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Referat
Romanistik

Karl-Franzens-Universität Graz - KFU

3, Knaller Susanne, 2015

Sofie E. ©
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ID# 53133







Das Modell der Divina Commedia

und dessen Rezeption in Primo Levis Autobiographie Se questo è un uomo

  1. Typologien des Erzählens (FLORI)

Erzähltypologie nach Franz Stanzel (Modus, Person, Perspektive)

Laut Stanzel sind die drei Kategorien für Erzählsituationen – Modus, Person und Perspektive – nicht binär, sondern ein Möglichkeitsspektrum von Erzählsituationen. In der Autobiographie Se questo è un uomo ist Primo Levi demnach die Erzählerfigur (Modus), weiters handelt es sich um eine Ich-Erzählsituation (Person), d.h. Levi gehört zur Welt der Figuren und erlebt, miterlebt und beobachtet das Geschehen aus einer Innenperspektive (Perspektive).

Erzähltypologie nach Gérard Genette (Stimme  Wer spricht?)

In der Autobiographie Se questo è un uomo ist Primo Levi die Hauptfigur, die an der erzählenden Welt teilnimmt und daher ein homodiegetischer Erzähler. Die Einordnung als autodiegetischer Erzähler, der als Hauptfigur aus der Ich-Perspektive aus seiner eigenen Welt erzählt wäre demnach ebenso möglich, da es sich um einen autobiographischen Bericht handelt.

Parallelismus zwischen Divina Commedia und Se questo è un uomo

Obwohl es sich bei diesen zwei Werken um zwei gegensätzliche Werke - Divina Commedia als eine fiktionale Erzählung und Se questo è un uomo als eine realitätsbezogene Autobiographie – handelt, ist dennoch ein Parallelismus feststellbar. In der Divina Commedia schlüpft Dante Alighieri in die Rolle der Hauptfigur und durchquert die drei Jenseitsreiche: Hölle, Purgatorium und Paradies.

Dante ist – wie Primo Levi – ein homo- bzw. autodiegetischer Erzähler, des Weiteren sind eine Ich-Erzählsituation, eine Innenperspektive und eine Erzählerfigur vorzufinden.


  1. Testimonio - Literarisches Zeugnis ()

Primo Levi – emotionsloses und wertfreies literarisches Zeugnis

Das Bemühen Levis, sich nicht von bloßer Anklage und Verurteilung hinreißen zu lassen, wird von Anfang an in seiner Autobiographie, wo er als Ich-Erzähler auftritt, deutlich. Er möchte das Entsetzten der Konzentrationslager- und Vernichtungslager literarisch und gedanklich auf Distanz bringen. Im Vorwort formuliert er sein Ziel: die vorurteilslose Analyse menschlicher psychologischer Dispositionen: die Disposition der Individuen und der Gemeinschaft, in jedem Fremden einen Feind zu sehen und die psychische und physische Vernichtung der «anderen» als Endziel.

In seiner Autobiographie sind weder Emotionen, wie Hass, Groll und Rachsucht gegenüber den Deutschen vorzufinden, was unter anderem auf das nationalsozialistische System zurückzuführen ist, denn diese hatten den direkten Kontakt zwischen den Häftlingen und den deutschen Herren auf das Minimum reduziert. Das tagebuchartige Erzählwerk ist wertfrei geschrieben und soll eine Dokumentation des Geschehenen für »die anderen« sein.

Vielmehr spielt bei Primo Levi sein Bedürfnis, sich das Geschehene und Erlebte „von der Seele zu schreiben“, eine wichtige Rolle. Er möchte das Trauma des Lagers bewältigen und eine Antwort auf die im Titel vorgegebene Frage finden, was unter solchen Bedingungen noch an Menschlichem bleibt:

Voi che vivete sicuri

Nelle vostre tiepade case,

Voi che trovate tornando a sera

Il cibo calde e visi amici:

Considerate se questo è un uomo

Che lavora nel fango

Che non conosce pace

Che lotta per mezzo pane

Che muore per un sí o per un no.

Considerate se questo è una donna,

Senza capelli e senza nome

Senza piú forza di ricordare

Vuoti gli occhi e freddo il grembo

Come una rana d’inverno.


Dante Alighieri – emotionsvolle Epik

Die Divina Commedia von Dante Alighieri ist – im Gegensatz zu Primo Levis wertfreien und emotionslosen, literarischen Zeugnis des Diesseits – ein emotionsvolles literarisches Zeugnis des Jenseits, so z.B. am Ende des Canto V, wo Dante im Inferno vor lauter Mitleid ohnmächtig wird.

 die weinenden und erzählenden Seelen Lanzelott und Geneva:

Mentre che l’uno spirto questo disse,

l’altro piangea; sì che die pietade

io venni men così com’io morisse.


E caddi come corpo morto cade.

(Inferno, Canto V)


  1. Intertextualität zwischen allegorischer Epik und realitätsbezogener Autobiographie (FLORI)

    1. Symbolik der Frösche in Dantes Inferno und jene der Kröten in Levis Gedichts

Die Rezeption der allegorischen Figur des Frosches aus Dantes Divina Commedia in Primo Levis Se questo è un uomo ist bereits im einleitenden Gedicht, welches dem ersten Kapitel seiner Autobiographie vorangestellt ist, ersichtlich. Levi stellt die Häftlinge wie Kröten im Winter dar. Dante führt in seiner Divina Commedia – aber nur innerhalb des Infernos – die Frösche in zwei wichtigen Passagen ein, worauf Primo Levi wohl einen intertextuellen Bezug gemacht hat:

  1. Im 22. Gesang (Inferno), im Pechgraben der Staatsbetrüger:

E come al’orlo de l’acqua d’un fosso

sì che celano i piedi e l’altro grosso,


sì, stavan d’ogne parte i peccatori.


  1. Im 32. Gesang (Inferno), am Strafort der Verräter, wo die Verdammten wie Frösche im Eissee des Kozytus zusammenströmen:

E come a gracidar si sta la rana

col muso fuor de l'acqua, quando sogna

di spigolar sovente la villana,


livide, insin là dove appar vergogna

eran l'ombre dolenti ne la ghiaccia,

mettendo i denti in nota di cicogna.

Die Ähnlichkeit im 22. und 32. Gesang ist offensichtlich: die Frösche sind hier eine Allegorie bzw. eine Symbolik für die Verdammten – Staatsbetrüger und Verräter. Die Personifizierung der Frösche aus Dantes Commedia in Levis Gedicht ist hier eindeutig, denn Primo Levi bezeichnet die Häftlinge des Lagers Buna-Monowitz als Kröten – aus einem sehr plausiblen Grund: die KZ-Häftlinge sowie Primo Levi waren Verdammte des Diesseits – politische Gegner, Staatsverbrecher des deutschen Reichs, Angehörige der Partisanengruppen und viele andere.

Primo Levi bezeichnet das gesamte Konzentrationslager in Buna-Monowitz (Ausschwitz III) als Schauplatz der Hölle und bringt es mit Dantes Inferno in Korrelation aus verschiedenen Gründen:

Nationalsozialistischen Parole „ARBEIT MACHT FREI“

Die nationalsozialistische Parole „Arbeit macht frei“ auf dem Schild oberhalb des großen Eingangstors in das Konzentrationslager Ausschwitz III wiederholt mit einer grauenvollen Ironie Dantes Vers im Canto III des Inferno:

Lasciate ogni speranza, voi ch‘entrate.

(Canto III, Inferno)


Dante und Vergil betreten die Hölle bzw. einen Vorraum der Hölle wo über dem Höllentor dieser relativ gleichbedeutender Spruch „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden!“


Il canto di Ulisse

Das 11. Kapitel (Il canto di Ulisse) ist vollkommen dantisch, denn Levi möchte den Elsässer Pikolo Italienisch beibringen und nutzt dazu den noblen Gesang in Dantes Inferno, Il canto di Ulisse (Canto XXVI):


Considerate la vostra semenza:
fatti non foste a viver come bruti,
ma per seguir virtute e canoscenza.

(Canto XXVI, Inferno)


Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen:
Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere,
Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten.

(26. Gesang, Hölle)


Dieser 26. Gesang aus Dantes Inferno spielt im 11. Kapitel der Autobiographie Levis eine bedeutende Rolle, denn der religiöse Aspekt der Divina Commedia kommt in diesem Gesang äußerst stark zur Geltung, weil es für Levi wie Gottes Stimme erscheint, die durch ihn spricht. Einen Moment lang vergisst, wer er ist und wo er sich befindet, denn dies lässt ihn einerseits daraus einen kleinen Funken von Überlebenswillen schöpfen, andererseits wird Primo Levi erneut bewusst, dass er und alle anderen Häftlinge zu Tieren gemacht worden sind und auch so behandelt werden, aber trotzdem sollten sie ihre Menschlichkeit nicht aufgeben bzw. sich nicht entmenschlichen lassen und nach Tugend (Tapferkeit) trachten.

(Canto XXVI, Inferno)


Dreimal im Kreis mit allen Wassern rollte:

Beim vierten risse r hoch das Heck, den Bug er

Tauchte, wie eine andre Macht es wollte.

(26. Gesang, Hölle)


Erneut kommt in diesem Teil des Verses «come altrui piacque» der religiöse Aspekt zum Vorschein, denn er erkennt, dass etwas Gigantisches darin liegt und das mögliche Warum ihrer Verfolgung und Einweisung in das Konzentrationslager:

„[…]prima che sia troppo tardi, domani lui o io possono essere morti, o non vederci mai piú, devo dirgli, spiegargli del Medioevo, del così umano e necessario e pure inaspettato anacronismo, e altro ancora, qualcosa di gigantesco che io stesso ho visto ora soltanto, nell’intuizione di un attimo, forse il perché del nostro destino, del nostro essere oggi qui…“ (Levi 2014:112)



Zwischen den realen Nationalsozialisten und den Häftlingen sowie zwischen den fiktiven Schlangen und fiktiven Verbrecher in Dantes 7. Höllenkreis besteht ein weitere Parallele, weil im inferno dantesco die Diebe und Räuber von den Schlangen angegriffen werden und durch deren Bisse zu Asche zerfallen. Einige hingegen verschmelzen mit den höllischen Schlangen. All diese fiktiven Gegebenheiten werden in Levis autobiographischen Text in die Realität umgesetzt.

Folgende Personifizierungen und allegorische Figuren wären bei Primo Levi möglich:

  • Die Schlange als allegorische Figur für die Nationalsozialisten.

  • Die dantischen Diebe und Räuber, die durch die Schlangenbisse zu Asche zerfallen, sind eine Allegorie für die im Krematorium verbrannten Häftlinge aufgrund der Selektion durch die Nationalsozialisten.

Ahi Pistoia, Pistoia, ché non stanzi

d'incenerarti sì che più non duri,

poi che 'n mal fare il seme tuo avanzi?

(Canto XXV, Inferno)


Warum gehst du von selbst nicht auf in Flammen,

Pistoja, einzuäschern all die Brut,

Draus deiner Frevler Freveltaten stammen?

(25. Gesang, Hölle)

Die allegorische Figur Kerberos (Cerberus)

Kerberos (Sohn des Typhon und der Echidna) ist in Dantes Divina Commedia der Höllenhund mit drei Köpfen am Eingang des dritten Höllenkreises (Canto VI). Er lässt jedermann in die Hölle (Inferno) rein, aber niemanden zurückkehren, bewacht und heult „wie ein Hund“.

Cerbero, fiera crudele e diversa,

con tre gole caninamente latra

sovra la gente che quivi è sommersa.


In Primo Levis Autobiographie wäre die Ankunft der Häftlinge im KZ Auschwitz mit der Ankunft im inferno dantesco gleichzusetzen, denn er nennt das Lager die Hölle. Der fiktive Höllenhund Kerberos in Dantes Divina Commedia könnte als eine allegorische Figur für die Deutschen verstanden werden, denn diese bewachen, befehlen und kommandieren in einem barbarischen Gebell (vgl. der bellende Höllenhund):

„La portiera fu aperta con fragore, il buio echeggiò di ordini stranieri, e di quei barbarici latrati dei tedeschi quando comandano, che sembrano dar vento a una rabbia vecchia di secoli.“ (Levi 2014:11)


  1. Rezeption der Divina Commedia zur Zeit des Neorealismus (

  1. Volkstümlichkeit und Volksnähe in der Thematik, in der Wahl des Helden und ihren Verhaltensweisen sowie in ihrer Sprache

  • Levi schreibt die Autobiographie u.a. auch für die «anderen», damit die anderen daran teilnehmen können

  1. Perspektive des Autors ist bestimmt durch Liebe zum Volk, durch Vertrauen in die Werte und die Aufrichtigkeit des Kollektivs

  2. Themen und Ereignisse des kollektiven Widerstandes aus Krieg, Resistenza und Partisanenkampf

  • Levi behandelt genau diese Thematik in seiner Autobiographie

  1. Möglichst unmittelbare und konkrete Wiedergabe der aus nächster Nähe gesehenen Ereignisse

  • Levi beschreibt wertfrei und vorurteilslos sein Aufenthalt im Lager

  • Dialoge kommen zwar nicht sehr oft vor, sind dennoch anzufinden

  1. Verwendung einer Umgangs- und Alltagssprache mit Dialektismen, um die Volksnähe zu dokumentieren

  • Plurilinguismus ist im Lager fundamental und alltäglich: Deutsch und Polnisch als Sprache der Nationalsozialisten sowie Jiddisch (jüdisch-deutsch), Russisch, Französisch, Italienisch, Spanisch usw. als Sprache der Deportierten. Weiters findet man verschiedene Varietäten und Dialektismen sowie ein Jargon der Häftlinge.


Die Gründe für die Rezeption der Divina Commedia in Primo Levis neorealistischer Autobiographie Se questo è un uomo könnten folgende sein:

Dante als politischer Dichter

Dante war jahrelang im Dienste der Vaterstadt Florenz politisch tätig. Er gehörte zu den Weißen Guelfen, die – im Gegensatz zu den Schwarzen Guelfen – sich die Einigung Italiens nicht unter der Führung des Papstes, sondern unter dem Zepter eines norditalienischen weltlichen Fürsten vorstellen. Ab er auch bei den Weißen Guelfen sieht er Fehler und lässt sie in der Hölle ihre Strafe finden, weiters begegnet er aber auch Schwarzen Guelfen im Paradies.

Der Grund, warum Primo Levi in seiner Autobiographie Dantes Göttliche Komödie – ein politischer Text – rezipiert, könnten demnach die politischen Themen seiner Zeit sein: Partisanenkampf, Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus und das Leben der Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Divina Commedia – bedeutendste Dichtung der italienischen Literatur

Dantes Divina Commedia gehört zur bedeutendsten Dichtung der italienischen Literatur, weiters ist es auch eines der größten Werke der Weltliteratur. Die Rezeption der Göttlichen Komödie wäre demnach nachvollziehbar, vor allem aus der Perspektive eines Italieners, wie Primo Levi.


Allegorien in der Divina Commedia

Dantes Wortschatz

Primo Levi macht in seiner Autobiographie für die Beschreibungen des Konzentrationslagers und das Leben darin – neben dem Plurilinguismus – von Dantes Wortschatz Gebrauch: „inferno“, „infernale“, „antinferno“, „limbo“ (La vita di Ka-Be è vita di limbo.). Der Grund dafür könnte jener sein: Dantes Wortschatz aus dem Inferno ist für die Beschreibung des Konzentrationslagers als die Hölle auf Erden wohl am geeignetsten.

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