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Aufsatz
Deutsch

Universität, Schule

Pädagogische Hochschule Freiburg - PH

Note, Lehrer, Jahr

2015

Autor / Copyright
Jacqueline S. ©
Metadaten
Format: pdf
Größe: 0.03 Mb
Ohne Kopierschutz
Bewertung
sternsternsternstern_0.2stern_0.3
ID# 46543







Ich richte meine blonden, schulterlangen Haare, rücke den roten Hut zurecht und ziehe meinen Lippenstift nach. Gleich werde ich ins Kino gehen und danach vielleicht noch in eine Bar, nur etwas trinken. In meinem Kopf ziehe ich eine sarkastische Grimasse. Heute ist mein freier Tag.

Ich ziehe meinen langen Mantel an, dunkelgrün, wie die Augen meiner Schwester, die ihn mir geschenkt hat, bevor wir den Kontakt verloren. Nach einem letzten Blick in den Spiegel gehe ich mit gestrafften Schultern aus Tür 17 hinaus. Auf meinem Weg in die Stadt sehe ich Wahlplakate der führenden Partei, dreckige Jungen um das zehnte Jahr herum, die mich stumm anstarren und dann weiterspielen, und aus einem Café höre ich das Radio, das die deutsche Gemeinschaft ermutigt. Es ist mir egal, denke ich, sollen sie alle im Krieg krepieren, alle sind mir egal. Die Regierung darf mich mal.

Ich drücke die Tür zum Kino auf, bezahle meine Eintrittskarte und setze mich in den abgewetzten Sessel. Hier saßen schon viele Menschen. Der Film ist mittelmäßig, ich habe schon bessere gesehen, aber auch schon schlechtere. Als ich wieder aus dem Kino herauskomme, ist es dunkel und ich ziehe meinen Mantel enger um mich. Vielleicht werde ich in einer Bar eine nette Gesellschaft finden, mit der ich den Abend verbringen kann. Mit raschen Schritten lege ich die letzten Meter zurück, dann stoße ich die Flügeltür zu dem Nachtlokal auf und mir kommt eine Welle von Rauch entgegen. Ich gehe auf die Bar zu und bestelle mir ein Glas Absinth. Ich setze mich an einen Tisch in der Nähe der Bar und beobachte die Leute, die außer mir noch hier sind. Hauptsächlich sind es Männer um die Vierzig, Berufskolleginnen und bei der oberen Schicht in Ungnade Gefallene, wie Julius Caesar. In zwei Tagen werde ich mich mit ihm treffen, mit ihm und seinem Freund, einem Lehrer, der am Gymnasium unterrichtet. Ich weiß nicht genau, was er vorhat, doch ich bin ihm noch etwas schuldig, seit er mir aus dieser Situation herausgeholfen hat, als ein Kunde zu aufdringlich wurde. Er erwähnte ständig einen Fisch. Gott, was für ein Fisch? Julius hat mir den Plan erklärt, ich soll mich mit dem T im Kino treffen, und ich soll so tun, als wäre ich in ihn verliebt. Ich mag den T nicht, doch er zahlt gut. Wenn Julius Plan aufgeht, muss ich nur in ein Lokal mit ihm gehen und ihn betrunken machen, den Rest erledige er, sagte er. Hoffentlich dauert das nicht den ganzen Abend, mein Geld wird bald knapp. Ich blicke mich um, die meisten Männer haben eine weibliche Begleitung. Ich habe keine männliche. Ich habe nicht einmal eine Freundin, mit der ich etwas trinken gehen könnte.

Als ich mich erneut umblicke, da ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, steht ein junger Mann mit einem Glas vor mir.

Darf ich mich zu ihnen setzen, schöne Frau?“ Soll er doch, solange er nicht unfreundlich wird. Ich bin froh um ein wenig Gesellschaft.

Warum so alleine hier?“

Wieso sind sie alleine hier?“ entgegne ich, ich will nicht auf seine Frage antworten. Er lächelt.

Ich mag Frauen mit Temperament.“

Ich trinke einen Schluck, sehe ihm nicht in die Augen.

Ich bin Oskar Schneider. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Erzählen sie mir doch ein wenig von sich.“

Ich schweige. Was soll ich darauf antworten?

Ich heiße Nelly.“

Mehr gibt es nicht zu erzählen? Sie heißen Nelly, und fertig?“ er lacht. „Erzählen sie mir von ihrer Familie.“

Ich zögere. Ich mag den Akzent, mit dem er spricht. Und er scheint nett zu sein. Diese Stadt ist so groß, ich werde ihn wahrscheinlich nie wiedersehen, denn seine Kleidung sieht teuer aus. Warum nicht ein bisschen Aufmerksamkeit bekommen und dann wieder in meine Stille zurücktauchen?

Es gibt nicht viel zu erzählen.“ Ich trinke wieder einen Schluck aus meinem Glas. „Ich habe eine ältere Schwester, die jetzt Ärztin in Berlin ist, und ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester. Meine Eltern leben in einem Dorf im Südwesten Deutschlands und reden kaum miteinander.“ Warum erzähle ich nicht irgendeine Absurdität? Ich kenne den Mann, der jetzt vor mir sitzt, kaum. Um die Pause zu überbrücken, trinke ich noch einen tiefen Schluck aus meinem Glas.

Vielleicht war meine Kindheit auch gar nicht so glücklich. Oder doch, bis ich neun Jahre alt war, dann hat mein Vater meine Schwester missbraucht, aber sie hat sich gewehrt. Sobald sie aus dem Haus war, um Medizin zu studieren, hat er die übrige Tochter zu seinem Zweck benutzt. Beim ersten Mal war ich 13.“

Ich schließe die Augen bei der Erinnerung. Von meinem Zuhörer kommt kein Wort. Ich nehme einen Schluck, will das gerade ausgesprochene wieder ungeschehen machen, aber ich merke, wie der Alkohol zu wirken beginnt. Ich werde redseliger. Ich bin wenig Alkohol gewöhnt. Ich ziehe eine Zigarettenschachtel aus meiner Tasche und biete meinem Gegenüber eine davon an. Wir rauchen.

Mit 17 bin ich von Zuhause weg und in diese Stadt gezogen. Mein Vater fand das gar nicht gut. Ich habe weder zu ihm noch zu meiner Mutter noch Kontakt. Sie hat nicht ein Wort gesagt und sie wusste genau, was mein Vater tat. Vielleicht sind sie auch schon gestorben. Wer weiß das schon.“

Ich trinke. Die Worte kommen aus meinem Mund, ich will sie nicht hören.

Als ich hier ankam, hatte ich nichts außer meinem Koffer mit ein paar Kleidern und diesen Mantel und meinen Hut. Ich habe keine Arbeit bekommen. Ich brauchte Geld. So leicht geht das.“ Ich runzele die Stirn und nehme noch einen Schluck aus meinem Glas. Es ist bald leer. Danach werde ich heimgehen.

Aber ich bin keine von diesen Huren, die jeden Freier nehmen, oh nein. So eine bin ich nicht. Ich suche mir meine Kunden selbst aus.“ Ich setze mich noch gerader hin und blicke dem Mann, der mit mir am Tisch sitzt und dessen Name ich morgen vergessen haben werde, zum ersten Mal in die Augen. Es sind helle, durchdringende Augen. Ich schaudere. Ein Gedanke durchzuckt meinen Kopf, doch bevor ich ihn fassen kann, ist er wieder weg. Ich leere mit einem letzten Schluck mein Glas, drücke meine Zigarette aus und rücke meinen Hut zurecht. „ Ich sollte jetzt gehen. Auf Wiedersehen, Herr Schneider.“

Beim Hinausgehen spüre ich seinen stechenden Blick im Nacken. Mir fällt auf, dass ich nichts über ihn weiß. Scham steigt mir ins Gesicht. Wieso erzähle ich einem Fremden diese Dinge über mich?

Er hat während ich erzählte, die ganze Zeit nichts gesagt.

Was für eine merkwürdige Bekanntschaft.


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