Das Kaugummi als Werkstoff und Kunstobjekt
- Von der Kausubstanz zum Kult- und Kunstobjekt -
Hausarbeit
M. Grerhard
Inhaltsverzeichnis:
- Einleitung Seite
01
- Das Kaugummi zwischen (Un-)
Kultur und Kunstobjekt Seite 02
2.1 Zur Geschichte der weichen Kaumasse Seite
02
2.2 Kult- und Kunstobjekt Seite
03
- Das Kaugummi als Werkstoff und
Basis künstlerischer Arbeit Seite 05
3.1 Das Kaugummi als Material Seite
05
3.2 Das Kaugummi in der Unterrichtspraxis Seite
07
- Ästhetische
Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Kaugummi Seite
09
- Resumee Seite
11
- Literaturliste Seite
13
- Anhänge Seite
14
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1. Einleitung:
Das Kaugummi
selbst und das Kauen eines solchen, zählen nicht zuletzt aus eigener Erfahrung
zu den Dingen des Alltagslebens, die in der Schule generell als wenig
erwünschte Erscheinungen betrachtet werden können. Speziell im Unterricht ist
das Kaugummikauen unter den Lehrkräften verpönt, in der Regel durch die Schulordnung
gänzlich untersagt. Somit birgt das Kaugummikauen, inklusive der damit nicht
selten einhergehenden schmatzenden Geräusche ein gehöriges Konfliktpotential in
sich.
Um mit und um
das Lebensmittelprodukt Kaugummi einen künstlerischen Prozess unter den
Schülern zu generieren, gilt es dieses Spannungsverhältnis zu überwinden und
institutionelle Regeln und Normen für einen begrenzten Zeitraum zu brechen. Das
dies jedoch mit unbeabsichtigten und ärgerlichen Folgeerscheinungen verbunden
sein kann, insbesondere wenn der Weg allzu direkt zur Kunst führt, spiegelt
sich in der folgenden Nachricht vom 02.03.2006 wider:
„Beim
Klassenausflug kann man schon mal auf alberne Ideen kommen. Für einen
amerikanischen Schüler gipfelte eine solche jetzt sogar in einem Schulverweis:
Der Zwölfjährige hatte im Museum [in Detroit] seinen angelutschten Kaugummi auf
ein Gemälde [von Helen Frankenthaler] geklebt. Ein Museumswärter bemerkte die
süße Kaumasse auf dem Kunstwerk [„Die Bucht“], nahm die Verfolgung der
Schulklasse auf und stellte den jungen Kunstbanausen zur Rede. Dieser gestand
die Tat sofort. Dass das Gemälde, das er mit seinem Kaugummi verzierte, 1,5
Millionen Dollar wert war, war dem Schüler nicht bewusst. Die klebrige Masse
hinterließ einen unübersehbaren Fleck auf dem modernen Kunstwerk, der nun mit
Hilfe von Reinigungsmittel entfernt werden muss. Nach dem Schulverweis und
hoher Rechnung hat der zwölfjährige seine Lektion beim Museums-Besuch gelernt:
Kaugummi ist keine moderne Kunst!“
Das ein Kaugummi
in seiner primären Funktion vielleicht weniger mit Kunst in Verbindung zu
bringen ist erscheint eindeutig. Jedoch gibt es eine Vielzahl von Künstlern,
die sich intensiv in ihren Arbeiten mit dem Kaugummi auseinandersetzen.
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Im Zentrum der
vorliegenden Arbeit steht in Kapitel 3 die analytische Betrachtung einer auf
den ersten Blick eigentümlich anmutende Verwendung der Kaumasse als Werkstoff
und Ausgangsbasis einer künstlerischen Auseinandersetzung in der ästhetischen
Bildung.
Vorab liefert
Kapitel 2 in einem knappen Abriss einen Einblick in die Geschichte der weichen
Kaumasse, geht zudem auf deren Verbreitung in der Welt und ihrer Bedeutung für
die Menschen ein; befasst sich insbesondere mit seiner Stellung als Kult- und
Kunstobjekt.
Kapitel 4
beschreibt unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten für Schüler in der künstlerischen
Praxis mit der weichen Kaumasse. Im Anhang werden einige Werke von Künstlern
sowie Schülerarbeiten aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen der Alexander von
Humboldt Schule in Giessen präsentiert. Abgerundet wird die Arbeit in Kapitel 5
mit einem kurzen Resumee und einer Reflexion persönlicher Erfahrungen, die in
bisherigem Umgang mit dem Werkstoff „Kaugummi“ in den unterschiedlichen Klassen
und einer Kunst AG in oben genannter Schule gemacht wurden.
2. Das
Kaugummi zwischen (Un-) Kultur und Kunstobjekt
Folgender
Abschnitt befasst sich in knappen Zügen mit der Geschichte der weichen Kaumasse
und mit deren Entwicklung hin zu einem Kult- und Kunstobjekt, da sich
insbesondere hier unterschiedliche Anknüpfungspunkte ergeben, die in einem
Unterrichtskonzept motivierend eingesetzt werden könnten, wie zum Beispiel das
Sammeln unterschiedlicher Kaugummisorten oder des jeweiligen
Verpackungsmaterials dieser.
In welcher Form
solch geschichtlichen Aspekte als Auslöser/ motivierende Anregung zur praktischen
Auseinandersetzung dienen können, wird im Einzelnen weiter unten ausgeführt.
2.1 Zur
Geschichte der weichen Kaumasse
Das Kauen
gummiähnlicher Stoffe ist nicht neu in der Geschichte der Menschheit. Bereits
seit Uhrzeiten werden aus Substanzen wie (Baum-) Harzen oder aus Latex weiche
Kaumassen hergestellt und unter anderem zur Reinigung der Zähne oder
Erfrischung des Atems gebraucht.
-3-
Ausgrabungen von
Archäologen brachten den bislang ältesten Kaugummifund zu Tage. Das Stück wurde
in einer Siedlung in Südschweden entdeckt und sein Alter wird mit 9000 Jahren
beziffert.
Weitere Funde
belegen, dass „auf allen Kontinenten der Erde, in allen Kulturen, über alle
Epochen hinweg“
die Kaumasse zum Alltag der Menschen gehörte. Die alten Griechen kauten vor
rund 2000 Jahren Substanzen des Mastix Baums, die Indianer Nordamerikas griffen
zurück auf Fichtenharz und die Mayas aus Mittelamerika kauten „Chicle“, einen
eingedickten Saft des Sapotillbaums.
Die uns in ihren
heutigen Formen bekannte und vertraute Kaumasse hat ihren Ursprung in der Mitte
des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und erlangte seine Verbreitung
in Europa mit dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten im 2. Weltkrieg. Die
frühen Klassiker Wrigley’s Spearmint, Doublemint, Big Red und Juicy Fruit
erreichten in den 50er Jahren, auch in Deutschland, bedeutende Verkaufserfolge.
Neue Marken, die
neben den bereits Genannten den Markt eroberten, sind unter anderem Orbit, Hubba
Bubba, Airwaves, etc. Auch sie sind neben vielen Anderen aus dem heutigen Sortiment
an Kaugummis nicht mehr wegzudenken.
Einen
beachtlichen Anteil an der weiten Verbreitung und Erfolgsgeschichte des
Kaugummis ist der Firma Wrigley zuzuschreiben. Unter anderem war es William Wrigley,
der als einer der ersten Geschäftsunternehmer überhaupt in Zeitungen, Magazinen
und auf Plakaten warb, aufwendige Verpackungsverfahren entwickelte und somit
für eine professionelle Vermarktung seiner Produkte sorgte.
2.2 Kult- und Kunstobjekt Kaugummi
In Folgendem
stehen Wandlungen des Kaugummis vom Kult zum Kunstobjekt im Blickpunkt.
Unbestritten zählt das Kaugummi neben Rock`n Roll, Pop, Jeans und Coca-Cola zu
den Alltagsobjekten, die lange Zeit ein amerikanisch inspiriertes Lebensgefühl
symbolisierten.
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Nicht zuletzt
dieser mit dem Kaugummikauen, insbesondere in den 50er und 60er Jahren verbundene,
durch die Werbung suggerierte und bis heute transportierte „New Way of Life“
trug und trägt noch immer zu einem Spannungsverhältnis zwischen Kauenden und
diesen Vorgang schmähenden Menschen bei.
Vor allem Kinder
und Jugendliche kauten und kauen die zuckrig süße Masse gerne. Ob damit auch
heute noch der „American Spirit“ verbunden werden kann oder darf, möchte ich an
dieser Stelle bezweifeln. Trotzdem wäre darüber zu diskutieren in welcher Art
und über welchen Zeitraum mit dem Kauen eine Form von Aufbegehren oder gar
revolutionäre Gedanken von Jugendlichen verbunden waren bzw. noch sind.
Auf jeden Fall
ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Kaugummi und das lässige Kauen für
viele, nach der Verbreitung durch die US Armee nach dem Zweiten Weltkrieg, als
amerikanische Unkultur definiert und als solche „gebranntmarkt“ wurde.
Zu einer Art „kultigem“
Objekt kann die ausgelutschte Kaumasse unter Umständen werden, wenn sie oder
ihre Überreste einer Berühmtheit oder besonderen Begebenheiten zuzuordnen sind.
So wurden im Internetauktionshaus Ebay die ausgespuckten Kaugummis von Jens Lehmann
oder Franz Beckenbauer gehandelt. Wodurch die beiden Sportberühmtheiten
unbewusst zu Createuren echter und einmaliger Kultobjekten mutierten und ihre
Abfallprodukte zu Zeitzeugen persönlicher Befindlichkeiten wurden, die
Gefühlsregungen in Form von mehr oder weniger intensiven Gebissabdrücken
transportieren.
Erstaunlich
wirken die Preise, die mit der Versteigerung erzielt bzw. zu erzielen versucht
wurden. Lehmanns „Werk“ erlangte einen Verkaufspreis von 608,00 Euro. Der
Startpreis für Franz Beckenbauers „eingefrorene“ Gebissabdrücke betrug 4999,00
und der Sofortkaufpreis 9999,00 Euro und erzielte letztlich einen Kaufpreis von
5050,00 Euro
Neben dem
gestalterischen Kauprozess werfen auch die Preise Parallelen zur Kunst, eher
aber zum Kunstmarkt auf. Die gehandelten Objekte verharren aus meiner Sicht
jedoch auf der Ebene eines Kultstatus, da sie nicht in künstlerischer Absicht
entstanden und somit als Zufallsprodukte anzusehen sind. Wobei allerdings hier
angemerkt sei, dass gerade der Aspekt der Zufälligkeit im künstlerischen Akt
von nicht zu vernachlässigenden Bedeutung ist.
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Auf der Ebene
von Kunstobjekten sind die Werke/ Arbeiten der Künstler, welche an dieser
Stelle lediglich in tabellarischer Form aufgeführt werden, anzusiedeln:
Biefer, Marcel ( )
Friedman, Tom
Harben, Ben ( )
Kronenwald, Jason ( )
Savini, Maurizio
Schwander, Markus
Szapocznikow, Alina
Auf die Künstler
selbst und ihre Arbeiten wird weiter unten noch näher eingegangen. Einige
Objekte sind den Anlagen beigefügt, bzw. sind unter oben angeführten Links im
Internet zu betrachten (Tipp: Bubblegum Alley in San Luis Obispo, siehe: youtube)
3. Das Kaugummi als Werkstoff
und Basis künstlerischer Arbeit in der ästhetischen Bildung
Unter den oben
genannten Künstlern wird das Material Kaugummi zumeist gezielt zur Gestaltung
kunstvoller Objekte eingesetzt. Ob dabei die Form des Kaugummis welches den Mundraum
gerade verlassen hat beibehalten wird, oder ob das Kaugummi als Masse das
Auftragen von Farbe auf Leinwänden ersetzt, oder es in skulpturale Objekte
verwandelt wird, spiegelt dabei die Vielfalt seiner Einsatzmöglichkeiten, aber
auch den Ideenreichtum der Künstler wider. Mit einer Einordnung des Kaugummis
in bestehende Materialordnungen und seiner Einbettung in den Kunstunterricht
beschäftigen sich die nächsten Punkte.
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3.1 Das Kaugummi als Material
Die weiche
Kaumasse bietet sich in ähnlicher Weise wie Ton als formbares Basiselement und
Grundstoff für gestalterische Prozesse an. Wie dieser ändert sich die Konsistenz
des Materials mit der Zeit.
Zu Beginn noch
dehnbar und nachgiebig, wird es spröde und brüchig. Was im Arbeitsprozess und
Umgang mit Ton jedoch durch die Zugabe von Wasser leicht vermieden werden kann.
Die träge Kaugummimasse ist wie dieser, je nach künstlerischem Ziel/ Vorhaben
vorab formbar zu machen. Im Vergleich zu Ton schmeckt das zähe Zeug aber, macht
Appetit auf mehr, ist anpassungsfähiger und ermöglicht zudem die Fertigung von
Blasen.
In einer
hierarchischen Materialordnung dürfte das Kaugummi als Werkstoff bei den wenigsten
eine ähnliche Bedeutung bzw. Stellung wie Marmor, Gold etc. erlangen können.
Zudem erscheint eine eindeutige Zuordnung der Kaumasse in eine bestimmte
Materialgruppe eher schwierig. Man könnte sie aufgrund der Materialeigenschaft
Kautschuk (Gummi) zuordnen, ebenso aber auch der Gruppe von Nahrungsmitteln,
obgleich der Nutzen bezüglich einer Sättigung nicht vorhanden ist.
Die Dehnbarkeit
und Spannkraft des Materials verweist auf seine potentielle Beweglichkeit. Wie
bei der Verwendung von Kautschuk durch Künstler wie Naumann, Serra und Saret,
die sich mit den unterschiedlichen Stadien des entropischen Zurücksackens eines
ehemals beanspruchten Materials beschäftigten,
könnte genau dies einen Ansatzpunkt des künstlerischen Prozesses mit dem
Kaugummi bilden. Unterschiedliche Stadien der Dehnung oder des Zurücksackens
könnten fotografisch festgehalten werden. Diese Bilder könnten anschließend z.
Bsp. digital weiter bearbeitet werden, aber auch Ausgangspunkt zeichnerischer
Studien bilden.
Zugleich erfolgt
durch den spielerischen Umgang mit dem Lebensmittelprodukt, durch Umherwerfen,
Verschmieren oder Zerkauen etc. eine Auflösung körperlicher Grenzen. Spuren der
Kaubewegung oder Finger- und Schuhabdrücke zeichnen sich auf der Oberschicht
der Kausubstanz ab. Beim Kauen werden körpereigene Strukturen, Substanzen
(Zahnoberfläche, Speichel) in der Kaugummioberfläche eingeprägt bzw. in dem
Objekt selbst absorbiert. Diese Prägungen und Spuren können als individuelle
Merkmale eines jeden Einzelnen den jeweiligen Körper verlassen.
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Das zerkaute
Produkt wird zum Unikat körperlicher und zeitlicher Spuren. Während des Kau-
und Gestaltungsprozess nimmt der Körper die rohe Substanz auf, überführt sie in
Energie und macht diesen Vorgang durch den Akt des Ausspuckens des Objektes
wieder rückgängig.
In der
Auseinandersetzung mit der Kaumasse lassen sich Anknüpfungspunkte und Zugangsmöglichkeiten
an Materialaktionen von Künstlern wie Schneeman oder McCarthy entwickeln, denn
auch in der künstlerischen Arbeit mit dem Kaugummi verschwindet dieses als Nahrungsmittel
nicht im Verdauungstrakt, sondern wird spätestens in solchen Arbeiten, wie in
denen von Harben oder Kronenwald zwar nicht in gleicher Intensität, aber doch
auch „lustvoll“ verschwendet.
3.2 Das
Kaugummi in der Unterrichtspraxis
Die Schüler zur
künstlerisch – praktischen Auseinandersetzung mit dem Kaugummi zu motivieren
erscheint auf den ersten Blick relativ einfach, da nun im Unterricht offen und
hemmungslos auf der süßen Zuckermasse herumgekaut werden darf. Was aber soll
der Einzelne mit seinem Kauprodukt als praktisches Endergebnis anstreben?
Schwierig
gestaltete sich in einer Vorbesprechung der Versuch, den Schülern das
Kauprodukt an sich als Kunstobjekt näher zu bringen. Allein durch Betrachtung
von Szapocznikows skulpturalen Objekten waren kaum, bis keine
Motivationsmomente unter den Schülern hervorzurufen. Insbesondere in einer
eingehenden Diskussion über die fotografierten Objekte wurden schnell Stimmen
unter den Schülern laut, die diese Arbeiten nicht als Kunstobjekte betrachten
mochten.
Nicht nur unter
den Schülern, auch in einschlägigen Diskussionsforen zur documenta XII stellen
viele mit Äußerungen wie: „[...] da stellt eine Künstlerin die erstaunliche
„Plastizität“ von Kaugummi fest, dass der immer wieder neu aussieht, wenn man
ihn aus der Gosche nimmt, und deshalb bappt sie diese Klumpen auf ein Mäuerchen
und fotografiert sie.
Ja, mein Gott,
wäre das Zeug nicht plastisch, hätten sich Millionen von Amis die Zähne ausgebissen
[...]“,
die Arbeiten in Frage.
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Erst als
Vergleiche angestellt wurden, zu den ausgespuckten Stücken von Lehmann und Beckenbauer,
waren einige Schüler der Ansicht, dass zwischen diesen und den als Kunst präsentierten
Objekten unterschieden werden muss.
Sie verwiesen
darauf, dass sich die Künstlerin mit dem Material und auch seinen Eigenschaften
bewusst und intensiv auseinandergesetzt habe. „Das machen die Künstler doch
auch mit anderen Materialien, wie Farbe und so!“
Die Vergleiche
zwischen dem Kaugummi als banalem achtlos weggeworfenem Kauobjekt bzw.
Abfallprodukt von Menschen und der angeführten Äußerung einer Schülerin
lieferten den Ansatzpunkt für erste praktische Arbeiten, in denen die Schüler
alten eingestampften Kaugummis auf dem Schulhof ein Gesicht geben sollten,
welches das Gefühl von imaginären Personen widerspiegelt, die den ganzen Tag
einer unzähligen Menge an Schuh- und Fußtritten ausgesetzt sind.
Bild 01 zeigt im
Anhang ein trauriges Gesicht, der Kaugummi weint vor Schmerzen. Bild 02
hingegen zeigt ein ärgerliches Kaugummi, welches bedrohlich nach oben schaut,
so Passanten abschrecken will weiter auf ihm herumzutrampeln. Bild 03 zeigt ein
Kaugummi welches vor Kopfschmerzen fast platzt.
Als besonders
witzig und gelungen empfand ich die Arbeit (SW Bild 04) in der eine Schülerin
alte und neue Kaugummis kombinierte. „Auf das süße Schäfchen tritt niemand, und
wenn doch hat es jetzt Beine zum Weglaufen.“ Die Arbeiten wurden von den
Schülern selbst fotografiert.
Das Thema
„Gefühle“ wurde in weiteren Arbeiten mit dem Kaugummi intensiviert/ ausgebaut.
Es ging darum Empfindungen mit dem Material Kaugummi in freien Arbeiten zu transportieren.
Es entstanden unter anderem Blumen wie in Bild 05, die Liebe und Zuneigung
symbolisieren sollten.
Weniger komplex,
jedoch nicht weniger ideenreich und eindrucksvoll präsentieren sich so genannte
„Liebesperlen“ (Bild 06) aus Kaugummi. Bild 08 zeigt nach Angaben des Schülers
zwei traurige Kaugummis, die gerne so schön rund wären wie das Loch um das sie
sich versammeln. Das Objekt „Fußballtor“ (Bild 07) erinnerte ein Schüler daran,
dass er an vorhergehendem Wochenende selbst kein Torerfolg in einem
Fußballspiel hatte und er darüber sehr traurig war.
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Begeistert
zeigten sich die Schüler von Kaugummifiguren Savinis oder der Bilderserie „gumblondes“
von Kronenwald. In Anregung an diese Arbeiten entstand unter anderen das
„Kaugummispiegelei“ (Bild 09) und der „Blumenteller“ (Bild 10).
Zu einem
späteren Zeitpunkt in der Kunst AG, in der auch über die Geschichte des Kaugummis
gesprochen wurde, hat man dann noch mal das Thema „Alte Kaugummis“ auf dem
Schulhof aufgegriffen.
„Man könnte doch
mal nach dem ältesten Stück auf dem Hof forschen und es dann in einer Vitrine
ausstellen,“ verlautete es. Eine weitere Schülerin merkte in Anlehnung an den
Biologieunterricht an, dass ein solches Forschen genau so ist „wie wenn
Archäologen nach Fossilien buddeln.“ Als dann ein Bild von fossilen Saurierknochen
auf dem Tisch landete, wollten einige Schüler versuchen diese mit dem Material
Kaugummi nachzustellen. Bilder 11 bis 14 zeigen die entstandenen Resultate.
Momentan wird in
der Kunst AG auch über größere Aktionen, im Giessener Innenstadtbereich, in der
die Passanten auf die wahre Flut von alten zertretenen Kaugummis aufmerksam
gemacht werden sollen, diskutiert. Evtl. soll dann auch hier den Kaugummis ein
Gesicht gegeben werden, mit dem die große Verschmutzung der Wege deutlicher in
den Blick rückt. In dieser Aktion würde, wie bei bisherigen Arbeiten auf dem
Schulgelände, die oben angesprochene Grenze zwischen dem Kaugummi als
ausgespucktem Rest- und Abfallprodukt und künstlerischem Objekt aufgelöst.
Mehrere Personen wären an der Entstehung des Objekt und der Aktion, wenn auch
nicht alle mit bewusster Absicht, beteiligt.
4. Ästhetische
Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Alltagsgegenstand Kaugummi
Die Frage, ob
mit dem Kauen von Kaugummi, ein aufbegehrendes oder gar revoltierendes
Schülerverhalten gleichzusetzen ist, kann für diese Arbeit als zweitrangig aber
nicht vollständig zu vernachlässigender Punkt angesehen werden, da es gilt, ein
bestehendes Spannungsverhältnis zwischen den allgemeinen Verbotsbestimmungen
gegenüber dem Kaugummikauen während des Unterrichts, der mit dem Verstoß gegen
diese institutionellen Regel einhergehenden Bestrafungen und den vielfältigen
Möglichkeiten mit dem Kaugummi als Werkstoff in einen künstlerischen Prozesses
treten zu können, aufzulösen.
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Denn neben
spezifischen Wahrnehmungsmustern zeichnen kollektive Normen und Konventionen
verantwortlich für Empfindungen, darüber ob Dinge als hässlich, schön und
ebenso als lecker, eklig oder verächtlich angesehen werden.
Was eben noch
als unschicklich galt und nicht erlaubt war, wird nun für die Schüler zur
Grundvoraussetzung um im Unterricht in einen ästhetischen und gestalterischen
Prozess eintreten zu können.
Der physische
Vorgang des Kauens, welcher primär der Zerkleinerung von Nahrungsmitteln dient,
kann hier als erste, wenn auch wenig zielgerichtete, eher durch den Zufall
geführte, so zu sagen „blinde“ gestalterische Einflussnahme auf den Werkstoff
Kaugummi angesehen wer-den.
Das sinnliche
Erfahrungsfeld der Schüler wird in dieser Phase durch die Möglichkeit das Arbeitsmaterial
schmecken zu können erweitert. Durch die Bewusstmachung des vorgenommenen
gestalterischen Vorgangs in Form des Kauprozess werden insbesondere die eintretenden
Veränderungen der Materialeigenschaft (Konsistenz) gezielt erleb- und
beobachtbar. Ebenso die vorherrschenden und den Prozess mitbestimmenden
Gemütszustände, welche die Intensität des Bisses entscheidend steuern können.
Dieser
Gestaltungsakt an sich und die daraus resultierenden Objekte sind in das Denken
und in die Vorstellungen von Joseph Beuys bezüglich eines plastischen Vorgangs
einzuordnen, den dieser als Übergang unbestimmter Energien, über den Prozess
der Bewegung (hier Kaubewegungen des Kiefers) hinweg, in bestimmte Formen
definierte.
Der Energiefluss sich demnach immer wieder auch in Gestalt von Formen und
Zuständen manifestiert und beobachten lässt.
Der
Gestaltungsprozess des Kauens und Resultat spiegeln demnach beide fundamentale
Aspekte der Plastischen Theorie von Beuys wider, welche insbesondere den Weg
von Wärme (mundwarme Kaumasse) zur Kälte betont und auf die Skulptur (hier
ausgespucktes Objekt) verweist, welche Chaos, Prozess und Form in sich birgt.
Der
künstlerische Akt an sich muss für die Schüler nun nicht mit dem Kauvorgang
enden. Obwohl nach einer dem Zufallsprinzip folgenden Gestaltung im Kauvorgang
des Gebisses bereits die eigentümlichsten Formen und skulpturalen Objekte
entstanden sind, spricht nichts dagegen weitere Arbeits- und
Gestaltungsprozesse anschließen zu lassen.
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Die entstandenen
Objekte können dann einem eher gezielten Handeln durch die Schüler unterzogen
werden. Dabei schließen sich nun mit den Nachbearbeitungsmöglichkeiten, auch weitere
ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten an.
Das Fühlen/
Spüren der weichen evtl. noch zuckrigen und klebrigen Masse mit den Händen,
ihre mit zunehmender Kauzeit rückläufige Dehnfähigkeit und insbesondere die
zeitlich eingegrenzte Modellierbarkeit des Materials, beeinflussen nun die
künstlerische Arbeit als solche.
Wie weit die
Arbeits- und Erfahrungsfelder mit dem Kaugummi sind, zeigen im Anhang einige
Kopiervorlagen und Fotografien von Künstler- und Schülerarbeiten.
Die Arbeiten der
Schüler orientieren sich nur begrenzt an Werken und Themen von den oben
angeführten Künstlern, sie sind in der Hauptsache Ergebnisse von in Gesprächs-
und Diskussionskreisen entwickelten Ideen innerhalb der Kunst AG.
5. Resumee:
Die ausgedehnten
sinnlichen Erfahrungsmomente im künstlerischen Gestaltungsakt mit dem
eigentümlichen Werkstoff, kommen der Forderung nach, dass es im Kunstunterricht
mehr als die Kunst an sich zu berücksichtigen gilt.
Gleichbedeutend sind auch in diesem Arbeitsprojekt die ästhetischen
Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen. Es generiert eine Vielzahl von
Möglichkeiten individueller Wahrnehmungen auf allen Sinnesebenen, fordert und
fördert ebenso eigenverantwortliches Handeln und Denken.
Die Arbeit mit
dem besonderen Werkstoff erweitert die Wahrnehmungsgewohnheiten der Schüler,
sie irritiert und weckt Interesse, insbesondere durch die Beschäftigung mit dem
Alltäglichen und Banalen. Sie eröffnet darüber hinaus durch den prozessuralen
Umgang mit Bekanntem und einem an die Lebenswelt der Schüler anknüpfenden
Zugang die Entwicklung eines Verständnisses (der Toleranz) gegenüber moderner
und zeitgenössischer Kunst.
In der
reflexiven Betrachtung und Beurteilung ihrer eigenen Arbeiten zeigten die
Schüler weit mehr Achtung, Respekt und auch Interesse gegenüber den bereits zu
Anfang vorgestellten Kunstwerken.
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Dabei lösten die
Arbeiten Savinis immer noch die größte Begeisterung unter den Schülern aus. Im
Vergleich konnte die fotografische Bildserie „Fotozezba“ von Szapocznikow weiterhin
weniger „punkten“, was hier nicht näher beurteilt werden soll, zum einen evtl.
an deren geringen Größe und auf deren weniger ins Auge springende
Figürlichkeit, im Vergleich zu Savinis Arbeiten, liegen mag. Vielleicht aber
auch an der fehlenden Farbigkeit ihrer Objekte.
Desweiteren
ermöglicht das Projekt den Schülerinnen und Schüler sich im Kunstunterricht von
einem evtl. vorherrschenden Zwang naturalistischer Nachbildungen lösen zu
können und so eine zu selbstkritische und abwertende Haltung gegenüber eigenen
Werken zu vermeiden.
Die
Auseinandersetzung mit Alltäglichem in unüblichen und fremden Zusammenhängen
führt zu neuen Assoziationen und Gedanken. Die Stimulation der Schüler durch
gezielte Aufträge, hier insbesondere in der Arbeit mit alten Kaugummiresten,
eröffnet völlig neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.
Die Schülerideen
entsprangen bzw. entwickelten sich in Gesprächsrunden in denen die Beteiligten
ihre Gedanken der Kritik der anderen und einer allgemeinen Diskussion
aussetzten. (siehe oben: Fossilien aus Kaugummi. Idee entwickelte sich aus der
Arbeit mit den Kaugummiresten auf dem Schulhof und Gelerntem im
Biologieunterricht).
Im Arbeitsprozess
überschritten die Kinder und Jugendlichen übliche Denk- und Auffassungsmöglichkeiten
bestehender Situationen und Begebenheiten. Den auf der Straße befindlichen Kaugummis
wurde eine völlig neue und innovative Aussage zugeschrieben. Aus ihnen entstanden
Dinge, die es so vorher nicht gegeben hatte.
Erste
Aufmerksamkeit und Neugier für das Projekt ist durch eine Präsentation
unterschiedlicher Arbeiten mit und um das Kaugummi hervorgerufen worden. Zum
Gebrauch des Kaugummis als Werkstoff führten letztlich auch die
Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kaumasse, dem eigentlichen
Gebrauchsmuster des Objekts und insbesondere die Frage nach einer unorthodoxen
neuen Sinngebung und der veränderten Betrachtung des banalen Dings.
Obwohl die
Arbeits- und Kauphasen hier und da wahrscheinlich recht chaotisch anmuten
dürften und eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Kaugummis ihr Ende erst gar
nicht in der künstlerischen Arbeit findet, hat mich das Engagement der Schüler
im Umgang mit dem unüblichen Material insgesamt äußerst positiv überrascht, so
dass mein Rat am Ende nur lauten kann: „Auch in der Schule öfter kauen für die
Kunst!“
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6. Literaturliste:
Buschkühle, Carl-Peter (2007):
Die Welt als Spiel. II. Kunstpädagogik: Theorie und Praxis künstlerischer
Bildung. Oberhausen
Ermen, Reinhardt (2007): Joseph
Beuys. Hamburg
Harlan, Volker (Hrsg.) u.a.(2006):
Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys. Stuttgart
Kämpf-Jansen, Helga (2001):
Ästhetische Forschung. CD mit Texten und Arbeiten von H. Kämpf-Jansen.
Buchbeilage. In: Blohm, Manfred u.a. (Hrsg.) (2006): Über ästhetische
Forschung. München
Peez, Georg (1994): Einführung in
die Kunstpädagogik. Unna
Schuster, Martin (1997): Wodurch
Bilder wirken. Psychologie der Kunst. Köln
Selle, Gert (2003): Kunstpädagogik
und ihr Subjekt. Entwurf einer Praxistheorie. Oldenburg
Selle, Gert (Hrsg.) (1990):
Experiment ästhetische Bildung. Aktuelle Beispiele für Handeln und
Verstehen. Hamburg
Stachelhaus, Heiner (2006):
Joseph Beuys. Berlin
Wagner, Monika (2002): Lexikon
des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis
Zinn. München
Wagner, Monika (2001): Das
Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne. München
Wetzel, Tanja (2005): Geregelte
Grenzüberschreitung. Das Spiel in der ästhetischen Bildung. München