Tragische Komödie in 3
Akten von Friedrich Dürrenmat
Zum
Autor:
-geboren 5. Januar 1921 in Konolfingen
(Kanton Bern) als Sohn eines Pfarrers
-begann 1941, nach der von
ihm verhassten Schulzeit, Philosophie, Naturwissenschaften und
Germanistik an den Universitäten Bern und Zürich zu studieren
-1946 beendete er das
Studium und beschloss, Schriftsteller zu werden
-11. Oktober 1946: Heirat
mit der Schauspielerin Lotti Geißler und Umzug nach Basel
-ein
Jahr später: Geburt des ersten Sohns Peter
-1950: Entstehung des
ersten Werkes „Der Richter und sein Henker“
-Uraufführungen
seiner ersten Werke fanden keinen Anklang und so gestalteten sich die
ersten Jahre als freier Schriftsteller wirtschaftlich schwierig für
Dürrenmatt und seine immer größer werdende Familie
-durch mehrere
Hörspiel-Aufträge deutscher Rundfunkanstalten 1950 und seine beiden
Kriminalromane „Der Richter und sein Henker“ und „Der Verdacht“
besserte sich die finanzielle Lage allmählich
-nach ersten Erfolgen auf
bundesdeutschen Bühnen mit dem Werk „Die Ehe des Herrn
Mississippi“ gelang ihm 1956 mit „Der Besuch der alten Dame“
der Durchbruch und der Weg in die finanzielle Unabhängigkeit
-Dürrenmatt wurde mehrfach
ausgezeichnet unter anderem 1960 mit dem „Großen Schillerpreis“
und 1969 mit der „Ehrendoktorwürde der Temple University“ in
Philadelphia
-starb am 14. Dezember 1990
in Neuenburg
-galt als
gesellschaftskritischer Autor, der sich nicht scheute, auch in
Essays, Vorträgen und Festreden Stellung zur internationalen Politik
zu nehmen
Inhalt
des Buches:
1.Akt:
-die Stadt
Güllen wird in den Regieanweisungen beschrieben als ruiniert und
zerfallen
→ von zwei Männern erfährt der Zuschauer kurz
darauf, dass Güllen einst eine Kulturstadt mit florierender
Wirtschaft war und man nun auf die Rettung der Stadt durch den Besuch
der spendablen Milliardärin Claire Zachanassian hofft; diese, damals
Klara Wäscher, ist einst in Güllen aufgewachsen und war die
Geliebte von Alfred Ill, einem Güllener Krämer; nachdem sie Güllen
verließ, wurde sie durch mehrere Ehen mit reichen Männern wie zum
Beispiel einem Ölquellenbesitzer zur Milliardärin
-Claire trifft ein mit ihrem
Butler Boby, ihrem 7. Ehemann, den sie Moby nennt, und dem restlichen
Gefolge, bestehend aus zwei Blinden, names Koby und Loby, und zwei
kräftigen Männern namens Toby und Roby
-Begrüßung durch
Bürgermeister, Lehrer mit Chor, Polizist, Pfarrer und Arzt findet
statt und Claire erklärt, dass sie zunächst die Petersche Scheune
und den Konradsweiler Wald, welches die alten Liebesorte von ihr und
Alfred waren, besuchen möchte
→ Zuschauer erfahren, dass
Roby und Toby zwei zum Tode verurteilte Gangster aus Manhattan sind,
welche Claire engagiert hat, damit sie sie auf einer Sänfte durch
die Gegend tragen, dass es sich bei den beiden Blinden um Eunuchen
handelt und dass Claire einen Sarg mit nach Güllen bringen ließ
-im
Konradsweiler Wald lassen Alfred und Claire ihre Erinnerungen an die
gemeinsame damalige Zeit Revue passieren
-bei dem anschließenden
Mittagessen im Wirtshaus verkündet Claire nach der beschönigenden
Rede des Bürgermeisters zu Klaras Jugend, dass sie bereit ist,
Güllen eine Milliarde zu schenken, wobei fünfhundert Millionen der
Stadt und die anderen fünfhundert Millionen den einzelnen Familien
zu Gute kommen sollen
-knüpft ihre Spende
allerdings an eine Bedingung: sie will Gerechtigkeit
-lässt Butler Boby
vortreten, der von den Bürgern als Oberrichter Hofer erkannt wird
→ in Zuge des folgenden
Gesprächs erfährt der Zuschauer, dass Alfred im Jahre 1910 von
Klara angeklagt wurde, der Vater ihres Kindes zu sein. Alfred
bestritt dies und bestach zwei Zeugen namens Jakob Hühnlein und
Ludwig Sparr, zu Gunsten von ihm auszusagen, dass sie mit Klara
geschlafen hätten; diese beiden Zeugen wurden Jahre später als Koby
und Loby zu Claires Gefolge, nachdem sie sie ausfindig machen,
kastrieren und blenden ließ
-nach dem Fehlurteil 1910 zu
Gunsten Alfreds musste Klara als Dirne aus Güllen fliehen und verlor
ihr Kind
-nun will sie Gerechtigkeit,
indem sie ihre Spende an die Bedingung knüpft, dass Alfred Ill von
einem der Güllener getötet wird
-der Bürgermeister lehnt
diese Forderung im Namen der Menschlichkeit strikt ab, worauf Claire
nur erwidert, dass sie warten wird
2.
Akt:
-während Claire, die
beschlossen hat, sich von ihrem 7. Gatten scheiden zu lassen, um
ihren Jugendtraum zu verwirklichen und in Güllen zu heiraten, sich
auf die baldige Hochzeit mit ihrem neuen 8. Gatten, einem deutschen
Schauspieler, den sie Hoby nennt, vorbereitet, muss Ill in seinem
Laden feststellen, dass immer mehr Leute bessere Waren wie gute
Zigarren und Vollmilch statt Magermilch fordern, dabei aber immerzu
alles aufschreiben lassen
-allerdings versichern ihm die Güllener,
dass sie zu ihm halten, da er schließlich die beliebteste
Persönlichkeit und der zukünftige Bürgermeister von Güllen sei
-als Ill bemerkt, dass alle
trotz der schlechten finanziellen Lage neue gelbe Schuhe tragen,
packt ihn die Angst und er beschließt zunächst beim Polizisten um
Schutz zu bitten
-Alfred muss feststellen,
dass sogar der Polizist neue Schuhe trägt und sich einen Goldzahn
geleistet hat, des weiteren verspottet dieser Alfred für dessen
Angst
-auch der Bürgermeister
beginnt wie die anderen, über seine Verhältnisse zu leben, indem er
besseren Tabak raucht und sich eine Schreibmaschine gönnt; auf
Nachfrage Ills erwidert er nur, dass Güllen eine Stadt mit
humanistischer Tradition sei, da Goethe hier übernachtete und Brahms
ein Quartett komponierte und dass diese Werte eben verpflichten, und
eröffnet Ill des weiteren, dass Ill für ihn als Bürgermeister
aufgrund seines jugendlichen Fehlverhaltens nicht mehr in Frage kommt
-als Alfred beim Besuch der
Kirche die neue zweite Glocke bemerkt und der Pfarrer ihn dazu drängt
zu fliehen, um die Güllener nicht noch weiter in Versuchung zu
führen, beschließt er, Claire aufzusuchen und um Vergebung zu
bitten; diese bleibt jedoch hart, obwohl Ill sie mit einem Gewehr
bedroht, und so beschließt Alfred aus Güllen zu fliehen
-auf dem
Bahnhof versammeln sich dann alle Güllener um Alfred, beteuern aber,
nicht die Absicht zu haben, ihn zu töten und ihn jederzeit gehen zu
lassen
-als der Zug eintrifft ist
Alfred so davon überzeugt, dass ihn jemand am Einsteigen hindern
würde, dass er vor Verzweiflung zusammenbricht und einsieht, dass er
verloren ist
3. Akt:
-der
Arzt und der Lehrer suchen Claire auf, um ihr die aussichtslose Lage
der Stadt nahezulegen und sie dazu zu bewegen, ein für die
Wirtschaft Güllens wichtiges Objekt aufzukaufen, Claire weigert sich
allerdings
→ Zuschauer erfahren im
weiteren Gesprächsverlauf, dass Claire bereits im Voraus alle
Fabriken, Straßen und bedeutende Grundstücke aufkaufen und
stilllegen ließ
-in den folgenden Tagen
leben die Güllener weiterhin über ihre Verhältnisse hinaus und die
Kaufleute gewähren weiterhin Kredite, als ob alle mit einem baldigen
Vermögenszuwachs rechnen könnten; die Güllener beginnen
allmählich, ihre Unterstützung Alfreds zu verringern und sein
damaliges Verhalten zu verurteilen
-inzwischen hat sogar
Alfreds Familie begonnen Geld, das sie nicht haben, auszugeben, um
sich ein Auto zu kaufen, Tennisstunden und Französischunterricht zu
nehmen und den Laden auszubessern
-der Lehrer, der sich selbst
als „Humanist“ bezeichnet, ist der einzige, den das schlechte
Gewissen plagt, und der es wagt, die Wahrheit auszusprechen,
allerdings glaubt ihm niemand, da er zumeist stark alkoholisiert ist
-als Lehrer der Presse
erklären will, was in Güllen wirklich vor sich geht wird er von Ill
abgehalten
-im anschließenden Gespräch
erklärt Ill, dass er nicht mehr um sein Leben kämpfen will, weil er
eingesehen hat, dass er die Schuld an der gesamten Situation trage
-kurz darauf taucht der
Bürgermeister auf und fordert Ill zum Selbstmord auf, indem er ihm
ein geladenes Gewehr vorbeibringt
-als Ill ablehnt berichtet der
Bürgermeister von der abendlichen Stadtversammlung, bei der Alfred
in Anwesenheit der Presse und des Fernsehens durch eine
Volksabstimmung insgeheim zum Tode verurteilt werden soll
-Ill
trifft sich nach einem letzten Ausflug mit seiner Familie ein letztes
Mal im Konradsweiler Wald mit Claire und redet mit ihr über ihre
Liebe damals und was nach seinem Tod mit seinem Leichnam
geschieht
-bei der abendlichen Stadtversammlung wird Alfred vor
der Presse als Vermittler zwischen der Stadt und Frau Zachanassian
dargestellt, dann durch die Abstimmung insgeheim zum Tode verurteilt
und anschließend nach dem Löschen des Lichts in einer Gasse, die
die Bürger für ihn im Dunkeln bilden, getötet
-als das Licht
wieder angeht und die Presse erscheint ist Alfred tot; laut des
Arztes starb er an einem Herzschlag, den die Presse sogleich als Tod
aus Freude deklariert
-Claire Zachanassian überreicht dem
Bürgermeister kurz darauf den Scheck und lässt Alfred in den Sarg
gebettet nach Capri mitnehmen, wo schon ein Mausoleum für seinen
Leichnam bereit stehe
-der Chor singt
Interpretation:
Thema:
Käuflichkeit
unter dem Motto “Geld ist Macht” → Kritik an der westlichen
Wohlstandsgesellschaft;
wie durch Aussicht auf Wohstand das
Urteilsvermögen beziehungsweise der Gerechtigkeitssinn der verarmten
Bürger Güllens außer Kraft gesetzt wird
Umsetzung:
-Aufbau
nach der klassischen Abfolge des arestotelischen Dramas
1.Akt:
Exposition → Ort, Personen und Handlung werden vorgestellt; zum
Schluß erregendes Moment (das Angebot Klaras), welches auf einen
Konflikt hindeutet
2. Akt:
Zuspitzung des Konflikts
3. Akt: Wendepunkt; Entscheidung über
die Lösung des Konflikts ist gefallen (Tod Alfreds); Verzögerung
der Handlung durch Ausflug Alfreds mit seiner Familie und Gespräch
mit Klara im Konradsweiler Wald
Die tragische
Komödie:
-Verwendung von Motiven der Tragödie als auch
der Komödie → Verknüpfung zur tragischen Komödie
-typisch für die
Komödie:
-makabre Handlung
-bizarre Figur der Claire
Zachanassian und ihre eigenartigen Gefolgen beziehungsweise
Mitbringsel:
~ihre speziellen Ex-Gatten VII-IX (Moby, Hoby und
Zoby)
~der Butler (Boby), der einst als Oberrichter arbeitete
~die
beiden unheimlichen Gangster aus Manhattan (Toby und Roby)
~die
zwei lispelnden und blinden Eunuchen (Koby und Loby), die einst
Zeugen in der Verhandlung gegen Alfred waren und nun immer von Claire
mitgeführt werden
~der schwarze Panther, in Anlehnung an Klaras
einstigen Kosenamen für Alfred („schwarzer Panther“) →
gleichzeitig Vorausdeutung auf Alfreds nahen Tod (Farbe des Todes;
wird erschossen)
~der Sarg
-Bürger werden zuerst als
ehrliche, würdige Menschen dargestellt und im Verlauf des Stückes
durch ihre Geldgier ins Lächerliche gezogen → Dargestellt als
geistlose Masse
-Verwendung sprechender
Namen:
~„Güllen“ → Sumpf der Unmenschlichkeit und Morast
der Unmoral und die geplante Umnennung in „Gülden“ →
Gold
~Zachanassian als Zusammensetzung aus den Namen drei
bekannter Milliardäre aus der Zeit Dürrenmatts (Zaharoff, Onassis
und Gulbenkian)
~„Ill“ und „Klara Wäscher“ → der
„Kranke“ wird von Claire „rein gewaschen“
-Verwendung homphoner Namen:
~Koby und Loby, die
Eunuchen
~Boby, der Butler
~Moby und Toby, die Gangster aus
Manhatten
~Moby, Hoby und Zoby für die Ex-Gatten 7-9 (Verweis auf
Textstelle: Aussage Zachanassians)
→ nahezu identische
Diminutive (monotone Reime) zeigen die Austauschbarkeit und
Lächerlichkeit dieser Figuren
-typisch
für die Tragödie:
-Bezüge zur antiken Tragödie:
~formal:
zwei Chöre, einer zu Beginn, einer zum Ende des Stücks
~Claire
Zachanassian als Heldin → „reichste Frau der Welt“; kann die
Bürger der Stadt aufgrund ihrer finanziellen Druckmittel
instrumentalisieren
~gleichzeitig auch unerbittliche Rachegöttin:
besitzt so viel Macht, dass sie über menschliche Schicksale
bestimmen kann → wird zur Herrin über Leben und Tod; Vergleich mit
der Göttin Medea:
Medea (griech. Μήδεια
Medeia) ist eine Frauengestalt der griechischen
Mythologie. Die älteste erhaltene Quelle ist das
Medea-Drama des Euripides. In einigen neueren Theorien wird
behauptet, in den älteren Versionen des Mythos sei Medea zumeist als
selbstbewusste und zauberkundige Frau dargestellt worden, erst
Euripides
habe den Mythos umgestaltet. Eindeutige Belege dafür gibt es jedoch
nicht. Bei Euripides jedenfalls handelt Medea aus Eifersucht und
rächt sich durch die Ermordung ihrer gemeinsamen Kinder an ihrem
untreuen Ehemann. Der Medeastoff wird seit Euripides immer wieder in
der Kunst, Musik und Literatur rezipiert.
~göttlicher Eindruck
verstärkt durch Überleben eines Autounfalls und eines
Flugzeugunglücks
~Alfred Ill erfährt die
Katharsis, indem er sich seiner Schuld gegenüber Klara eingesteht
und die Verantwortung dafür übernimmt, ihre bürgerliche Existenz
ruiniert zu haben → durch diese Konfrontation und seine Einsicht
gewinnt er immer mehr an Größe und entwickelt sogar als einziger
ein moralisches Bewusstsein → tragischer Held
~Handlung allgemein
angelehnt an Topoi der griechischen Tragödie „Verhängnis und
Gericht, Schuld und Sühne, Rache und Opfer“
Weiteres:
-Verwendung
vieler Symbole; Farben: rote Locken → hexenhaft, leidenschaftlich,
feurig; schwarzer Panther → Tod
-“Spiel“ mit den Bürgern
Güllens als Experiment, wie weit die Menschen, die einen Ausweg aus
der Armutsfalle suchen, für Geld gehen (Experiment wie bei „Der
gute Mensch von Sezuan“)
-Dürrenmatt setzte sich mit dem
Epischen Theater Brechts auseinander, befürwortet auch die Distanz
des Darstellers und Zuschauers zur Handlung; widerspricht allerdings
dem von Brecht betonten Lehrgehalt des Dramas
→ Verwendung
epischer Elemente: Vier Güllener spielen Bäume, Rehe und Vögel im
Wald und die Umbauten erfolgen auf offener Bühne