Das Kartenspiel (Peter Bichsel)
In seinem Kurzprosatext „Das
Kartenspiel“ von Peter Bichsel, veröffentlicht im Jahre 1964,
beschäftigt sich der Autor mit dem Spiel des Lebens und dessen
bereits festgelegten Regeln, in welchen sich das Individuum selbst
verliert.
Der Text ist in drei große Abschnitte
gegliedert, welche einen Einblick von nicht definierbarer Dauer in
das Leben von Herrn Kurt gewähren. Zu Beginn (Z. 1 – 3), wir
wissen weder Ort noch Zeit, wird der Leser über ein Kartenspiel
informiert, welchem Herr Kurt als Beobachter beiwohnt. Erst im
zweiten Abschnitt (Z. 4-28) bildet sich ein Bild der Lokalität durch
die Bemerkung des Bieres, etwas Barähnliches wird vermutet. Auch in
diesem Abschnitt wird Herr Kurt als Zuschauer des Kartenspieles
dargestellt. In Z. 7 wird auf darauf verwiesen, dass er sogar einen
festen Platz hat. Es wird angenommen, dass Herr Kurt regelmäßiger
Besucher in diesem Lokal ist und die Bedienung mit seiner Bestellung
vertraut ist. Ab Z. 10 – 14 geht es nicht um das Spiel, sondern die
Spieler, die die Karten legen. Mal sind es Geschäftsleute, mal
jüngere, und mal irgendwelche vier. Erst in Z.15 erfährt der Leser,
dass sich das Geschehen in einem Restaurant abspielt. Trotz der
regelmäßigen Besuche Herrn Kurts in das namenlose Restaurant und
seinen dort bekannten Gewohnheiten und Marotten (Zeile 5-6:„Oft
stellt er es [das Bier] zurück, ohne etwas zu trinken, denn er
schaut dem Spiel zu“; Zeile 1: „Er sagt nichts“), bleibt der
wortkarge Herr Kurt ein blasser Schatten im Raum, ein beinahe
anonymer Schemen, der mehr zuhört und beobachtet, mal nickt und mal
abwägt, als spricht.
Herr Kurt beobachtet still ein Kartenspiel in einer deutschen Bar, Kinder spielen im Hintergrund.
Zum Schluss (Z. 29 – 32) ist ohne
jegliche Vorwarnung die Rede von der Beerdigung Herrn Kurts ist. Dem
Leser wird hier kurz die Möglichkeit geboten, bisher vorenthaltene
Informationen über die Schlüsselfigur in Erfahrung zu bringen. (Z.
29 – 30: „Man wird alles…sein Alter, seinen Geburtsort, seinen
Beruf.“) Doch aufgrund des abrupten Schlusses des Textes wird dies
allerdings unterbunden. Auffallend am formalen Aufbau des Textes ist
die Tatsache, dass sowohl Anfang, als auch Ende in Bezug zu der
Überschrift, also zu dem Kartenspiel und seinen festgelegten Regeln
stehen.
Der Text ist sachlich, nüchtern und
trocken geschildert, was durch die neutrale Erzählerperspektive
bekräftigt wird. (Z. 1) Dem Leser wird das Bild eines Stummfilmes
vermittelt, bei dem er zwar das Geschehnis sieht, aber keinerlei
Einblicke in Gedankengänge oder Gefühle erhält, weder in die von
Herrn Kurt, noch in die der restlichen Restaurantgäste. Der kurz
gehaltene Text enthält kaum bis wenige Adjektive, was die bereits
genannte Schmucklosigkeit unterstreicht. Es scheint, als würde der
Autor dem bereits stummen Text auch noch seine Farbe entziehen, was
zu einer sehr unpersönlichen Note führt. Auch die Sprache ist sehr
einfach gehalten, leicht verständlich, beinahe schon etwas lustlos.
Aneinandergereihte, kurze Hauptsätze dominieren den Text zeugen von
einer Eintönigkeit, die uns auch in Herrn Kurts begegnet.
Abwechslung ist in dieser Kurzgeschichte nicht vertreten, stattdessen
muss sich der Leser mit Parallelismus und Anaphern zufrieden geben.
(Z. 1: „Herr Kurt sagt nichts“; Z. 7: „Herr Kurt hat seinen
Platz“; Z. 17: Herr Kurt macht niemanden neugierig.“; Z.25: „Herr
Kurt nickt ab und zu oder schüttelt den Kopf. Er sagt nichts.“)
Auch Symbole werden in dieser Kurzgeschichte verwendet; Das
vermeintlich einfache Kartenspiel wird mit dem komplexen Spiel des
Lebens verglichen, während die Spieler die Gesellschaft, die nach
den Regeln des Spieles ihre Karten legt, repräsentiert.
Besonders hervorgehoben sind die Wörter
„Herr Kurt“, „Spiel“ und „sagen“, oft auch in Relation
zueinander, etwa wie „Herr Kurt sagt nichts und schaut dem Spiel
zu“.
Der Autor hat ein Netz aus Zusammenhängen
zwischen Form und Inhalt eingearbeitet. Betrachtet man den Aufbau der
Geschichte, merkt man, dass Anfang und Ende etwas miteinander zu tun
haben. Die zum Schluss genannten „bestimmten Regeln“ werden zu
Beginn erläutert. „Die vier legen ihre Karten auf den Tisch, Asse
und die Könige, die Achter und die Zehner, die roten zu den roten
und die schwarzen zu den schwarzen.“ (Z. 1 – 3) Wie oben bereits
erklärt ist mit dem Kartenspiel das Spiel des Lebens gemeint, das
gesellschaftliche Hin und Her, wenn man so will. Übersetzt heißt
dies, dass die vier Spieler nicht ihre Karten in der Hand halten
würden, sondern ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Handlungen und
ihre Möglichkeiten. Diese legen sie auf den Tisch, stellen sie zu
Schau, öffnen sich anderen Spieler, nur um dann anzufangen, sie zu
sortieren, die roten zu den roten, die schwarzen zu den schwarzen. Es
werden nur rot und schwarz beschrieben, keine anderen Farben, nur
diese beiden. Was heißt dies nun für den Spieler, also für den
Menschen, wenn seine Farbe bereits vorgegeben ist? Er ordnet sich den
Regeln des Spieles unter. Er passt sich und seine Gedanken einer
Farbe und einer Form an, die von dem Spiels bereits vorgegeben ist.
Die Intention des Autors war nicht die, ein Kartenspiel zu
beschreiben, sondern den von den meisten Menschen selbst auferlegten
Zwang der Regeln der Gesellschaft zu verdeutlichen Die Karten sind
Worte, ihre Taten, und Gedanken, die die Spieler nicht nur bereit
sind, auszulegen, sondern sie sogar dem roten oder schwarzen
„Idealbild“ anzupassen. Und das Spiel ist das Leben, dessen
Regeln der Spieler folgen muss, um zu gewinnen.
Mit dieser Information können wir nun
den weiteren Text analysieren.
Beim Lesen sticht die Einfachheit der
Sprache ins Auge, die durch wenige Adjektive, eintönige, kurze Sätze
und dem Parallelismus unterstrichen werden. Bezogen auf den Inhalt
lässt sich diese Schlichtheit in der Sprache mit der
Unkompliziertheit des Kartenspiels vergleichen. Die Spieler legen
nach festgelegten Regeln ihre Karten, sie wissen also was sie sagen
sollen und was sie lieber für sich behalten sollten. Weder für
Sprache, noch für Inhalt, muss man lange nachdenken, um es zu
verstehen. Im Gegensatz dazu ist es um einiges schwieriger und
komplizierter, die Geschichte zu verstehen und die Absicht des Autors
zu erfassen. Hinter der irrtümlichen Einfachheit des Erzählten
verbirgt sich mehr, doch der Autor lässt viel Gedankenspielraum und
macht es so dem Leser schwieriger, die wahre Bedeutung der
Kurzgeschichte zu verstehen. Der Leser wird sich den Kopf darüber
zerbrechen, weil Bichsel ihm die Möglichkeit dazu gibt, und
ebendieses Phänomen lässt sich auf Herr Kurt übertragen. Während
die Welt um ihn herum normal scheint und sich nach bestimmten
Abläufen und Regel abspielt, ist er scheinbar der einzige, der sich
Gedanken über die Karten anderer macht und so aus einer einfachen
Situation komplexe Gedankengänge webt. Denn Herr Kurt ist sich der
wahren Bedeutung von den Karten, die auf den Tisch gelegt werden,
bewusst (Z. 26 – 27). Er nimmt das, was die Karten erzählen, auf,
und fängt an zu verarbeiten. Er denkt über Gesagtes nach, denkt das
Gesagte weiter, bis er auf Zusammenhänge kommt, die keiner mehr
nachvollziehen kann, Herr Kurt vielleicht selbst vielleicht nicht
mehr. Es ist eine einfache Gesellschaft mit geradezu banalen Regeln,
und in ihr Herr Kurt, der sich selbst durch seine fortführenden
Netze aus Gedanken fesselt. Man könnte sogar meinen, dies sei der
Grund, warum er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird und niemand
mit Herrn Kurz reden möchte: (Z. 17: „Herr Kurt machte niemanden
neugierig“; Z. 20: „Man würde Herrn Kurt nicht danach fragen.“)
Möglichweise tragen die Karten von Herrn Kurz nicht die Farbe
schwarz oder rot, sondern sind unleserlich für alle anderen, was
wiederum dazu führen würde, dass aufgrund seiner unbeabsichtigten
Grübelei ein Leben in Einsamkeit und Unverständnis führen muss.
Herr Kurt denkt zu viel und passt sich nicht den Spielregeln an.
Im Text steht jedoch „Herr Kurt macht
niemanden. Trotzdem hat man ihn in den Jahren kennengelernt.“ (Z.
17) Es stellt sich nun die Frage, wie man jemanden kennenlernen kann,
obwohl man niemals mit ihm richtig ins Gespräch gekommen ist. Um
diese Frage zu beantworten, muss man sich den Begriff „kennenlernen“
näher betrachten. Was bedeutet „kennen“ in einer Welt, in der
alle in ihre Karten vertieft sind? Nur um sie dann auszuspielen und
sie von einer anderen Karte überdecken zu lassen, die in jenem
Moment eine weitere, untergehende Karte in einem Meer aus vielen
anderen. Der Wirt beispielsweise sieht Herrn Kurts Namen und seinen
Geburtstag in seinem Kalender (Z. 18) und er ist bereits der Ansicht,
ihn zu kennen. Nach diesem Prinzip bewerten viele Spielern in dem
Restaurant. Sie sehen Herrn Kurt, kenne seinen Namen, und schon ist
er ein weiteres Gesicht in einer grenzenlosen Masse von weiteren. Sie
alle sind viel zu beschäftigt mit ihren Karten, als dass sie einen
farblosen Schatten wie Herrn Kurt wahrnehmen könnten. Sie alle haben
nur sein die Oberfläche „kennengelernt“, sind mit seinen
Gewohnheit vertraut, mit seinen Handlungen, nicht aber mit seinen
Gedanken und mit seinen Worten.
Zum Schluss fällt die Ironie auf, die
der Autor eingearbeitet hat. „Bei Herrn Kurts Beerdigung wird man
alles über ihn erfahren, die Todesursache, sein Alter, seinen
Geburtsort, seinen Beruf.“ Dieser Satz hat einen beinahe schon
zynischen Beigeschmack. Erst durch Herrn Kurts Abwesenheit, durch
seinen Tod, rückt Herrn Kurt selbst ins Licht und genießt für
einen Moment die ungeteilte Aufmerksamkeit der Menschen, und erst
dann wird die Gesellschaft bemerken, wer Herr Kurt tatsächlich war.
Auch die Aussage „Und später wird ein Spieler sagen, dass er Herrn
Kurt vermisse. Aber das ist nicht wahr, das Spiel hat ganz bestimmte
Regeln“ ist ein Paradoxon. Tatsächlich ist das Vermissen an sich
eine Höflichkeitsfloskel, die gesagt werden muss, wenn Herr Kurt
sterben sollte. Tatsächlich ist es eine ganz einfache Lüge und Herr
Kurt ist in seinem Leben leer ausgegangen. Daraus stellt sich die
Frage, welche weiteren ausgelegten Karten ebenfalls Unwahrheiten sind
und wem man in dieser von unehrlichen Regeln beherrschten Welt
vertrauen kann. Angenommen, Herr Kurt hätte sich zu seinen Lebzeiten
den Regeln angepasst, hätte sich den Leuten geöffnet und wäre des
Öfteren ins Gespräch gekommen, hätten die Leute dann nicht genau
dasselbe gesagt? Hätten sie dann nicht ebenfalls behauptet, ihn zu
vermissen und wäre dies dann nicht genau dieselbe Lüge gewesen?
Wären dann das Reden und das geschenkte Vertrauen Herrn Kurt von
Nutzen gewesen? Die Antwort ist ebenso schlicht und ernüchternd, wie
die einfach gehaltene Sprache des Textes, und damit schließt sich
der Kreis. Sie lautet nämlich Nein.
Die Handlungsweise der Hauptfigur kann
erst nach genauem Überdenken der Situation und der Entschlüsselung
der Symbole, die der Autor hier verwendet, nachvollzogen werden.
Bichsel hat durch seine bescheidene Auswahl an stilistischen Mitteln
viel Raum zum Denken gelassen. Dadurch, dass er die Gefühle und
Gedanken seiner Schlüsselfigur vom Leser distanziert, identifiziert
er sich mit Herrn Kurt. Diese Kurzgeschichte ist das perfekte
Beispiel, dass selbst in gewöhnlichen Alltagssituationen eine auch
heute noch relevante Aussage steckt; Nicht der Spieler bestimmt das
Spiel, nein im Gegenteil. Es ist eher so, dass das Spiel die
Spielenden bestimmt, und nur die Wenigsten es wagen, sich diesem
System zu verweigern und sich nicht in den Regeln zu verlieren.