„Comenius- Reformer mit Weitblick“
Protokoll
zur Vorlesung
1. Einleitung
Anhand des Romans „Das Labyrinth der
Welt und das Paradies des Herzens“ von Johann Amos Comenius aus dem Jahr 1631
lassen sich sehr gut seine pädagogischen Gedanken und Ansichten verfolgen. Der
Roman stellt ein Selbstzeugnis des Comenius dar und führt uns in sein
pädagogisches Denken ein. Es handelt sich bei diesem Roman nicht nur um eine
Trostschrift, dafür behandelt er zu vielfältige Vorstellungen, sondern vielmehr
um einen religiösen, barocken Roman, dessen „Vanitasmotiv“ kennzeichnend für
die Barockliteratur steht. Neben der Dialektik von Schein und Sein enthält der
Roman auch aufklärerische Züge, die sich in verschiedenen Motiven des Romans
wiederspiegeln.
2. „Das Labyrinth der Welt und das
Paradies des Herzens“ als Aufklärungsroman
2.1 Betonung der Vernunft als
Weltzugang
Bereits in der Vorrede schreibt
Comenius der Vernunft eine wichtige Bedeutung zu. Der Protagonist, der Pilger,
geht durch die Welt und erst durch die Vernunft stellen sich die gesammelten
Erfahrungen als erbärmliche Irrungen heraus. Die Irrungen durch das Labyrinth
werden erst aus einer vernünftigen Perspektive heraus sichtbar. Während seiner
Wanderung trifft er zwei Gefährten, den Allwisser „Überall dabei“ und den
Dolmetscher „Verblendung“, die ihm Zaumzeug und Brille verpassen. Der Pilger
entdeckt aber, dass er unter der Brille hindurchschauen kann, so dass es den
beiden Gefährten nicht gelingt die Vernunft- und Urteilskraft des Pilgers zu
„knebeln“. Diese Einsicht stellt die Grundlage für den Aufbruch, für die
Wanderschaft in die Welt dar.
2.2 Eigenständige Entscheidung über
Lebensgestaltung
Der junge Protagonist stellt Fragen
an das Leben. Er möchte die Kriterien der Entscheidung selber bestimmen und
geht dabei nur von sich selbst aus. Die eigenständige Entscheidung über sein
Leben stellt hier ein zentrales Motiv der Aufklärung dar.
2.3
Selbsterkennung/Selbstermächtigung des Subjekts
Der Protagonist befreit sich von
vorgegebenen Autoritäten und Traditionen sowie der Zuteilung der Lose. Er löst
sich von der Ständeordnung, die normalerweise darüber entscheidet, wie ein
einzelner sein Leben zu führen hat. Hier wird ein historischer Aufbruch
beschrieben: die Abschaffung von Fremdbestimmung in sozialer (Ständeordnung),
politischer (Selbstbestimmung als Partizipation und Mitbestimmung) und
geistiger Hinsicht als Ausdruck der Aufklärung. Die Selbstbestimmung, das
eigenständige Prüfen der Kriterien stellt die Lebensgrundlage des Pilgers dar.
Die Selbstbestimmung des Pilgers wird jedoch durch seine Begleiter erschwert.
Comenius setzt seine emanzipatorische
Haltung auch literarisch im Roman um. Der Roman stellt eine ernste Handlung
dar, jedoch vertritt der Protagonist keine Standesperson wie im barocken Roman
üblich, sondern er steht stellvertretend für jede menschliche Person, die hier
sogar die Ständeklausel durchbricht. Das bedeutet, dass das Schicksal des
Protagonisten nicht von vornherein festgelegt ist, im Gegenteil, die sozialen
Verhältnisse bleiben völlig offen. Das Ziel des Protagonisten ist es, einen Ort
in der Welt für sich zu finden, er ordnet sich somit keiner weltlichen Macht
unter.
Der Mensch sei also in der Lage, sich
von all diesen Bedingungen und Mächten zu befreien, wenn er sich nur selber
vernünftige und eigenständige Urteile bilde. Dies entspricht bereits dem
kritischen Denkansatz von Kant (Sapere aude! - Habe Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen!),
als einem der wichtigsten Vertreter der Aufklärung.
Im weiteren Verlauf des Romans
benutzt Comenius die Apotheke als Metapher für die Bibliothek. Die Bücher
stehen dabei stellvertretend für die Arzneibehälter. Die Wahl darüber, welche
Arzneien man sich zufügt, entscheidet über Gesundheit und Krankheit. Die Bücher
mit all ihren gesammelten Wissenschaften können das menschliche Leben bzw. den
Geist heilen oder vergiften. Das heißt, der Mensch ist selbst in der Lage zu
entscheiden, welches Wissen ihn „krank“ macht oder „heilt“. Während seiner
Wanderschaft entdeckt der Pilger auch den Laborraum hinter der Apotheke, der
ein Bild der geistigen Produktivität der Wissenschaftler wiederspiegelt. Das
Unbesehene soll nicht einfach hingenommen werden, es bedarf der eigenen
Urteilskraft und Einsicht zu entscheiden, welches Wissen verbreitet wird.
Hierhinter verbirgt sich die Frage nach einer Ordnung der Welt, die laut
Spinoza und Leibniz als Beginn der aufklärerischen und rationalistischen
Sichtweise gesehen werden kann. Trotz des endlichen Geistes sei mit Hilfe des
rationalistischen Denkens der Aufbau der Welt erkennbar. Comenius kommt jedoch
zu dem Urteil, dass die Ordnung der Welt vordergründig nicht zu erkennen ist.
3. „Das Labyrinth der Welt und das
Paradies des Herzens“ als Bildungsroman
Obwohl sich der Gattungsbegriff
„Bildungsroman“ erst spät, Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert hat, weist der
Roman bereits einige Züge dieser Gattung auf, so dass man ihn als Bildungsroman
auslegen kann. Bereits im 18. Jh. wurden die Kennzeichen des Bildungsromans im
Kontext der Formulierungen klassischer Bildungstheorien (z.B. von Herder,
Schiller, Goethe, Humboldt) formuliert. Als traditionsbildendes Muster der
Gattung gilt Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ aus dem Jahr 1795/96.
Kennzeichen des Bildungsromans:
Ø
Konstante
Grundstruktur: Entwicklung eines jugendlichen Protagonisten in
Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu einer „reifen“ Persönlichkeit, die
einen Ort in der Gesellschaft und einen „Sinn“ in ihrer Existenz findet
Ø
die Bedeutung
verschiedener Stationen, in denen der Protagonist den Prozess seiner
Selbstfindung modifiziert, indem er die Reichweite seiner Kräfte und Talente
unter Beweis stellt und die Realisierung von Lebensplänen prüft
Ø
nach den Kinder-
und Jugendjahren folgen Jahre der Welterkundung durch Wanderschaft und Reisen,
um so bisher unbekannte soziokulturelle Kontexte zu erschließen
Ø
Anspruch auf
Ausprägung und Behauptung der eigenen Individualität gegenüber den Ordnungen
der Gesellschaft
Ø
Ende als
Versöhnung von Ich und Welt, Individualität und Gesellschaft durch Finden der
eigenen Lebensform als Erwachsener
Ø
Nähe von
Autobiographie und Bildungsroman
Ø
Bildungswirkung
für den Leser
Die historische Einordnung des
Bildungsromans sollte jedoch nicht zu eng gefasst werden, da auch schon vor
Goethes „Wilhelm Meister“ strukturelle Ansätze formuliert wurden. So hat schon
Friedrich von Blanckenburg in seinem Werk „Versuch über den Roman“ im Jahre
1774 eine Handlung beschrieben, die sich nur auf die Begebenheit einer Person
bezieht, bei der Bildung und Formung des Charakters zur Darstellung kommen sollen.
Zentrale Gegenstände des Bildungsromans sind die „innere Geschichte des
Protagonisten“ sowie die Entwicklung seiner „Denkungs-und Empfindungskräfte“,
die schließlich zu einem „Beruhigungspunkt“ als vorläufigem Abschluss der
Geschichte führen. Wichtig ist hierbei die Bildung des Lesers.
Auch heute erzählt der Bildungsroman
die Entwicklungsgeschichte eines jugendlichen Protagonisten bis ins
Erwachsenenalter, seinen Weg der Selbstfindung und der sozialen Integration.
Jedoch werden heutzutage vermehrt sozialwissenschaftliche Theorien und
Gesellschaftstheorien mit einbezogen. In diesem Zusammenhang sind Ortrud
Gutjahr „Einführung in den Bildungsroman“ und Gerhart Mayer in „Der deutsche
Bildungsroman. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart“ repräsentativ zu erwähnen.
Bereits bei Comenius‘ „Labyrinth der
Welt“ sind Grundlinien des Bildungsromans vorgeprägt. So ist auch bei Comenius
die konstante Struktur ausschlaggebend: Ein jugendlicher Protagonist versucht
in Auseinandersetzung mit der Umwelt seinen eigenen Lebensort zu finden. Auch
die verschiedenen Stationen mit ihren unterschiedlichen Weltordnungen steuern
den Prozess der Selbstfindung des Protagonisten. Bei jeder Station vollzieht
sich ein ähnliches Schema: Der Protagonist entlarvt die Irrtümer und deckt den
Unverstand der Ordnungen auf. Die Zielsetzungen des Protagonisten ändern sich
jedoch im Laufe des Romans. Als Jugendlicher tritt der Pilger seine Wanderung
mit dem Ziel an, ein möglichst bequemes Leben zu führen, doch von Station zu
Station verschiebt sich seine Zielsetzung in Richtung der Frage nach dem Sinn
und der Ordnung überhaupt, nach Wahrhaftigkeit und Korruptions- und
Gewaltfreiheit. Comenius beschäftigt sich also mit der zentralen Frage, wie der
einzelne Mensch in der Unordnung der Welt mit all ihren Herausforderungen
seinen Platz findet. Dieses zentrale Motiv spiegelt sich im Bildungsroman
wieder.
Neben den Gemeinsamkeiten gibt es
auch Unterschiede zum klassischen Bildungsroman. Der Protagonist macht sich
erst nach seinen Kinder-und Jugendjahren auf die Reise, sein Bildungsgang
beginnt sozusagen erst nach dem Scheitern der Welt. Auch trägt der Protagonist
keine individuellen Züge, er stellt einen exemplarischen Menschen dar. Das Ziel
bei Comenius ist nicht die gesellschaftliche Anpassung. Er hat die
Bildungswirkung des Lesers in seinem Werk mit eingebunden. Der Leser ist dazu
aufgefordert den Roman kritisch zu lesen und das Urteil des Protagonisten zu
prüfen, d.h. der Leser muss sich zunächst als würdig erweisen. Die Versöhnung
von Ich und Welt bleibt in Frage gestellt.
4. Das
vernunftkritische/subjektkritische Potenzial des Romans
Im Roman werden zugleich starkes und
schwaches Subjekt dargestellt. Das starke Subjekt kann sich immer noch ein
Urteil bilden, indem es unter der Brille hindurchschaut. Zugleich unterwirft es
sich jedoch der Macht der Königin, indem es die Vernunft außen vorlässt, sich
der Ordnung anpasst und jeglichen Widerstand bricht. Jede Selbsttätigkeit wird
durch die Begleiter unterdrückt, so ist auch die Welterkundung nur durch Führung
und Disziplinierung (Zaumzeug und Brille) möglich. Comenius sieht das Subjekt
von vornherein als Konkurrenz zur politischen und sozialen Macht, er teilt den
aufklärerischen Gedanken der Freiheit nicht. Das Ende verweist somit auf die
einzige Grenze der Macht: Tod und Gott. Der Ausweg des Subjekts besteht in
einer Hinwendung zu Gott, die Loslösung von den Machtverhältnissen ist eine
transzendent-religiöse Weltordnung, die die Antwort auf alle Sinnfragen in
sich trägt.
Insgesamt greift Comenius in seinem
Werk Aspekte auf, die uns auch heute noch beschäftigen. Ein zentrales Thema
stellen hierbei die Spannung zwischen Welt und Glaube bzw. die Spannung
zwischen Ich und Welt dar. Wichtig ist für Comenius die transzendent-religiöse
Weltordnung, so beschäftigt sich sein Hauptteil des Werks mit Analysen und
Verwerfung der Welt. Ist das ganze nur ein vergebliches Labyrinth in dem man
den roten Faden für den Ausgang finden muss? Comenius hat die
Widersprüchlichkeit seines Werks nicht gelöst. Der Wanderer kommt immer zu dem
Entschluss, dass es mit der Ordnung der Welt nicht gut bestellt sei, die
Ordnung müsse man im Glauben suchen. Ist demnach eine Ordnung in der Welt nicht
möglich sondern nur in der heiligen Schrift? Ist das „Wanderermotiv“ nur eine
Auswegsuche?
Auf diese Fragen bezieht sich
Comenius in seinen späteren pädagogischen Schriften, in denen er jedoch
optimistischer ist, als in seinem Roman. Gegenstand seiner Schriften ist die
Frage: Wie verhält sich die göttliche Ordnung zur menschlichen?
In seinen Büchern wird der Leser
stets wie ein Wanderer durch die einzelnen Kapitel geführt, Comenius greift
hier das „Wanderermotiv“ also nochmals auf.