Das Brechtsche Drama und Dramentheorie Manfred Pfister
Das Epische Drama
Bertolt Brecht entwickelte in
zahlreichen Schriften, Aufsätzen und Anmerkungen ein neuartiges Theaterkonzept,
welches das Epische (auch dialektische) Theater genannt wird. Diese
Form des Theaters soll das Publikum in einen Zustand der Reflexion und
Kritikfähigkeit gegenüber dem Dargestellten versetzen, was einen grundlegenden
Bruch mit der aristotelischen Form des Theaters, welche zu der Zeit
vorherrschte, bedeutete. Die Beweggründe Brechts waren hauptsächlich die
Veränderungen in der Gesellschaft und der Politik, die sich zu seinen Lebzeiten
ergaben (zum Beispiel das NS-Regime unter Hitler, das Brecht 1933 zur Flucht
ins Exil zwang), weshalb er versuchte durch seine Stücke die sozialen und
politischen Missstände seiner Zeit aufzuzeigen. Das epische Theater sollte eine
Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst herstellen und Zuschauern einen
Einblick in die "realen" gesellschaftlichen Verhältnisse gewähren. In
seiner dramentheoretischen Werk
"Schriften zum Theater 3" zeigt Brecht auf, dass für Dramatiker vor
allem die Wissenschaft der Psychologie von großer Bedeutung ist in dem er
ausführt
"Die moderne Psychologie von der Psychoanalyse
bis zum Behaviourismus verschafft Kenntnisse, die mir zu einer ganz
anderen Beurteilung des Falles verhelfen, besonders, wenn ich die
Ergebnisse der Soziologie berücksichtige und die Ökonomie sowie die Geschichte
nicht außer acht lasse" (vgl. Brecht 1936, S. 61)
In diesem Sinne und mithilfe seiner
Stücke wollte Brecht die "Gesetzmäßigkeiten menschlichen Handelns
demonstrieren und dokumentieren" (ebd. S. 41) dadurch Kritik an der gesellschaftlichen
Situation üben, und damit das Publikum zum Handeln ermutigen. Durch die gesellschaftlichen
Veränderungen sollten, laut Brecht "Die wichtigsten Vorgänge unter Menschen
nicht mehr so einfach dargestellt werden", weshalb er es als notwenig
erachtet die Umwelt der Menschen realistisch darzustellen und selbständig in
Erscheinung treten zu lassen. (53f.) Daher war es für Brecht zentral die Bühne
"erzählen" zu lassen und somit auch das Konzept der "vierten
Wand" in den Hintergrund zu drängen. Im epischen Theater soll daher eine
"kritische Distanz des Zuschauers" ausgelöst werden, welche z.B.
durch Chöre, Spruchbänder, zusätzliche Informationen der einem kommentierenden
Erzähler erfolgt (Pfister: 103). Dieser "Verfremdungseffekt" (in
Brechts Schrift "Entfremdung" genannt) ist eines der
Hauptbestandteile des epischen Dramas, da er beim Zuschauer ein gewisses Maß an
eigenem Handeln hervorrufen soll, was den Sinn verfolgt durch Reflexion auf die
dargestellten gesellschaftlichen Missstände eine Lösung dagegen zu finden zu
wollen. Aber auch durch das gezielte Einsetzen von Kulissen und Requisiten wird
von Brecht als Stilmittel benutzt, um dem Publikum einen "neuen
Zugang" zum Drama zu ermöglichen. Brecht wollte nicht, dass sich die
Zuschauer einfach nur in die Figuren "einfühlten" (= im Sinne von
Mitgefühl) und eine "Katharsis"(Reinigung) nach dem Ansehen eines
Stücks erfuhren, sondern sich "aktiv" mit dem Geschehen auseinandersetzen
sollten. Brecht wandte sich damit entschieden gegen die aristotelische Form des
Dramas, indem er es dem Zuschauer nicht mehr ermöglichen wollte sich "kritiklos
(und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben " sondern von ihnen
erwartete, sich (kritisch) mit dem Auseinandersetzen was ihnen auf der Bühne
dargeboten wurde. Dafür durfte das, was auf der Bühne geschah
"verfremdet" werden und somit die Illusion einer perfekten
Darstellung, die bis dahin auf den Bühnen vorherrschte zerstört werden. Brecht macht
diesen Kontrast zwischen aristotelischem und epischen Drama auch in seiner
Schrift ganz konkret, indem er schrieb das das Publikum im dramatischen Theater
sagt:
Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist
natürlich. –
Das wird immer so sein. –
Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt.
– Das ist
große Kunst: da ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden,
ich lache mit den Lachenden.
Im Gegensatz dazu beschrieb er die Zuschauer des epischen
Dramas wie folgt:
Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte
ich nicht gedacht. –
So darf man es nicht machen. –
Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es
doch einen Ausweg für ihn gäbe. – Ich lache mit den Weinenden, ich weine über den
Lachenden." (S. 54f.)
Diesen (für diese Zeit) radikalen
Bruch mit der bis dahin vorherrschenden aristotelischen Form des Dramas zeigt
er auch in seinen Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny auf, indem er eine tabellarische Beschreibung der Unterschiede
zwischen der traditionellen und der epischen Form des Theater darstellt:
Episches Drama anhand des
Beispiels: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
In Brecht (1938) Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall
der Stadt Mahagonny (überarbeitete Fassung)
„Gewichtsverschiebungen vom dramatischen
zum epischen Theater“
Aristotelische Form des Theaters
|
Epische Form des Theaters
|
handelnd
|
erzählend
|
verwickelt den Zuschauer in eine Bühnenaktion
|
macht den Zuschauer zum Betrachter
|
verbraucht seine Aktivität
|
weckt seine Aktivität
|
ermöglicht ihm Gefühle
|
erzwingt von ihm Entscheidungen
|
Erlebnis
|
Weltbild
|
Der Zuschauer wird in etwas hineinversetzt
|
er wird gegenübergesetzt
|
Suggestion
|
Argument
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Die Empfindungen werden konserviert
|
bis zu Erkenntnissen getrieben
|
Der Zuschauer steht mittendrin
|
Der Zuschauer steht gegenüber
|
miterlebt
|
studiert
|
Der Mensch als bekannt vorausgesetzt
|
Der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
|
Der unveränderliche Mensch
|
Der veränderliche und verändernde Mensch
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Spannung auf den Ausgang
|
Spannung auf den Gang
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Eine Szene für die andere
|
Jede Szene für sich
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Wachstum
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Montage
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Geschehnisse linear
|
in Kurven
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evolutionäre Zwangsläufigkeit
|
Sprünge
|
Der Mensch als Fixum
|
Der Mensch als Prozeß
|
Das Denken bestimmt das Sein
|
Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken
|
Gefühl
|
Ratio (Verstand, Vernunft)
|
Idealismus
|
Materialismus
|
Theoretischer Teil
Epische
Kommunikationsstrukturen im Drama (Pfister 2001, S 103ff)
Die "Episierung" des
Dramas
Wichtigste Eckpunkte - Gegensatz
von Epik und Dramatik
·
Aufhebung der Finalität:
ü
Das "Epische" eines Werkes liegt in der
"Selbstständigkeit seiner Teile" -> Im epischen Drama wird auf
schlüssig geführte Intrigen verzichtet -> stattdessen ->
Aneinanderreihung einer Folge (relativ) selbständiger Einzelszenen, Episoden
oder Stationen.
ü
„Spannung auf den Gang“ anstatt die bis dahin übliche „Spannung
auf den Ausgang“
ü
Es soll eine kritische Distanz des Zuschauers auslösen ->
dadurch -> Zuschauer sollen reflektiert "Vergleichen und Werten" ->
Relativierung und Verfremdung der Einzelszenen
·
Aufhebung der Konzentration:
ü
Epische Werke arbeiten sehr detailliert und
"breit(gefächert)" demgegenüber steht die "Konzentration"
des Dramatischen (Hegel)
ü
Realität soll in ihrer Gesamtheit -> bis ins letzte Detail
dargestellt werden -> strebt durch eine "panoramische Raum- und
Zeitstruktur" und umfangreiches Personal (auf und hinter der Bühne) eine
"extensive Totalität" an.
·
Aufhebung der Absolutheit:
·
Gegensatz von Bericht und Darstellung -> systematrische
Einsatz dramaturgischer Techniken z.B. durch Prolog, Epilog, Chor, Song,
Montage, Spruchbänder, Projektionen, Spielleiterfiguren,
Aus-der-Rolle-Fallen, Bloßlegen des theatralischen Apparats -> dadurch soll
das Publikum "desillusioniert" -> das wiederum soll bewirken, dass
sich die Zuschauer nicht mit den Figuren identifizieren und so den Figuren und
Situationen kritisch gegenüber stehen.
Daher kann man zusammenfassend
sagen, dass Episierung meist ein "Fiktionsbruch" bedeutet, eine
Unterbrechung des szenischen Fortgangs so zusagen einen Perspektivenwechsel
sowie den Aufbau einer Distanz zum Stoff bzw. der Handlung des Dramas. Die
Bühne wird für das Publikum "geöffnet" meistens durch einen
kommentierenden bzw. erläuternden Darstellungsstil. Allerdings ist die Tendenz
zur Episierung je nach Art des Dramas (Tragödie, Komödie etc.) unterschiedlich
ausgeprägt, was schon Brecht in seinen Anmerkungen zur Dreigroschenoper
hervorhob, indem er anmerkte:
"Überall aber, wo es Materialismus gibt, entstehen
epische Formen in der Dramatik, im Komischen, das immer materialistischer,
“niedriger” eingestellt ist, am meisten und öftesten"
Techniken
epischer Kommunikation
1. Auktoriale
Episierung:
ü
Auktorialer Nebentext wird erweitert -> Ausweitung ins "Deskriptive
und Kommentierende"
ü
äußere Textschicht -> auf keine Figur als Aussageobjekt
bezogen -> z.B. durch Szenentitel, Spruchbänder, Projektionen etc. (soll
z.B. expliziten Aussagen im Haupttext entgegenwirken)
ü
Montage-> Ausdruck aus der Filmkunst -> Aufbrechen
raum-zeitlicher Kontinuität der Darstellung durch Rückblenden -> Einblenden
con Gleichzeitigen bzw. in die Zukunft schauen -> -> analog zum
auktorialen Erzähler in narrativen Texten-> dadurch wird dem Publikum
bewusst, dass es eine Instanz gibt die diese Umstellungen vornimmt -> durch
die neu geschaffene "Kontrast- und Korrespondenzbezüge" (108f.)
2. Episierung
durch spiel-externe Figuren:
ü
epische Kommunikationsstrukturen die durch die Figuren (als
fiktive Aussageobjekte) getragen werden
ü
Einerseits: Prologe, Epiloge -> von Figur vorgetragen, die
sich nicht im inneren Kommunikationssystem befinden (z.B. anonymer Sprecher,
allegorische Personifikation, Götterfigur oder auktoriale Selbststilisierung)
-> Reflexion und Kommentar-Funktion. Chor (wenn er außerhalb der
inneren Spielebene) -> der Chor kann Zukünftiges vorwegnehmen bzw. hat die
Möglichkeit des Exkurses)
ü
Andererseits: Regiefigur (diese Figur kann jederzeit ins
Geschehen eingreifen, umstellen, Zeiträume aussparen, zusammenfassen
u.v.m.)-> ist dem Chor und den Prolog- und Epilogfiguren ähnlich -> aber
-> Regiefigur hat gegenüber allen anderen Figuren einen Informationsvorsprung
-> ist aber im Gegensatz zu den anderen eine Individualfigur
3. Episierung
durch spiel-interne Figuren:
Stehen selbst in der dramatischen
Situation -> bilden Interferenzen zwischen innerem und äußerem
Kommunikationssystem
ü
entweder Einzelfigur oder Chor
ü
Äuivalent zum Chor -> der Song(von Brecht in Theorie und
Praxis des epischen Theater propagiert) -> durchbricht die innere
Kommunikationsebene -> richtet sich ad spectatores = direkt an das
Publikum
ü
Aus-der-Rolle-Fallen -> Schauspieler löst sich aus seiner
Rolle-> wird Träger eines "vermittelnden Kommunikationssystem"
ü
"Beiseitesprechen"-> eine Figur richtet sich direkt
an das Publikum -> teilt seine Meinung mit -> drammatische Illusion wird
aber nicht zerzört -> ad spectores bezieht eine fiktive
Zuschauerrolle ein (E2) -> diese ist aber weder mit impliziten (E3) noch dem
realen (E4) Publikum ident.
ü
Illusionsdurchbrechung geschieht dann, wenn der Schauspieler aus
seiner Rolle fällt -> ex persona ("aus der Maske sprechen")
-> Sprecher ist keine fiktive Figur mehr sondern Schaupieler -> dient
dazu um Aufführung bewusst zu machen = zu "verfremden"
ü
Monologische oder dialogische Kommentare und Reflexionen ->
abstrahieren dramatische Situation, vor allem wenn sie den Bewusstseinsstand
der Figur überschreiten
4. Außersprachliche
Episierung:
ü
Gestus des Zeigens, Brechtsche Theorie des "anti-identifikatorischen
Schauspielerstils" ( vor allem in Commedia dell’Arte), betrifft
Bühnengestaltung -> Bloßlegen des theatralischen Apparats, soll Kulissen als
Kulissen und Requisiten als Requisiten bewusst machen ->
illussionszerstörend -> z.B. Brecht-Gardine = Zuschauer können den Umbau
verfolgen (121)
Überblick
(Pfister 2001, S 123)
Literatur:
Brecht, Bertolt: Schriften zum
Theater Berlin: Surkamp
Pfister, Manfred (2001): Das Drama.
Theorie und Analyse. München: Wilhelm Fink (11. Aufl.)
Knopf, Jan (1996): Brecht-Handbuch:
eine Ästhetik der Widersprüche. Theater. Stuttgart (et al): Metzler.