Exzerpt: AUF DER SUCHE NACH EINER VERLORENEN ZEIT
von
Cay Rademacher
Bis zum 20. Jahrhundert: mühseliges
Puzzlespiel, einfachste Fakten über das Mittelalter zu finden, denn
überlieferte Geschichte stammte allein aus schriftlichen Quellen – also
Geschichte der Herrscher: Urkunden, Namen von Fürsten, Kathedralen usw. - Aber
keine „Geschichte von unten“ - von den Beherrschten, die 99% der Bevölkerung
ausmachten, aber nicht schreiben konnten („schweigende Mehrheit“).
Ab 20. Jahrhundert aber: Forscher rekonstruierten
Bauernhäuser anhand von Fundamentresten, analysierten Volksmärchen auf das
Alltagsleben von einst hin oder wühlten sich, auf der Suche nach
jahrhundertealten Relikten, durch meterdicke Kot-Ablagerungen in
mittelalterlichen Latrinen. Außerdem fahndeten sie nach Juden, Ketzern,
Henkern, Verfemten und Bettlern, die schon damals gern in Vergessenheit
gedrängt worden waren.
→ PARADIGMENWECHSEL: Mittelalter wird
anders bewertet: Nicht mehr als Niedergang/Verfall (vor Allem im Vergleich zur
Antike), engl. Dark Ages – unwissend, abergläubisch, blutrünstig, barbarisch.
Sondern: Mittelalter als GRÜNDUNG. Mittelalter ist das Jahrtausend, in dem das
moderne Europa, in dem die westliche Zivilisation vorbereitet worden ist. Der
moderne Staat mit seinem geschlossenen Territorium und seiner zentralen
Verwaltung; Berufsheere und Volksmilizen; naturwissenschaftlich-kritisches
Denken neben religiöser Mystik; geniale Ingenieurleistungen und effiziente,
doch ökologisch schonende Landwirtschaft; die Emanzipation von Frauen und
Bauern. Mechanische Uhren, Brillen, Kompasse und hochseegehende Segelschiffe.
Frauen gründen eigene Zünfte. Händler und Missionare gelangen nach China.
Dieses geistig, politisch, militärisch und
wirtschaftlich ungemein erfolgreiche Europa formte sich im Mittelalter.
ORTE UND REISEN: Seeweg von Hamburg nach
Antwerpen, London, Lissabon nach Bergen, Gotland, gar nach Nowgorod. Straßen
entlang des Rheins: von Straßburg über Mainz nach Köln oder Flandern, das durch
Tuchhandel reich geworden war. Pilgerwege nach Canterburry, Santiago de
Compostela, Rom. Paris war Weltstadt: Hier bemühten sich Polen, Engländer,
Spanier, den Magistergrad an der berühmten Theologenfakultät zu erwerben.
Baumeister aus Deutschland, Schweden, Ungarn studierten die Kunst der Kathedralenbauer.
Derweil verfeinerten lombardische Bankiers ihr Kreditwesen, erfanden den Scheck
und die bargeldlose Überweisung. Kaufleute taten sich in Florenz und Venedig
zusammen, um Frachtschiffe zu chartern und die geschäftlichen Risiken zu
minimieren. Die ersten Versicherungen entstanden. An den Universitäten von
Oxford und Paris dachten Forscher über die Gesetze der Optik und den
Geheimnissen von Leben und Tod nach. Sie begannen das kirchliche Tabu zu
brechen und sezierten Leichen.
HEUTE: Mittelalter wird zum Pop-Event.
Mittelalter-märkte, Minnesänger, Schmiede, Handwerker. Machen Hildegard von
Bingen zu einer Popkomponistin, Kräuterbuchautorin, Malerin und Mystikerin.
Mittelalter heute aber auch als negatives Modell: die Inquisition von damals,
die all jene vernichtete, die an der kirchlichen Lehre zu zweifeln wagten, hat
seine modernen Parallelen.
Persönlicher Kommentar: Man bedenke zum Beispiel die heutige Situation in Südafrika: Viele
Menschen werden durch Geschlechtsverkehr mit HIV infiziert, dies kann auch zu
infizierten Neugeborenen führen. Außerdem leiden die Menschen unter
Hungersnöten, welche durch eine geringere Kinderanzahl reduziert werden
könnten. Da viele der südafrikanischen Familien dem christlichen Glauben
angehören, der das Verwenden von Verhütungsmittel (wie Kondomen) weitgehendst
verbietet, wird der Situation keine Abhilfe geschaffen.
Die Triebhaftigkeit des Menschen ist häufig
nicht zu stoppen, die negativen Konsequenzen daraus allerdings im heutigen
Zeitalter sehr wohl. Der Gedanke scheint mir unglaublich, dass die Institution
Kirche mit ihrem absolut veralteten Gedankengut bis heute dermaßen viel
Einfluss hat.