<
>

„4 3 2 1“ von Paul Auster

Eine Buchrezension

„Ich neige dazu, von meiner Arbeit angeekelt und enttäuscht zu sein. Denn ich habe immer das Gefühl, die Sache noch besser machen zu können. In diesem speziellen Fall aber war ich unmittelbar nach der Fertigstellung der Überzeugung, das Buch meines Lebens geschrieben zu haben.“ -Paul Auster

Sein „Opus Magnum“ wird es auch genannt, das Buch, das Paul Auster pünktlich zu seinem 70. Geburtstag veröffentlichte. 4 3 2 1 lautet der Titel und dieser spielt bereits auf den Inhalt an, bei dem das Leben des jungen Archibald – genannt Archie – Ferguson erzählt wird.

Dies jedoch nicht nur einmal. Denn es entspinnen sich bald vier verschiedene Handlungsstränge, ein jeder erzählt die Geschichte Archies, doch alle spinnen sich von einem Ereignis ausgehend, parallel, durch Kapitel getrennt, in verschiedene Richtungen fort. Denn nach einem Sturz von einem Baum begehrt Archie gegen die Vorbestimmung in seinem Leben, in seinem Schicksal auf:

"Was, wenn er vom selben Baum gefallen wäre und sich nicht ein, sondern beide Beine gebrochen hätte? Ja, alles war möglich, und nur, weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auf eine andere Weise geschehen könnte. Alles konnte anders sein."

Und nach diesem Motto liest man vier Mal über das Erwachsenwerden des jungen Archies, von den Höhen und Tiefen in seinem Leben, von Dilemmas, Unfällen, Einflüssen von Freunden, Verwandten und Schule, von Liebe und von dem Prozess, in dem er seine Talente entwickelt und erkennt und schließlich von einem unschuldigen Jungen zu einer gereiften Persönlichkeit heranwächst.

Doch die Erlebnisse und Erfahrungen, die Archie macht, unterscheiden sich in jedem der Erzählungsstränge, und so lebt er mal provinziell und bescheiden, dann kämpferisch, jedoch von vielen schweren Schicksalsschlägen verfolgt und das Unglück abzuschütteln nicht fähig, in einer weiteren Version seiner selbst stark geprägt und mitgenommen von den vielen aufwühlenden Ereignissen seiner Zeit oder auch als junges Schreibtalent und genial begabt nach den Sternen greifend.

Vier Jugendbildnisse, allesamt geprägt voller Leidenschaft für Bücher, Sport, Filme und Politik. Auf 1259 Seiten in der aus dem Englischen übersetzten deutschen Ausgabe, wird eine Fülle historischer Fakten bewältigt, es ist ein Portrait der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika, das von den Attentaten auf die Kennedy-Brüder und auf Martin Luther, vom Vietnamkrieg, Gegenkultur und der Besetzung der Columbia-Universität erzählt, um nur einige Beispiele zu nennen.

Es erzählt von der Zeit, in der auch Paul Auster aufwuchs und die seine Person ebenso prägte, wie er es auch dem fiktiven Archie zuschreibt. Teilweise weist 4 3 2 1 also auch sehr autobiographische Passagen auf, die Summe Austers Lebens weist viele Überschneidungen und Teilmengen mit der Summe des Lebens des gezeichneten Protagonisten auf.

Unterschwellig schwingen sie mit oder werden direkt ausgesprochen, alle aber sind eingewoben in einen Roman, der überbordend und vielschichtig in einer Zeit spielt, in dem sich das offene Amerika fand, das nun untergegangen ist, aber bis heute als Ideal gilt. Das New York der 60er Jahre wird so lebendig gezeichnet, dass man wohl einen Stadtplan danach erstellen könnte.

Mit einer unglaublichen Detailgenauigkeit erzählt Auster von allem, was im Laufe eines Tages zu nennen Wert ist und man erfährt in letzterer Hinsicht auch viele Überraschungen, da man sich wohl davor noch nie bewusst war, wie fesselnd auch absolut banal scheinende Begebenheiten zu lesen sein können.

Dennoch entpuppt sich alles Erzählte als notwendig und fügt sich perfekt in den jeweiligen, gerade erzählten Strang ein. Auch die Sprache passt sich dem, sich verschieden entwickelnden, Hauptcharakter und der dazugehörigen Figurenkonstellation laufend an, mal nüchtern und in sachlichem Ton aufzählend, dann beschwingt und voller Energie strotzend nach vorne stürmend.

Wie die dauernd andere Fortentwicklung fordernden Situationen, die Archie durchlebt, die ihn immer stärker verändern, so variieren auch die Ausdrucksweise und der die Ereignisse färbende Ton. Trotz der ungeheuren Ausmaße des Werkes gelingt es Auster, den Leser durchwegs zu fesseln, er wechselt zwischen personaler Nähe zur Figur und auktorialer Draufsicht, Vorausschau und Lenkung hin und her, und schafft damit einen Spannungsbogen, der kaum jemals davon bedroht wird, zu reißen.

Nicht Sportbegeisterte mögen wegen den seitenlangen, extrem detailgenau geschilderten Baseballspielen womöglich in die Gefahr laufen, sich stellenweise gelangweilt mit einem Buch in den Händen zurück in die Lieblingsleseecke gekehrt, wiederfinden, die zu verlassen man mit dem Beginnen des Lesens übermäßig oft geneigt ist, ob nun gewollt oder nicht, und teilweise das Interesse verlieren, doch ein jeder, der bereit ist, sich den weit ausschweifenden Schilderungen mit Offenheit entgegenzustellen, sich der Leidenschaft hinzugeben, vor der gerade jene Passagen nur so sprühen, der wird mit ungeheurer und kaum glaubbarer Faszination verfolgen können, wie es sich anfühlt, mit den einzelnen Spielern in einer Mannschaft mitzuleben, wie es sich anfühlt, so sehr auf einen durch die Luft fliegenden Ball fokussiert zu sein, oder auf kleine Männchen, die ein riesiges Spielfeld in höchstmöglicher Geschwindigkeit durchmessen, dass er alles um sich herum vergisst und in die Woge der Leidenschaft mit eintaucht, aus der wieder aufzutauchen er sich als kaum gewillt erkennen wird.

Immer wieder erkennt man im eigenen Leben Parallelen zu dem von Archie geschilderten, findet sich in ähnlichen Situationen wieder und mit genau dieselben Fragenstellungen konfrontiert, vor dieselben Probleme gestellt, muss sich fragen, wie wirklich die Wirklichkeit überhaupt ist.

Aus diesem Grund ergeht hier aus vollster Überzeugung ein „Kaufbefehl“ – 4 3 2 1 von Paul Auster ist ein überwältigender Roman, der von jedem Lesebegeisterten verschlungen werden will und muss.


| | | | |
Tausche dein Hausarbeiten