Das Thema des
„Eingeschlossenen“ in der Theaterliteratur am Beispiel von „Hedda Gabler“,
„Bernarda Albas Haus“ und „Miss Julie“
Die soziale Struktur einer Gesellschaft ist nichts
Statisches; sie befindet sich vielmehr in dauernder Bewegung und Entwicklung.
Will man eine Analyse der Sozialstruktur vornehmen, kann das Vorhaben daher nur
als Momentaufnahme der sozialen Prozesse angesehen werden, die diese
Gesellschaft und ihre Struktur prägen. Der Begriff der zunächst als relativ
statisch gedachten Struktur und der Begriff des dynamischen sozialen Wandels
verweisen auf ein altes Problem der Soziologie, das schon bei Auguste Comte (1798-1857)
mit allen seinen Schwierigkeiten und Widersprüchen auftaucht: das Problem von
Statik und Dynamik in der Analyse der sozialen Wirklichkeit. Norbert Elias
(1897-1990) war Soziologe und Dichter deutsch-jüdischer Herkunft, der nach
seiner Emigration die britische Staatsbürgerschaft annahm. Von ihm stammt
letztlich der Begriff des „Homo Clausus“, mit welchem er mit der langen Denktradition
bricht, in der „die Gesellschaft“ dem „als selbständig gedachten Individuum“
gegenübergestellt wurde. Er stellte als erster eine Neudefinition von Begriffen
wie „Identität“ und „Selbstwert“ zur Verfügung und gelangte zu einer in der
Geschichte der Soziologie relativ neuartigen Sichtweise auf die Menschen als
Akteure mit einem sehr eingeschränkten Freiheitsspielraum im Rahmen der
Figurationen, die sie in sozialen Prozessen miteinander bilden.
 
Eines der Leitmotive der modernen Soziologie ist seitdem das
Thema des Eingeschlossenen. Der Begriff bezeichnet einen Menschen, der
in seinem „Inneren“ von der „Außenwelt“ abgeschlossen ist. Elias ging davon
aus, dass die individuelle Erfahrung der Umwelt und des eigenen Selbst in den
modernen Gesellschaften des Wandels ein Selbsterfahrungsmuster entwickeln, in
welchem die Balance zwischen den Anforderungen des „Wir“ und den Bedürfnissen
des „Ich“ nicht ausgewogen ist, sondern deutlich zugunsten des „Ich“ neigt. In
Gesellschaften dieses Typs sind die komplizierten Zusammenhänge funktionaler
Wechselwirkungen einzelner Bereiche der Gesellschaft, ihrer Zwänge und
Forderungen besonders weit ausdifferenziert und werden dadurch für das
Individuum schwer oder kaum überschaubar. Das Ich kann seine Abhängigkeiten nur
noch begrenzt wahrnehmen und empfindet sich aufgrund der fortgeschrittenen
Spezialisierung als entfremdet in seinen Beziehungen zur Außenwelt.
Herrisch und übermächtig zwingt die Witwe Bernarda Alba ihre
fünf heranwachsenden, lebenshungrigen Töchter in ein düsteres, menschenscheues,
verkrampft ehrbares Dasein. Keines der Mädchen darf ins Leben treten, bevor
nicht die älteste Tochter Angustias mit ihren 39 Jahren standesgemäß versorgt
ist. Der Schein katholischer Ehrbarkeit und dessen Erhaltung unter allen Umständen
wird als das von den Vorfahren übernommene Lebensmuster, welches keinesfalls
ins Wanken geraten darf, über das Leben und über das individuelle Glück
gestellt. Bernarda Alba leidet unter dem Zwang zu Anstand, Glaube und
katholischer Ehre und hat keine Skrupel, ihre Töchter in dasselbe Leid zu
zwingen.
Hedda Gabler verehrt die Duellpistolen, die der Vater ihr
vermacht hat. Sie ist früher gerne mit ihm ausgeritten. Von ihm hat sie auch
die Ansicht übernommen, Zerstörung sei ein legitimes Mittel der Problemlösung.
Sie ist also eine „Vater-Tochter" – ihre Welt ist die Welt ihres Vaters.
Sie sieht nämlich im Einsatz destruktiver Mittel die einzige Möglichkeit, ihre
existentiellen Probleme zu lösen. Sie verzweifelt an der Gewöhnlichkeit ihrer
Existenz und traut sich doch nicht, aus ihr auszubrechen. Aus diesem
Selbstwiderspruch entwickelt sich eine hochexplosive, zerstörerische Energie,
der ihre Umwelt nach und nach zum Opfer fällt. Hedda will, dass alle dieselbe
Öde und Hoffnungslosigkeit empfinden, von der sie sich Tag und Nacht umgeben
sieht.
Fräulein Julie versucht ihrem durch starre gesellschaftliche
Normen geprägten Dasein zu entfliehen und etwas Spaß zu haben, indem sie auf
dem jährlichen Mittsommerfest der Dienerschaft tanzt. Dort fühlt sie sich zu
dem älteren Diener Jean hingezogen, der in der Welt herumgekommen ist und
sowohl gut erzogen als auch gebildet ist. Obwohl sie über Jean steht, da sie
der Oberklasse angehört und eine Dame ist, übt Jean Macht über Julie durch
seine Bildung und seine Männlichkeit aus. Er tritt damit jedoch lediglich an
die Stelle von Julies Vater: der Graf hat immer Macht dank seiner Rolle als
Vater, Adliger und Arbeitgeber über Julie ausgeübt. Obwohl er in dem Drama nie
in Erscheinung tritt, ist er als Symbol für die feudalistische Gesellschaft,
die ihre Zwänge über Miss Julie ausübt, stets präsent: dadurch, dass seine
Handschuhe und seine Stiefel von Anfang an auf der Bühne stehen, wird sein
großer Einfluss auf die beiden Hauptfiguren Jean und Julie deutlich. Jean führt
lediglich den väterlich-gesellschaftlichen Einfluss auf Julie weiter und wird
dadurch selbst zur Marionette dieser Gesellschaft. Auch Jean ist in seinem
Denken und seinem Verhalten „Eingeschlossener“ der Gesellschaft.
Auch die Themen des Klassen- und Generationenkonflikts sind
Bestandteil dieser Eingeschlossenheit: Bernarda Albas Töchter rebellieren
lediglich innerlich gegen den Zwang, den ihre Mutter als Repräsentant der
Gesellschaft ihnen auferlegt. Keine gönnt der anderen den auserwählten
zukünftigen Ehemann der Ältesten – auch diese Person repräsentiert die
patriarchalische Gesellschaft mit all ihren Zwängen, die sie den Frauen
auferlegt und mit all ihren Freiheiten, die dem Mann gewährt wird: zwar taucht
Pepe in dem Theaterstück nie auf, dennoch ist er als Ziel der Begierde und als
vermeintlicher „Retter“ omnipräsent. Hier werden die „Klassen“ der Männer und
Frauen einander als Herrscher und Beherrschte gegenübergestellt. Einzig der
gesellschaftsleitende Katholizismus bricht alle: Bernarda in ihrer Selbstzerfleischung
ebenso wie ihre Töchter, Pepe als denjenigen, der die Regeln dadurch bricht,
dass er mit zwei Töchtern gleichzeitig ein Verhältnis führt und Adela, die
Jüngste, die aus den verkrusteten Strukturen ihrer Gesellschaft auszubrechen
versucht und deren letztes Mittel zur Flucht der Selbstmord bleibt.
Hedda Gabler hat sich von ihrem Leben in erster Linie
ökonomische Sorglosigkeit und ein selbständiges Leben erwartet. Ihre
eigentlichen Neigungen gehörten einem Leben voller unkonventioneller Freiheiten,
wie sie in Lövborg repräsentiert sind. Nur wegen der Aussicht auf soziale
Sicherheit hat sie den älteren Tesmann geheiratet, der sie, aus den
Flitterwochen zurückgekehrt, nie angemessen behandelt: er will sich nicht um
sie kümmern und reduziert den „Paradiesvogel Hedda“ zum Prototypen der in der
Ehe unterdrückten Frau. Damit führt er einerseits die Soziologie des Vaters
fort, andererseits verletzt er Hedda in ihrem verhinderten Streben nach
Persönlichkeit und Selbstbestimmtheit derart, dass sie Amok läuft und
schließlich ebenfalls nur den Selbstmord als einzige Möglichkeit sieht, ihrem
Zustand als Eingeschlossene zu entkommen.
Miss Julie schließlich zerbricht ebenfalls an den
autoritären Strukturen einer Gesellschaft, die eindeutig Klassen definiert und
Recht und Macht sehr ungleich auf die Generationen verteilt. Zwar ist der
Unterschied zwischen Julie und Jean einerseits das Zentrum ihrer gegenseitigen
Anziehung, denn Julie wünscht sich masochistische Unterwerfung und damit Abkehr
von ihrer gesellschaftlichen Oberschichtstellung, und Jean lebt sadistisch
seinen plötzlichen Machtaufstieg Miss Julie gegenüber aus. Andererseits aber
lässt die Gesellschaft eine Änderung der Verhältnisse nicht zu: jeder bleibt
da, wo er steht. Freie Entscheidung wird nicht zugelassen. Dieser Druck lässt
schließlich Miss Julie zerbrechen; auch ihr bleibt als einziger Ausweg der
Selbstmord. Die berühmte Hypnose-Szene am Ende entstammt Strindbergs
langjährigem Interesse an Psychologie und Okkultismus. Hier ist die Hypnose
Ausdruck absoluter Autorität des Grafen, dessen Autorität durch seine
Abwesenheit umso deutlicher und allgegenwärtiger wird. Seine Macht zeigt sich
im Klingeln der Glocke, in der Bewegung des Sprachrohrs und, ganz wichtig, in
den Anweisungen zu den Handlungen der Darsteller: Miss Julie bittet Jean in
Ermangelung des Willens zum Selbstmord, sie zu hypnotisieren und Jean fehlt der
Wille, sie zu beherrschen und gibt vor, der Graf selbst zu sein, der ihr
Anweisungen gibt. Die magische Kraft des Grafen führt Julie in den Tod und sie
lähmt Jean durch die Gegenwart der Attribute seiner Macht (die Stiefel, die
Glocke etc.).
Dieselbe hypnotische Wirkung der Gesellschaft in „Hedda
Gabler“ lässt Lövberg seinen Intellekt mit Drogen betäuben, lässt Hedda zuletzt
dem Verzweifelten zureden, „in Schönheit“ Selbstmord zu begehen, lässt Brack
Hedda erpressen und sie letztlich damit in den Selbstmord zu führen.
Auch Bernarda Alba ist hypnotisiert von längst überholten
Ehrbegriffen einer tyrannischen Familientradition. Menschlich Selbstverständliches
ist längst unter Verlogenheit und Tabus erstickt. Gebetsmühlenartig macht die
Hausherrin ihren Töchtern klar, dass kein Gefühl, keine menschliche Regung
wichtig ist vor dem Ansehen des Hauses. Ihre Hypnose wirkt auch auf die
Töchter, die eine Aussteuer sticken müssen für eine Hochzeit, die nie
stattfinden wird, und die von drückender Hitze, Langeweile und der absurden
Arbeit für die Aussteuer der Ältesten paralysiert sind, bis die Jüngste
ausbricht und ihren Gefühlen nachgibt, jedoch sehr schnell von der Allmacht der
Gesellschaft in Form der archaischen Mutter eingeholt und zerstört wird.
So findet sich in allen drei Werken dasselbe Motiv wieder:
das eingesperrte, das ungelebte Leben, dessen persönliches Glück durch die
Allmacht des gesellschaftlichen Regelwerks von Anfang an unmöglich ist, weil
ungehinderte Sinnenentfaltung und individuelle Freiheit in einer Gesellschaft,
die sämtliche Schaltstellen der Macht besetzt, keinen Platz finden. Der
Einzelne hat entweder seinen Platz als Eingeschlossener zu finden und zu
akzeptieren, oder er hat seinen Platz zu räumen, notfalls durch die totale
Vernichtung der individuellen Existenz.