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Interpretation

Das Kartenspiel von Peter Bichsel

1.749 Wörter / ~4 Seiten sternsternsternsternstern Autorin Ella A. im Mai. 2017
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Dokumenttyp

Interpretation
Deutsch

Universität, Schule

Gymansium Baden-Württemberg

Note, Lehrer, Jahr

2015

Autor / Copyright
Ella A. ©
Metadaten
Format: pdf
Größe: 0.03 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternsternstern
ID# 65581







Inhalt: "Das Karten­spiel" von Peter Bich­sel, ein Kurz­pro­sa­text aus dem Jahr 1964, thema­ti­siert die fest­ge­legten Regeln des Lebens und wie sich das Indi­vi­duum darin verlieren kann. Der Text glie­dert sich in drei Abschnitte, die verschie­dene Phasen im Leben von Herrn Kurt beleuch­ten. Trotz regel­mä­ßiger Besuche in einem Restau­rant und bekannten Gewohn­heiten bleibt Herr Kurt eine anonyme Figur, die mehr beob­achtet als teil­nimmt. Die Geschichte endet mit einer uner­war­teten Wendung, die den Leser nach­denk­lich zurück­lässt und zum Nach­denken über die Rolle des Einzelnen im Spiel des Lebens anregt.
#Anonymität#Gesellschaftskritik#Regelwerk

Das Kartenspiel (Peter Bichsel)

In seinem Kurzprosatext „Das Kartenspiel“ von Peter Bichsel, veröffentlicht im Jahre 1964, beschäftigt sich der Autor mit dem Spiel des Lebens und dessen bereits festgelegten Regeln, in welchen sich das Individuum selbst verliert.

Der Text ist in drei große Abschnitte gegliedert, welche einen Einblick von nicht definierbarer Dauer in das Leben von Herrn Kurt gewähren. Zu Beginn (Z. 1 – 3), wir wissen weder Ort noch Zeit, wird der Leser über ein Kartenspiel informiert, welchem Herr Kurt als Beobachter beiwohnt. Erst im zweiten Abschnitt (Z. 4-28) bildet sich ein Bild der Lokalität durch die Bemerkung des Bieres, etwas Barähnliches wird vermutet. Auch in diesem Abschnitt wird Herr Kurt als Zuschauer des Kartenspieles dargestellt. In Z. 7 wird auf darauf verwiesen, dass er sogar einen festen Platz hat. Es wird angenommen, dass Herr Kurt regelmäßiger Besucher in diesem Lokal ist und die Bedienung mit seiner Bestellung vertraut ist. Ab Z. 10 – 14 geht es nicht um das Spiel, sondern die Spieler, die die Karten legen. Mal sind es Geschäftsleute, mal jüngere, und mal irgendwelche vier. Erst in Z.15 erfährt der Leser, dass sich das Geschehen in einem Restaurant abspielt. Trotz der regelmäßigen Besuche Herrn Kurts in das namenlose Restaurant und seinen dort bekannten Gewohnheiten und Marotten (Zeile 5-6:„Oft stellt er es [das Bier] zurück, ohne etwas zu trinken, denn er schaut dem Spiel zu“; Zeile 1: „Er sagt nichts“), bleibt der wortkarge Herr Kurt ein blasser Schatten im Raum, ein beinahe anonymer Schemen, der mehr zuhört und beobachtet, mal nickt und mal abwägt, als spricht.

Herr Kurt beobachtet still ein Kartenspiel in einer deutschen Bar, Kinder spielen im Hintergrund.
Herr Kurt beobachtet still ein Kartenspiel in einer deutschen Bar, Kinder spielen im Hintergrund.

Zum Schluss (Z. 29 – 32) ist ohne jegliche Vorwarnung die Rede von der Beerdigung Herrn Kurts ist. Dem Leser wird hier kurz die Möglichkeit geboten, bisher vorenthaltene Informationen über die Schlüsselfigur in Erfahrung zu bringen. (Z. 29 – 30: „Man wird alles…sein Alter, seinen Geburtsort, seinen Beruf.“) Doch aufgrund des abrupten Schlusses des Textes wird dies allerdings unterbunden. Auffallend am formalen Aufbau des Textes ist die Tatsache, dass sowohl Anfang, als auch Ende in Bezug zu der Überschrift, also zu dem Kartenspiel und seinen festgelegten Regeln stehen.

Der Text ist sachlich, nüchtern und trocken geschildert, was durch die neutrale Erzählerperspektive bekräftigt wird. (Z. 1) Dem Leser wird das Bild eines Stummfilmes vermittelt, bei dem er zwar das Geschehnis sieht, aber keinerlei Einblicke in Gedankengänge oder Gefühle erhält, weder in die von Herrn Kurt, noch in die der restlichen Restaurantgäste. Der kurz gehaltene Text enthält kaum bis wenige Adjektive, was die bereits genannte Schmucklosigkeit unterstreicht. Es scheint, als würde der Autor dem bereits stummen Text auch noch seine Farbe entziehen, was zu einer sehr unpersönlichen Note führt. Auch die Sprache ist sehr einfach gehalten, leicht verständlich, beinahe schon etwas lustlos. Aneinandergereihte, kurze Hauptsätze dominieren den Text zeugen von einer Eintönigkeit, die uns auch in Herrn Kurts begegnet. Abwechslung ist in dieser Kurzgeschichte nicht vertreten, stattdessen muss sich der Leser mit Parallelismus und Anaphern zufrieden geben. (Z. 1: „Herr Kurt sagt nichts“; Z. 7: „Herr Kurt hat seinen Platz“; Z. 17: Herr Kurt macht niemanden neugierig.“; Z.25: „Herr Kurt nickt ab und zu oder schüttelt den Kopf. Er sagt nichts.“) Auch Symbole werden in dieser Kurzgeschichte verwendet; Das vermeintlich einfache Kartenspiel wird mit dem komplexen Spiel des Lebens verglichen, während die Spieler die Gesellschaft, die nach den Regeln des Spieles ihre Karten legt, repräsentiert.

Besonders hervorgehoben sind die Wörter „Herr Kurt“, „Spiel“ und „sagen“, oft auch in Relation zueinander, etwa wie „Herr Kurt sagt nichts und schaut dem Spiel zu“.

Der Autor hat ein Netz aus Zusammenhängen zwischen Form und Inhalt eingearbeitet. Betrachtet man den Aufbau der Geschichte, merkt man, dass Anfang und Ende etwas miteinander zu tun haben. Die zum Schluss genannten „bestimmten Regeln“ werden zu Beginn erläutert. „Die vier legen ihre Karten auf den Tisch, Asse und die Könige, die Achter und die Zehner, die roten zu den roten und die schwarzen zu den schwarzen.“ (Z. 1 – 3) Wie oben bereits erklärt ist mit dem Kartenspiel das Spiel des Lebens gemeint, das gesellschaftliche Hin und Her, wenn man so will. Übersetzt heißt dies, dass die vier Spieler nicht ihre Karten in der Hand halten würden, sondern ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Handlungen und ihre Möglichkeiten. Diese legen sie auf den Tisch, stellen sie zu Schau, öffnen sich anderen Spieler, nur um dann anzufangen, sie zu sortieren, die roten zu den roten, die schwarzen zu den schwarzen. Es werden nur rot und schwarz beschrieben, keine anderen Farben, nur diese beiden. Was heißt dies nun für den Spieler, also für den Menschen, wenn seine Farbe bereits vorgegeben ist? Er ordnet sich den Regeln des Spieles unter. Er passt sich und seine Gedanken einer Farbe und einer Form an, die von dem Spiels bereits vorgegeben ist. Die Intention des Autors war nicht die, ein Kartenspiel zu beschreiben, sondern den von den meisten Menschen selbst auferlegten Zwang der Regeln der Gesellschaft zu verdeutlichen Die Karten sind Worte, ihre Taten, und Gedanken, die die Spieler nicht nur bereit sind, auszulegen, sondern sie sogar dem roten oder schwarzen „Idealbild“ anzupassen. Und das Spiel ist das Leben, dessen Regeln der Spieler folgen muss, um zu gewinnen.

Mit dieser Information können wir nun den weiteren Text analysieren.

Beim Lesen sticht die Einfachheit der Sprache ins Auge, die durch wenige Adjektive, eintönige, kurze Sätze und dem Parallelismus unterstrichen werden. Bezogen auf den Inhalt lässt sich diese Schlichtheit in der Sprache mit der Unkompliziertheit des Kartenspiels vergleichen. Die Spieler legen nach festgelegten Regeln ihre Karten, sie wissen also was sie sagen sollen und was sie lieber für sich behalten sollten. Weder für Sprache, noch für Inhalt, muss man lange nachdenken, um es zu verstehen. Im Gegensatz dazu ist es um einiges schwieriger und komplizierter, die Geschichte zu verstehen und die Absicht des Autors zu erfassen. Hinter der irrtümlichen Einfachheit des Erzählten verbirgt sich mehr, doch der Autor lässt viel Gedankenspielraum und macht es so dem Leser schwieriger, die wahre Bedeutung der Kurzgeschichte zu verstehen. Der Leser wird sich den Kopf darüber zerbrechen, weil Bichsel ihm die Möglichkeit dazu gibt, und ebendieses Phänomen lässt sich auf Herr Kurt übertragen. Während die Welt um ihn herum normal scheint und sich nach bestimmten Abläufen und Regel abspielt, ist er scheinbar der einzige, der sich Gedanken über die Karten anderer macht und so aus einer einfachen Situation komplexe Gedankengänge webt. Denn Herr Kurt ist sich der wahren Bedeutung von den Karten, die auf den Tisch gelegt werden, bewusst (Z. 26 – 27). Er nimmt das, was die Karten erzählen, auf, und fängt an zu verarbeiten. Er denkt über Gesagtes nach, denkt das Gesagte weiter, bis er auf Zusammenhänge kommt, die keiner mehr nachvollziehen kann, Herr Kurt vielleicht selbst vielleicht nicht mehr. Es ist eine einfache Gesellschaft mit geradezu banalen Regeln, und in ihr Herr Kurt, der sich selbst durch seine fortführenden Netze aus Gedanken fesselt. Man könnte sogar meinen, dies sei der Grund, warum er aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird und niemand mit Herrn Kurz reden möchte: (Z. 17: „Herr Kurt machte niemanden neugierig“; Z. 20: „Man würde Herrn Kurt nicht danach fragen.“) Möglichweise tragen die Karten von Herrn Kurz nicht die Farbe schwarz oder rot, sondern sind unleserlich für alle anderen, was wiederum dazu führen würde, dass aufgrund seiner unbeabsichtigten Grübelei ein Leben in Einsamkeit und Unverständnis führen muss. Herr Kurt denkt zu viel und passt sich nicht den Spielregeln an.

Im Text steht jedoch „Herr Kurt macht niemanden. Trotzdem hat man ihn in den Jahren kennengelernt.“ (Z. 17) Es stellt sich nun die Frage, wie man jemanden kennenlernen kann, obwohl man niemals mit ihm richtig ins Gespräch gekommen ist. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich den Begriff „kennenlernen“ näher betrachten. Was bedeutet „kennen“ in einer Welt, in der alle in ihre Karten vertieft sind? Nur um sie dann auszuspielen und sie von einer anderen Karte überdecken zu lassen, die in jenem Moment eine weitere, untergehende Karte in einem Meer aus vielen anderen. Der Wirt beispielsweise sieht Herrn Kurts Namen und seinen Geburtstag in seinem Kalender (Z. 18) und er ist bereits der Ansicht, ihn zu kennen. Nach diesem Prinzip bewerten viele Spielern in dem Restaurant. Sie sehen Herrn Kurt, kenne seinen Namen, und schon ist er ein weiteres Gesicht in einer grenzenlosen Masse von weiteren. Sie alle sind viel zu beschäftigt mit ihren Karten, als dass sie einen farblosen Schatten wie Herrn Kurt wahrnehmen könnten. Sie alle haben nur sein die Oberfläche „kennengelernt“, sind mit seinen Gewohnheit vertraut, mit seinen Handlungen, nicht aber mit seinen Gedanken und mit seinen Worten.

Zum Schluss fällt die Ironie auf, die der Autor eingearbeitet hat. „Bei Herrn Kurts Beerdigung wird man alles über ihn erfahren, die Todesursache, sein Alter, seinen Geburtsort, seinen Beruf.“ Dieser Satz hat einen beinahe schon zynischen Beigeschmack. Erst durch Herrn Kurts Abwesenheit, durch seinen Tod, rückt Herrn Kurt selbst ins Licht und genießt für einen Moment die ungeteilte Aufmerksamkeit der Menschen, und erst dann wird die Gesellschaft bemerken, wer Herr Kurt tatsächlich war. Auch die Aussage „Und später wird ein Spieler sagen, dass er Herrn Kurt vermisse. Aber das ist nicht wahr, das Spiel hat ganz bestimmte Regeln“ ist ein Paradoxon. Tatsächlich ist das Vermissen an sich eine Höflichkeitsfloskel, die gesagt werden muss, wenn Herr Kurt sterben sollte. Tatsächlich ist es eine ganz einfache Lüge und Herr Kurt ist in seinem Leben leer ausgegangen. Daraus stellt sich die Frage, welche weiteren ausgelegten Karten ebenfalls Unwahrheiten sind und wem man in dieser von unehrlichen Regeln beherrschten Welt vertrauen kann. Angenommen, Herr Kurt hätte sich zu seinen Lebzeiten den Regeln angepasst, hätte sich den Leuten geöffnet und wäre des Öfteren ins Gespräch gekommen, hätten die Leute dann nicht genau dasselbe gesagt? Hätten sie dann nicht ebenfalls behauptet, ihn zu vermissen und wäre dies dann nicht genau dieselbe Lüge gewesen? Wären dann das Reden und das geschenkte Vertrauen Herrn Kurt von Nutzen gewesen? Die Antwort ist ebenso schlicht und ernüchternd, wie die einfach gehaltene Sprache des Textes, und damit schließt sich der Kreis. Sie lautet nämlich Nein.

Die Handlungsweise der Hauptfigur kann erst nach genauem Überdenken der Situation und der Entschlüsselung der Symbole, die der Autor hier verwendet, nachvollzogen werden. Bichsel hat durch seine bescheidene Auswahl an stilistischen Mitteln viel Raum zum Denken gelassen. Dadurch, dass er die Gefühle und Gedanken seiner Schlüsselfigur vom Leser distanziert, identifiziert er sich mit Herrn Kurt. Diese Kurzgeschichte ist das perfekte Beispiel, dass selbst in gewöhnlichen Alltagssituationen eine auch heute noch relevante Aussage steckt; Nicht der Spieler bestimmt das Spiel, nein im Gegenteil. Es ist eher so, dass das Spiel die Spielenden bestimmt, und nur die Wenigsten es wagen, sich diesem System zu verweigern und sich nicht in den Regeln zu verlieren.


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