Ich
richte meine blonden, schulterlangen Haare, rücke den roten Hut
zurecht und ziehe meinen Lippenstift nach. Gleich werde ich ins Kino
gehen und danach vielleicht noch in eine Bar, nur etwas trinken. In
meinem Kopf ziehe ich eine sarkastische Grimasse. Heute ist mein
freier Tag.
Ich
ziehe meinen langen Mantel an, dunkelgrün, wie die Augen meiner
Schwester, die ihn mir geschenkt hat, bevor wir den Kontakt verloren.
Nach einem letzten Blick in den Spiegel gehe ich mit gestrafften
Schultern aus Tür 17 hinaus. Auf meinem Weg in die Stadt sehe ich
Wahlplakate der führenden Partei, dreckige Jungen um das zehnte
Jahr herum, die mich stumm anstarren und dann weiterspielen, und aus
einem Café höre ich das Radio, das die deutsche Gemeinschaft
ermutigt. Es ist mir egal, denke ich, sollen sie alle im Krieg
krepieren, alle sind mir egal. Die Regierung darf mich mal.
Ich
drücke die Tür zum Kino auf, bezahle meine Eintrittskarte und setze
mich in den abgewetzten Sessel. Hier saßen schon viele Menschen. Der
Film ist mittelmäßig, ich habe schon bessere gesehen, aber auch
schon schlechtere. Als ich wieder aus dem Kino herauskomme, ist es
dunkel und ich ziehe meinen Mantel enger um mich. Vielleicht werde
ich in einer Bar eine nette Gesellschaft finden, mit der ich den
Abend verbringen kann. Mit raschen Schritten lege ich die letzten
Meter zurück, dann stoße ich die Flügeltür zu dem Nachtlokal auf
und mir kommt eine Welle von Rauch entgegen. Ich gehe auf die Bar zu
und bestelle mir ein Glas Absinth. Ich setze mich an einen Tisch in
der Nähe der Bar und beobachte die Leute, die außer mir noch hier
sind. Hauptsächlich sind es Männer um die Vierzig,
Berufskolleginnen und bei der oberen Schicht in Ungnade Gefallene,
wie Julius Caesar. In zwei Tagen werde ich mich mit ihm treffen, mit
ihm und seinem Freund, einem Lehrer, der am Gymnasium unterrichtet.
Ich weiß nicht genau, was er vorhat, doch ich bin ihm noch etwas
schuldig, seit er mir aus dieser Situation herausgeholfen hat, als
ein Kunde zu aufdringlich wurde. Er erwähnte ständig einen Fisch.
Gott, was für ein Fisch? Julius hat mir den Plan erklärt, ich soll
mich mit dem T im Kino treffen, und ich soll so tun, als wäre ich in
ihn verliebt. Ich mag den T nicht, doch er zahlt gut. Wenn Julius
Plan aufgeht, muss ich nur in ein Lokal mit ihm gehen und ihn
betrunken machen, den Rest erledige er, sagte er. Hoffentlich dauert
das nicht den ganzen Abend, mein Geld wird bald knapp. Ich blicke
mich um, die meisten Männer haben eine weibliche Begleitung. Ich
habe keine männliche. Ich habe nicht einmal eine Freundin, mit der
ich etwas trinken gehen könnte.
Als
ich mich erneut umblicke, da ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung
wahrnahm, steht ein junger Mann mit einem Glas vor mir.
„Darf
ich mich zu ihnen setzen, schöne Frau?“ Soll er doch, solange er
nicht unfreundlich wird. Ich bin froh um ein wenig Gesellschaft.
„Warum
so alleine hier?“
„Wieso
sind sie alleine hier?“ entgegne ich, ich will nicht auf seine
Frage antworten. Er lächelt.
„Ich
mag Frauen mit Temperament.“
Ich
trinke einen Schluck, sehe ihm nicht in die Augen.
„Ich
bin Oskar Schneider. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Erzählen
sie mir doch ein wenig von sich.“
Ich
schweige. Was soll ich darauf antworten?
„Ich
heiße Nelly.“
„Mehr
gibt es nicht zu erzählen? Sie heißen Nelly, und fertig?“ er
lacht. „Erzählen sie mir von ihrer Familie.“
Ich
zögere. Ich mag den Akzent, mit dem er spricht. Und er scheint nett
zu sein. Diese Stadt ist so groß, ich werde ihn wahrscheinlich nie
wiedersehen, denn seine Kleidung sieht teuer aus. Warum nicht ein
bisschen Aufmerksamkeit bekommen und dann wieder in meine Stille
zurücktauchen?
„Es
gibt nicht viel zu erzählen.“ Ich trinke wieder einen Schluck aus
meinem Glas. „Ich habe eine ältere Schwester, die jetzt Ärztin in
Berlin ist, und ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich habe keinen
Kontakt mehr zu meiner Schwester. Meine Eltern leben in einem Dorf im
Südwesten Deutschlands und reden kaum miteinander.“ Warum erzähle
ich nicht irgendeine Absurdität? Ich kenne den Mann, der jetzt vor
mir sitzt, kaum. Um die Pause zu überbrücken, trinke ich noch einen
tiefen Schluck aus meinem Glas.
„Vielleicht
war meine Kindheit auch gar nicht so glücklich. Oder doch, bis ich
neun Jahre alt war, dann hat mein Vater meine Schwester missbraucht,
aber sie hat sich gewehrt. Sobald sie aus dem Haus war, um Medizin zu
studieren, hat er die übrige Tochter zu seinem Zweck benutzt. Beim
ersten Mal war ich 13.“
Ich
schließe die Augen bei der Erinnerung. Von meinem Zuhörer kommt
kein Wort. Ich nehme einen Schluck, will das gerade ausgesprochene
wieder ungeschehen machen, aber ich merke, wie der Alkohol zu wirken
beginnt. Ich werde redseliger. Ich bin wenig Alkohol gewöhnt. Ich
ziehe eine Zigarettenschachtel aus meiner Tasche und biete meinem
Gegenüber eine davon an. Wir rauchen.
„Mit
17 bin ich von Zuhause weg und in diese Stadt gezogen. Mein Vater
fand das gar nicht gut. Ich habe weder zu ihm noch zu meiner Mutter
noch Kontakt. Sie hat nicht ein Wort gesagt und sie wusste genau, was
mein Vater tat. Vielleicht sind sie auch schon gestorben. Wer weiß
das schon.“
Ich
trinke. Die Worte kommen aus meinem Mund, ich will sie nicht hören.
„Als
ich hier ankam, hatte ich nichts außer meinem Koffer mit ein paar
Kleidern und diesen Mantel und meinen Hut. Ich habe keine Arbeit
bekommen. Ich brauchte Geld. So leicht geht das.“ Ich runzele die
Stirn und nehme noch einen Schluck aus meinem Glas. Es ist bald leer.
Danach werde ich heimgehen.
„Aber
ich bin keine von diesen Huren, die jeden Freier nehmen, oh nein. So
eine bin ich nicht. Ich suche mir meine Kunden selbst aus.“ Ich
setze mich noch gerader hin und blicke dem Mann, der mit mir am Tisch
sitzt und dessen Name ich morgen vergessen haben werde, zum ersten
Mal in die Augen. Es sind helle, durchdringende Augen. Ich schaudere.
Ein Gedanke durchzuckt meinen Kopf, doch bevor ich ihn fassen kann,
ist er wieder weg. Ich leere mit einem letzten Schluck mein Glas,
drücke meine Zigarette aus und rücke meinen Hut zurecht. „ Ich
sollte jetzt gehen. Auf Wiedersehen, Herr Schneider.“
Beim
Hinausgehen spüre ich seinen stechenden Blick im Nacken. Mir fällt
auf, dass ich nichts über ihn weiß. Scham steigt mir ins Gesicht.
Wieso erzähle ich einem Fremden diese Dinge über mich?
Er
hat während ich erzählte, die ganze Zeit nichts gesagt.
Was
für eine merkwürdige Bekanntschaft.