Das Automatenmotiv im Sandmann
von E.T.A. Hoffmann
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung. 4
2. Die Entwicklung des Automatenmotivs. 5
2.1. Geschichte des Automaten in Literatur und Technik. 5
3. Der Automat im Zeitalter der Romantik und seine Bedeutung in Hoffmanns
Werken. 6
4. Das Automatenmotiv im „Sandmann“ 9
4.1. Nathanael und Clara. 9
4.2. Nathanael und Olimpia. Liebe zum Automaten. 11
4.3. Die Gesellschaftskritik. 14
5. Schluss. 16
6. Literaturverzeichnis. 18
1. Einleitung
Der Begriff "Automat" kommt vom lateinischen "automatus",
was freiwillig bzw. aus eigenem Antrieb handelnd bedeutet.
In der Industrie werden die Automaten von den Menschen benutzt, um bestimmte Arbeitsvorgänge
durchzuführen. Im Alltag versteht man darunter solche Geräte wie Geldautomaten,
Spielautomaten, Getränkeautomaten, also Geräte, die auf Anforderung eine Ware ausgeben
oder einfache Dienstleistungen vollbringen. In der heutigen Zeit sind Automaten Maschinen, die
selbstständig arbeiten und das Leben der Menschen erleichtern. In früheren Jahrhunderten
wurden solche Automaten gebaut, bei denen es nur darum ging, die Natur so gut wie
möglich nachzuahmen. Schon in der griechischen Mythologie gab es Automaten – in
Form künstlicher Vögel und sprechender Statuen. Dies wurde in der Literatur als
Automatenmotiv aufgenommen. Seither ist der künstliche Mensch ein beliebtes Motiv
in der Literatur. Hoffmann interessierte sich früh für dieses Thema und in seinem
Gesamtwerk kommen künstliche Menschen sehr oft vor. Die Novelle "Der Sandmann"
stellt sehr gut die seelischen Auswirkungen der Automaten auf den Menschen dar.
Da der künstliche Mensch immer etwas Geheimnisvolles in sich trägt, findet dieses
Geheimnisvolle seine Steigerung in einem unheimlichen Element, welches schließlich
zur Bedrohung wird. Ziel der vorliegenden Arbeit
ist, zu zeigen, inwieweit die Vollkommenheit der Automaten die Gefahr für die Identität
der menschlichen Persönlichkeit darstellt. Weiterhin ist darin das
Verhältnis von Mensch und Gesellschaft unter Berücksichtigung des Schicksalsaspekts
von zentraler Bedeutung. Zunächst soll die Geschichte und die Entwicklung des Automatenmotivs
in der Romantik und seine Bedeutung in Hoffmanns Werken dargestellt werden. Im weiteren
Verlauf soll Nathanaels Unfreiheit in Hinblick auf seinen Schicksaal betrachtet
werden. Hauptaspekt ist hier, Nathanaels Beziehung zum Automaten Olimpia und dessen
Funktion.
2. Die
Entwicklung des Automatenmotivs
2.1.
Geschichte des Automaten in Literatur und Technik
Der Wunsch nach der Belebung des Unbelebten und die mechanische
Nachahmung menschlicher Eigenschaften sind sehr alt. Allein die Beschäftigung mit
diesem Thema ist schon lange Zeit bekannt. Automaten wurden als Mechanismen gebaut,
die Bewegungen lebender Wesen nachahmten. Bereits im Altertum versuchte man, mit Hilfe der
Automaten ganze Theater nachzuahmen. Später entstanden automatische Uhren mit Figurenwerk, z.B. am
Straßburger Münster 1352 und an der Frauenkirche in Nürnberg. Etwa
200 Jahre später wurden erste mechanische Musikinstrumente entwickelt. Besonders die Renaissance-
und Barockzeit hatten eine Vorliebe für Automaten. Im 18. Jahrhundert
gelang es dem Mechaniker Jacques de Vaucanson, einen mechanischen Flötenspieler,
der durch die Bewegung seiner Lippen, Finger und seiner Zunge, zwölf Melodien spielen
konnte. Eine weitere Erfindung Vaucansons war eine mechanische Ente, die die Bewegungen
dieses Tieres ausführte. Sie konnte Nahrung zu sich nehmen und dann diese verdauen. Diese
mechanischen Automaten waren Nachbildungen der Natur. Dadurch wurde ein Höhepunkt in der Geschichte
des Baus von echten Automaten erreicht.
In der Literatur spiegelt sich die Faszination
der Menschen durch künstliche Menschen und ihr Begehren, unbelebte Gegenstände zum
Leben zu erwecken wider. Es gibt zahlreichen Werke, die sich mit dieser Problematik
beschäftigen. In der Antike schafft Hephaistos in Homers ,,Ilias" einen Erzriesen,
der der Verstärkung in Kampfsituationen dienen soll. Es sind Mythen überliefert
von mechanisch singenden Vögeln, selbstbewegten Wächtern und weissagenden Götterstatuen.
Der Universalgelehrte Albertus Magnus soll sich einen Diener aus Messing, Holz und
Leder konstruiert haben, den der Kirchenlehrer Thomas von Aquin in der Überzeugung,
Automaten seien Werke des Teufels, zerstört haben soll.
In den Jahren um 1800 kommt es zu einem massiven Auftreten des literarischen
Motivs des künstlichen Menschen: 1789 erscheinen Jean Pauls Werke Auswahl aus des Teufels Papieren und Die Frau aus bloßem Holz, beides Satiren, in
denen Jean Paul auf die Möglichkeit hinweist, dass Menschen durch Automaten vollständig
ersetzt werden könnten. Goethes Ballade vom Zauberlehrling
(1798) zeigt, wie ein durch Zauberkraft belebtes Objekt mehr Schaden als Nutzen
für seinen Schöpfer anrichtet und Mary Shelleys Frankenstein or the Modern Prometheus.
3. Der
Automat im Zeitalter der Romantik und seine Bedeutung in Hoffmanns Werken
Romantik bezeichnet eine kulturgeschichtliche Epoche, die vom
Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das 19. Jahrhundert hinein dauerte. In dieser
Zeit entwickeln sich Naturwissenschaften und Technik. Im Rationalismus und in der
Aufklärung kommt das grenzenlose Vertrauen in die Fähigkeit des menschlichen Verstandes
zum Ausdruck, die Wahrheit zu erkennen. Die bürgerlichen Denker streben danach,
"in den gesellschaftlichen Verhältnissen eine natürliche Ordnung und sogar
eine wissenschaftlich definierbare Gesetzmäßigkeit des Geschehens zu erkennen."
Es kam zur Entwicklung der Mechanisierung. Der Mensch wurde als eine Maschine bezeichnet
und die Welt mit einer pünktlichen Uhr verglichen. Der Arzt Joulien Offray de La
Mettrie geht in seiner Abhandlung L′homme machine aus dem Jahre 1748 so weit, dass er den Menschen
mit der Maschine gleichstellt. Er bezeichnete den Menschen als eine "Uhr, die
sich selber aufzieht."
Durch die
Industrialisierung war die Gesellschaft vom Gewinnstreben geprägt und sah im Menschen
nur ein ökonomisches Nutzwesen. In dieser Zeit vermehrten sich die menschenähnlichen
Maschinen. Die Romantiker wehrten sich
auf ihre eigene Art und Weise gegen den Materialismus, der sich in der Gesellschaft
immer mehr verbreitete, und neigten sich der mystischen Welt zu. Die Konstruktion von Automatenmenschen und Arbeitsmaschinen,
die dem Menschen ähnlich sind, stellten hierbei eine Bedrohung dar. Das Bürgertum
der Romantik legte deshalb sehr großen Wert darauf, dass der Mensch sich, von sich
aus, von der Technik unterscheidet.
E.T.A. Hoffmann gehört zu den frühen Warner vor den Gefahren der
Technisierung. Er interessierte sich früh für Automaten und beschäftigte sich mit
dieser Thematik in vielen Werken. Mit seinem Namen verbinden sich Spuk- und Dämonenglaube.
Seine Erzählungen und Romane machten ihn in kurzer Zeit berühmt. Hoffmann lässt
in seinen Werken keine eindeutige Interpretation zu: er erzählt multiperspektivisch
und lässt seinen Leser im Unklaren darüber, wo sich in seinem Werk die Grenzen zwischen
Traum und Realität befinden und welche Perspektiven als objektiv betrachtet werden
dürfen.
Hoffmann versuchte in seinen "Nachtstücken",
Dinge, die dem Menschen vertraut waren, zu verändern, indem er die Grenze zwischen
Wirklichkeit und Traum, Vernunft und Wahnsinn und Belebtem und Unbelebten verwischte. In seinen literarischen Nachtstücken verbinden sich phantastische mit psychologischen
Motiven. Sie schaffen dem Unbewussten sozusagen der Nachtseite der menschlichen
Psyche Raum und zeigen das Innenleben der Figuren.
Diese Stücke basieren also auf das Schauerliche und auf Gruseln,
wobei Hoffman diese noch mit einem Psychologischen Profil erweitert, wodurch seine
Werke noch Furchterregender sind. So sind Unsicherheit, Täuschung der Optischen
Wahrnehmung und der Sinne ständige Begleiter seiner Protagonisten.
Die Subjektivität bei der Betrachtungsweise spielt auch eine entscheidende
Rolle in diesen Werken. So verhält es sich auch bei Hoffmanns Nachtstück "Der Sandmann", in dessen Zentrum der seelische Zustand des
Protagonisten steht, der dem Irrsinn verfällt.
Während in Hoffmanns Werk "Die
Automate" vom Anfang an den Protagonisten
klar ist, dass sie mit einem Automaten zu tun haben, die Maschine also klar von
der Gesellschaft abgetrennt ist, wird in "Der Sandmann" ein Automat in die Gesellschaft "eingeschmuggelt",
was am Anfang fast von niemandem bemerkt wird. In "Die Automate" besteht das Rätsel der Maschine in ihrem Funktionieren
und in der Verbindung zu dem sich durch sie äußernden Sprecher; in "Der
Sandmann" besteht das
Rätsel der Maschine in der Frage, wie sich Maschine und Mensch überhaupt noch unterscheiden
lassen. Die Gefahr am Automaten ist nicht nur die, dass man ihn mit einem lebendigen
Menschen verwechseln könnte, sondern vielmehr die, dass es mit der Zunahme seiner
Perfektion immer schwieriger wird, überhaupt Differenzkriterien zwischen Mensch
und Maschine anzugeben." Eben diese Vollkommenheit des Automaten hat
etwas Unheimliches, weil Unmenschliches an sich ist.
Hoffmann stellt in „Der Sandmann“ vornehmlich die Wirkung des
Kunstproduktes auf den Menschen dar, der dieses nicht als solches wahrnimmt, und
die negativen Folgen, die diese Täuschung mit sich führen kann. Dies geht auch mit
der Hauptbedeutung einher, die das Motiv zur damaligen Zeit hatte – nämlich die
Absicht, die Gesellschaft und ihre Oberflächlichkeit darzustellen und zu kritisieren.
Es geht um eine Gesellschaft, wo die Grenzen zwischen Menschen und Automaten verschwimmen
und wo man nicht mehr weiß, ob man es mit einem menschlichen Automaten oder mit
einem automatisierten Menschen zu tun hat. "Da es in der Kommunikation aber
keine feststehenden Kriterien gibt, ob sie einem Menschen oder einer Maschine zuzurechnen
ist, hat das absurde Konsequenzen: »In den Tees wurde unglaublich gegähnt und niemals genieset,
um jedem Verdacht zu begegnen.« Automatismen
wird mit Automatismen begegnet. Die dargestellte Gesellschaftsform mit all ihren
Teezirkeln und Konventionen versucht zwar, Automaten auszuschließen, in Wirklichkeit
aber begünstigt sie das Automatenwesen."
4. Das
Automatenmotiv im „Sandmann“
4.1.
Nathanael und Clara
Nathanael, ein junger Student und Dichter, ist
Protagonist der Novelle. Er führt durch seinen Brief, in dem er über seine traumatischen
Kindheitserlebnisse berichtet, unvermittelt in die Erzählung ein. Die
Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola erweckt in ihm ein verdrängtes Kindheitstrauma.
Er glaubt in Coppola den Advokaten Coppelius wiederzuerkennen, dem er die Schuld
am Tode seines Vaters bei gemeinsamen alchemistischen Experimenten vorwirft. Außerdem
behauptet Nathanael, dass Coppelius seine Augen stehlen wollte. Mit dem Auftauchen
von Coppola werden die grausamen Erinnerungen aus der Kindheit wieder gegenwärtig,
er fürchtet sich vor einem "bösen Prinzip" und "dunklen Mächten".
Nathanael versteigt sich zu der Annahme, dass mit Coppola Coppelius, für ihn ein
Vertreter einer dunklen Macht, in sein Leben getreten sei und ihn zugrunde richten
wolle. Nathanael versteigt sich immer mehr in seine Vorstellung. Durch das ständige
Aufarbeiten seiner traumatischen Erlebnisse wird Nathanael zunehmend von sich selbst
getäuscht.
Es fällt sofort auf, dass Nathanael
einen sehr vielschichtigen und widersprüchlichen Charakter hat. Durch die Erlebnisse
in seiner Kindheit ist er von tiefer Unsicherheit zerrissen und wankt zwischen der
dunklen Welt von Coppelius (Coppola) und der klaren Welt seiner Verlobten Clara.
Er wird vom Erzähler als phantasievoller, schöpferischer Mensch gezeichnet mit besonderer
Stärke in anmutigen, lebendigen Erzählungen.
Wobei diese im Laufe der Zeit immer stärker von düsteren Eindrücken und dem Glauben
an dämonische Mächte bestimmt werden. Nathanael als träumerische Natur mit einer
Vorliebe für die phantastische Sphäre könnte man somit als typischen Vertreter der
romantischen Epoche verstehen, der in seinen Gedichten, seine Gefühle auszuleben
versucht.
Demgegenüber ist Clara, die Hellsichtige, die aufgeklärten Gedanken
vertritt (was schon allein an ihrem Namen deutlich wird). Nathanael und Clara stellen
zwei verschiedene, entgegengesetzte Prinzipien, zwei unterschiedliche Sichtweisen
dar, was allmählich zu ihrer Trennung führt. Clara wird
als gemütvolles, verständiges, kindliches Mädchen mit einem hellen, scharf sichtenden
Verstand beschrieben, die von vielen jedoch auch als kalt und gefühllos empfunden
wird. Sie ist
von eher schweigsamer Natur und repräsentiert als mütterlich-häuslicher Typ das
typisch bürgerliche Leben. Anders als Nathanael, vertritt Clara aufgeklärte Gedanken,
ist fest im Irdischen verwurzelt und hält nichts von mystischen Träumereien. Während
Nathanael glaubt, dass "jeder Mensch, sich
frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene",
vertritt Clara die Meinung, dass "alles
Entsetzliche und Schreckliche" allein im Innern des Menschen angelegt
sei.
Clara lehnt die in seinem Brief dargestellten Erlebnisse als bloße
Phantasterei ab, findet für alles eine vernünftige Erklärung und sagt, dass "alles
Entsetzliche und Schreckliche, wovon Du sprichst, nur in Deinem Innern vorging,
die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte." Sie versucht ihrem Verlobten klarzumachen,
dass all das Entsetzliche und Unheimliche weder in Form seiner wachgerüttelten Jugenderinnerungen
noch in dieser Doppelerscheinung Coppelius oder Coppolas bestünde, sondern nur in
seinem Innern geschehe. "Solange
du an ihn glaubst, ist er auch und
wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht."
Clara führt alles auf gewöhnliche und plausible Zusammenhänge
zurück, die nur durch die von der Sandmanngeschichte erfüllten Phantasien des Kindes
zum Wunderbaren und Abenteuerlichen verfremdet worden seien. Sie lehnt alle mystische
Schwärmerei ab und versucht ihren Verlobten wieder in ihre klare und verständige
Welt zurückzuholen. Doch dabei argumentiert sie so geschickt, dass der Leser dem
Jüngling Nathanael plötzlich kritischer und sogar etwas skeptisch entgegentritt.
Im Verlauf der Erzählung entfremdet sich
Nathanael zunehmend von Clara, die eine gänzlich andere Weltansicht vertritt, und
zieht sich mehr und mehr in seine eigene Welt zurück. Außerdem interessiert sich
Clara nicht mehr für Nathanaels Dichtung: "sein Verdruß über Claras kaltes prosaisches Gemüt stieg
höher, Clara konnte ihren Unmut über Nathanaels dunkle, düstere, langweilige Mystik
nicht überwinden, und so entfernten sich beide im Innern immer mehr von einander,
ohne es selbst zu bemerken."
Die Kulmination der Auseinandersetzung erfolgt nach der Empörung Claras gegen Nathanaels
immer düsterer werdende Dichtung - "wirf das tolle - unsinnige - wahnsinnige Märchen ins Feuer.",worauf er sie enttäuscht und wütend als "lebloses,
verdammtes Automat!" betitelt.
4.2.
Nathanael und Olimpia. Liebe zum Automaten
Nathanael wendet sich von einer Frau, die er für kalt und
gefühllos hielt und verliebt sich gerade in einen wirklichen Automaten Olimpia,
den der Physiker Professor Spalanzani mit Hilfe des Wetterglashändlers Coppola
(der ebenso die Figur des Coppelius verkörpert), konstruiert hat.
So sehr er Clara immer
mehr als Automaten ansieht, so sehr sieht er den Automaten Olimpia als wunderbaren
Menschen an. Das gekaufte Taschenperspektiv von Coppelius ist Grund für diese Sinnverschiebung.
Als Nathanael Olimpia durch ein Taschenperspektiv erblickt hat, merkte er, dass
sie nicht nur "wunderschön geformtes Gesicht",
sondern auch "starren und toten Augen"
hat. Doch je länger er durch das Perspektiv schaute, desto "lebendiger flammten die Blicke"
und es war ihm, als "gingen in Olimpias Augen feuchte Mondstrahlen auf."
Hier findet eine wichtige Wendung statt, denn Nathanaels Wahrnehmung wird durch
das Perspektiv so verändert, dass er Olimpia "anderen Augen" sieht. Ihre Augen erscheinen ihm nur durch Fremdeinwirkung als lebendig, vorher
fand er ja auch, dass sie leblos aussehen. Er ist nicht mehr in der Lage, die Puppe Olimpia von einem realen
Menschen zu unterscheiden. Sie ist in seinen Augen so perfekt, dass ein Differenzieren
zwischen real und künstlich für ihn unmöglich ist.
Olimpia wird von Nathanael
als große Liebe angesehen. Erst in ihr glaubt er die ideale Partnerin gefunden zu
haben: Anders als Clara, hört sie ihm stundenlang zu, ohne ihm etwas entgegenzusetzen
und verkörpert somit die ideale Zuhörerin: "[...] er lebte
nur für Olimpia, bei der er täglich stundenlang saß und von seiner Liebe [...] fantasierte,
welches alles Olimpia mit großer Andacht anhörte. Aus dem tiefsten Grunde des Schreibpults
holte Nathanael alles hervor, was er jemals geschrieben. [...] und das alles
las er der Olimpia stundenlang hintereinander vor, ohne zu ermüden. Aber auch noch
nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte und strickte nicht,
sie sah nicht durchs Fenster, sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem
Schoßhündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie drehte kein Papierschnitzchen, oder
sonst etwas in der Hand, sie durfte kein Gähnen durch einen leisen erzwungenen Husten
bezwingen - Kurz! Stundenlang saß sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten
ins Auge, ohne sich zu rücken und zu bewegen [...]" Es wird deutlich dass Nathanael im Grunde
genommen keine Liebespartnerin sucht, mit der er ernsthafte Gespräche führen kann,
sondern nur eine Projektionsfläche für sein eigenes Ich. So spricht er zu Olimpia:
"O du herrliche, himmlische Frau! – Du Strahl
aus dem verheißenen Jenseits der Liebe – Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes
Sein spiegelt." Ihre Fähigkeit,
seine eigene Persönlichkeit zu spiegeln - dies macht Olimpia für Nathanael attraktiv.
Sie ist nicht ein wirklicher Partner sondern ein "Spiegel seiner Seele".
Olimpia reflektiert stumm das Vorgetragene zurück und lässt Nathanael Raum für sein
eigenes Sinnieren. Indem Nathanael seine Seele in ihre
innere Leere versetzt, belebt er die mechanische Holzpuppe. Olimpia ist für
Nathanael wie eine weiße Wand, auf die er seine Seele projizieren kann. Er liebt
folglich nicht Olimpia, sonder sich selbst. Der Grund für solche
pathologische Liebe ist ohne Zweifel sein Narzissmus. In ihr "liebt er nichts anderes als sein eigenes Ich, das von
ihr reflektiert wird. Nur sie kann ihn ganz verstehen, denn in ihr regt sich keine
andere Persönlichkeit, sondern sie wirft ihn auf sich selbst zurück."
Man könnte auch sagen,
dass Nathanael blind vor Liebe ist. Alles, was darauf hinweist, dass Olimpia nur
ein Automat ist, ignoriert er oder findet für sich plausible Erklärungen. Für die
These, dass er das Automatische ignoriert, sind folgende Textstellen zu nennen.
"[...]aber Olimpia seufzte bloß immer wieder:
Ach, Ach!" "[...]aber Olimpia seufzte, indem sie aufstand, nur: Ach-Ach!"
"Ach,ach!, replizierte Olimpia fortschreitend."
Olimpia antwortet meistens nur mit diesen Worten, weil sie vermutlich
gar nichts anderes sagen kann oder auf gar nichts anderes programmiert ist. Doch
das nimmt Nathanael einfach nicht wahr. Ihn stört nicht ihre Wortkargheit. Ganz im Gegenteil zeigt ihm Olimpias Wort "Ach"
ihr absolutes Verständnis ("nur von dir,
von dir allein werd′ ich ganz verstanden")
und verrät dem liebenden Nathanael ihr "tiefes
Gemüt". Dieses Wort drückt für ihn alles aus, wonach er auf der Suche
ist. Während kritische Clara seine Dichtung nicht mehr mag und „nicht versteht",
ist Olimpia für ihn "ein ideales Publikum,
das ihm die benötigte Anerkennung gibt, und sie ist doch zugleich nichts Eigenes
und Abgrenzbares, sondern nur sein Spiegel." Deshalb ist sie für ihn so begehrenswert. "Das
mechanische, notwendig verständnislose Seufzen der Puppe, [...] verwechselt er mit
hingegeben liebevollem Zuhören, weil die völlige Leere und Passivität des weiblichen
Partners als Ideal, das seiner isolierten Selbstsucht bequemste Verhalten ist, seinem
Wunschtraum entspricht."
Er füllte Olimpias leeren
Körper mit seiner Seele und bemerkte deshalb nicht, dass sie in Wirklichkeit ein
Automat ist. Nathanael wollte sie sogar heiraten und ihr den Ring seiner Mutter
"als Symbol seiner Hingebung, seines aufkeimenden,
blühenden Lebens darreichen." Doch dann erfuhr
er durch einen Streit zwischen den Erbauern, Spalanzani und Coppola, dass Olimpia
durch ein Räderwerk angetrieben wird und ihre künstlichen Augen eingesetzt wurden. Nathanael sah "Olimpias todbleiches Wachsgesicht" und als er ihre
blutigen Augen auf dem Boden entdeckte, packte ihn „der Wahnsinn mit glühenden Krallen“ und „Sinn und Gedanken“ sind zerrissen.
Es ist ganz klar, warum ihn die Zerstörung Olimpias in Wahnsinn und schließlich
in den Selbstmord getrieben hat - ihre grausame Zerstörung war aufgrund seiner narzisstischen
Liebe gleichsam die Selbstzerstörung, Zerstörung seines eigenen Ichs. "Da er in ihrer Liebe sein Selbst wiederfindet, muss ihre
Zertrümmerung seine eigene Vernichtung nach sich ziehen."
4.3.
Die Gesellschaftskritik
Schon bei der ersten Begegnung, beobachten die Gäste Olimpias
unnatürliches Verhalten. Sie unterscheidet sich, durch ihre Perfektion, von der
Gesellschaft, wird aber trotzdem nicht sofort als Automat entlarvt. Doch nicht
nur ihr künstliches Aussehen wird durch den Erzähler geschildert, sondern auch ihre
übernatürlichen Talente in Musik und Tanz. So "spielte sie den Flügel mit großer Fertigkeit, [...] trug ebenso eine Bravour-Arie
mit heller, beinahe schneidender Glasglockenstimme vor"und
tanzte mit einer ganz "eigenen rhythmischen
Festigkeit" Hier verdeutlicht
sich für die Gäste, dass Olimpia anders ist als der Rest der Gesellschaft, da sie
durch ihre Perfektion alle Blicke auf sich zog.
Siegmund, ein Studienfreund Nathanaels,
ist der Erste und Einzige, der ihn darüber aufklärt, dass Olimpia kein "echter"
Mensch ist. Er spricht im Namen der Gesellschaft und weist Nathanael darauf hin,
dass sie eine Holzpuppe mit einem Wachsgesicht
ist. Ebenso erzählt er, dass sie ihm und der Gesellschaft "starr und seelenlos erschien. Ihr Wuchs ist regelmäßig,
so wie ihr Gesicht, das ist wahr! - Sie könnte für schön gelten, wenn ihr Blick
nicht so ganz ohne Lebensstrahl, ich möchte sagen, ohne Sehkraft wäre. Ihr Schritt
ist sonderbar abgemessen, jede Bewegung scheint durch den Gang eines aufgezogenen
Räderwerks bedingt. Ihr Spiel, der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz. Uns
ist diese Olimpia unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben,
es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr
eine eigne Bewandtnis."
Ihr Körper und ihr Gesicht sind beinahe zu regelmäßig, wie auch ihre Bewegungen.
Olimpia dient als satirisches Sinnbild
der Gesellschaft, denn für die Gesellschaft zählt nur der äußere Schein. Und eben
Olimpia gibt vor etwas zu sein, was sie nicht ist, wie auch die meisten Menschen
darauf bedacht sind perfekt und vollkommen zu erscheinen. Dies sind sie aber nicht,
denn Mensch sein bedeutet auch immer unvollkommen und mit Fehlern behaftet zu sein.
Der Unterschied zwischen Automat und Mensch lässt sich nicht am Äußeren und der
Kommunikation festmachen, denn das alles ist nur äußerer Schein und ist keine notwendige
Vorraussetzung für menschliches Empfinden.
Paradoxerweise wird Vollkommenheit von Menschen immer angestrebt,
aber wenn sie erreicht worden wäre, würde das als "unmenschlich" gelten,
weil Menschen eben nicht perfekt sind. Diese Erkenntnis hat im Sandmann paradoxe
Folgen: " [...] die Geschichte mit dem Automat
hatte tief in ihrer Seele [der "hochzuverehrenden Herren"] Wurzel gefaßt
und es schlich sich in der Tat abscheuliches Mißtrauen gegen menschliche Figuren
ein. Um nun ganz überzeugt zu werden, daß man keine Holzpuppe liebte, wurde von
mehreren Liebhabern verlangt, dass die Geliebte etwas taktlos singe und tanze, dass
sie beim Vorlesen sticke, stricke, mit dem Möpschen spiele u.s.w., vor allen Dingen
aber, dass sie nicht bloß höre, sonder auch manchmal in der Art spreche, dass dieses
Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze."
Das Denken und Fühlen wird also als nur dem Menschen angehörig beschrieben. Das
ist aber nicht so leicht bemerkbar, wie das Beispiel von Olimpia zeigt, die unter
den Menschen eine Zeitlang "funktionierte" - in sinnentleerten Gesprächen
der Teezirkeln reichte ihr bescheidener Wortschatz durchaus aus. "An der Fähigkeit zu kommunizieren lässt sich dieser Unterschied
zwischen Mensch und Maschine in Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" jedenfalls
nicht mehr festmachen, denn die Kommunikation wird darin als etwas Äußerliches,
nicht notwendig mit menschlichem Empfinden in Zusammenhang stehendes beschrieben.
Dass jemand spricht, muss nicht unbedingt voraussetzen, dass er auch denkt und fühlt."
5. Schluss
Das Automatenmotiv steht oft für die in
der Romantik oft behandelte Zerrissenheit des menschlichen Daseins. Automaten werden
dazu benutzt, um die Unheimlichkeit und das Grauen zu erzeugen. Unheimlichkeit der
Automaten liegt daran, dass Automaten Spiegelbilder sind. Je künstlicher der Automat
gestaltet ist, desto unheimlicher er vorkommt.
Hoffmann benutzt das Automatenmotiv, um
die Beziehung des Menschen zu seiner Außenwelt darzustellen. In der Novelle wird
Olimpia auf zwei Weisen dargestellt. Auf der einen Seite aus der Sicht Nathanaels
und auf der anderen aus der Sicht des Erzählers und der Gesellschaft.
Nathanael, der aufgrund seiner narzisstischen Persönlichkeit und
Glaube an dunkle Mächte, zu einer echter Kommunikation und damit zu einer echten
zwischenmenschlichen Beziehung nicht fähig ist, findet in der stummen und passiven
Olimpia eine passende Partnerin. Die Holzpuppe wird zu einem himmlischen Geschöpf,
das ihn versteht und so denkt er, während es sich um eine Widerspiegelung seiner
eigenen Gefühle handelt. Nathanael sieht in den leeren Augen Olimpias sein eigenes
Spiegelbild, er reflektiert seine Liebe. Nathanael projiziert in die "Gespräche"
mit Olimpia sich selbst in Olimpia, er führt eigentlich nur Selbstgespräche, eine
Art Selbstfindung. Die Zerstörung der Holzpuppe, in deren Liebe er sein Selbst wiederfindet,
zieht dann aufgrund dieser narzisstischen Selbstidentifikation seine eigen Vernichtung
nach sich, die im Ausbruch des Wahnsinns offenkundig wird.
Die Automaten helfen Hoffmann diese Probleme, einerseits in der
Gesellschaft, andererseits für einzelne Personen, zu verdeutlichen. Ebenso verdeutlicht
er die Risiken, die die Automaten mit sich ziehen. Obwohl sie nicht in der Gesellschaft
geduldet werden, sind sie ein Teil von ihr und führen dazu, dass die Menschen sich
immer mehr von ihnen beeinflussen lassen.
Olimpia war der Gesellschaft von Anfang an suspekt, jedoch stellte
sie für Nathanael das passende Gegenstück dar. Er war der einzige, der sie lebendig
sah, aber zugleich war er auch derjenige, der sie, für sich, lebendig machte. Wenn
er die Liebe in ihren Augen sah, dann sah er seine eigene Liebe, die sich in ihr
spiegelte. Die Gesellschaft betrachtete Olimpia von außen, sie wurde nicht durch
ein Perspektiv Coppolas beeinflusst. Ihre Art fiel der Gesellschaft negativ auf,
da sie keine menschlichen Schwächen besaß. Sie musizierte, tanze und sang perfekt
und dies führte dann dazu, dass sie steif und mechanisch wirkte, was sie auch war.
Was vorher als eine Schwäche galt wurde nun zum Beweis der Menschlichkeit und zur
Distanzierung von den Automaten.
6. Literaturverzeichnis
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Stuttgart 2003
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von Rudolf Drux, Philipp Reclam jun. Stuttgart 2003
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von E.T.A. Hoffmann, Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Deutsche Sprache und
Literatur, Bd./Vol. 907, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt
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Schenck, Ernst von: E.T.A. Hoffmann, Ein Kampf um das Bild des
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Vogel, Nikolai: E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann"
als Interpretation der Interpretation, Münchener Studien zur literarischen Kultur
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am Main · Bern· New York
Zmegac, Viktor (Hrsg.), Kleine Geschichte der deutschen Literatur,
Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beltz Athenäum Verlag, Weinheim, 1997