eyra Baldri, áðr hann væri á bál hafðr?’

Heiðrekr konungr segir, ‚Þát veiztu einn, rọg vættr!’ – ok þá bregðr Heiðrekr

Tyrfingi ok họggr til hans, en Óðinn brásk í valslíki ok fló á brott; (…)“ [77]

Spätestens nun ist enthüllt, dass die Person, die vor dem Besuch bei König Heiðrekr mit dem Menschen Gestumblindi die Kleidung getauscht hatte, tatsächlich Óðinn war. Zuvor hatte der Mensch Gestumblindi Óðinn Opfer dargebracht, und ihm, im Falle von Hilfe bei König Heiðrekr, viele Geschenke versprochen. [78]

In der vorchristlichen Version der Geschichte stirbt König Heiðrek später, [79] weil er den Gott erkannt hat und ohne Grund versuchte, ihn zu attackieren. Er wird von neun Sklaven noblen Geschlechts, die er von einer Wikingerfahrt mitgebracht hatte, getötet. [80]

Die dritte Stufe der erzählerischen Entwicklung liegt nun im Nornagests Þáttr vor. Der Fremde, der an den Hof des Königs kommt, trägt zwar einen odinischen Namen und odinische Merkmale, aber er ist nicht Óðinn. Was er erzählt ist keine Bedrohung mehr für den christlichen Glauben, sondern handelt lediglich von berühmten Königen und Helden der Vorzeit.

Durch die Taufe am Ende der Erzählung wird deutlich, dass mit der heidnischen Vergangenheit abgeschlossen wurde. [83]


Das Wander-Motiv des ewigen Juden Ahasverus könnte ebenfalls in den Nornagests þáttr eingeflossen sein. Die Legende besagt, dass der jerusalemer Schuhmacher Ahasverus Jesus auf dem Weg nach Golgatha eine Rast auf seiner Türschwelle verweigerte. Er trieb ihn mit einem Schusterleisten davon. Jesus sagte daraufhin zu ihm: "Ich werde ruhen; du aber sollst gehen, bis ich wiederkomme!" Auf Grund dessen wandert Ahasverus durch die Welt.

Er kann nicht sterben, sondern wird alle hundert Jahre von einer ihn verjüngenden Krankheit befallen. [84]


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