Beispielinterpretation „Augenblicke“
Walter Helmut Fritz
Einleitung:
HinführungBasissatz
„Erwachsenwerden ist die Zeit, wenn die Eltern
anfangen, anstrengend zu werden.“ Dieser Satz verdeutlicht mit einem
Augenzwinkern, welche Probleme und Herausforderungen das Älterwerden mit sich
bringen – für beide Seiten. Wenn Eltern den wachsenden Freiheitsdrang ihrer
Kinder nicht respektieren und sie stattdessen mit überbehütender Vorsorge
gängeln und einengen – der Begriff „Helikopter-Eltern“ bringt es auf den Punkt
– sind Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Die Kurzgeschichte „Augenblicke“
von Walter Helmut Fritz aus dem Jahr 1964 greift die geschilderte Problematik
auf und thematisiert einen Mutter-Tochter-Konflikt. „Augenblicke“ zeigt die
ambivalenten Gefühle der Tochter im Generationenkonflikt auf, die sich durch
die Distanzlosigkeit ihrer Mutter so eingeengt fühlt, dass sie durch Flucht der
Situation zu entkommen versucht. Letztlich scheitert ihr Versuch, da sie
Mitleid ihrer Mutter gegenüber empfindet. Die Lösung des Konflikts scheitert
auch an Unehrlichkeit und der mangelnden Kommunikation zwischen Mutter und
Tochter.
Hauptteil:
Inhaltsangabe
Die Kurzgeschichte beginnt unvermittelt damit, dass
die Mutter ins Badezimmer tritt, in welchem sich die zwanzigjährige Tochter
Elsa gerade schminkt. Elsa fühlt sich bedrängt und verlässt sofort das Bad, um
der Mutter Platz zu machen. Diese bemerkt gar nicht, dass sich Elsa von ihr
eingeengt fühlt. Ohne Verabschiedung verlässt Elsa kurz darauf die gemeinsame
Wohnung, um eine Wohnungsvermittlung aufzusuchen. Da sie aber keine Adresse hat
versucht sie sich durchzufragen, aber am Samstagabend kurz vor Weihnachten
öffnet ihr niemand und sie streift ziellos durch die Stadt. Sie beschließt, die
Wohnungssuche nach Weihnachten erneut anzugehen und verzweifelt zunehmend über
die belastende Situation zu Hause. Am Ende erfährt man, dass ihre Mutter seit
dem Tod ihres Mannes allein lebt und sich oft langweilt. Sie liebt und verwöhnt
Elsa und versucht in den kurzen Momenten, die sie aufgrund Elsas Arbeit nur
selten gemeinsam haben, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Als Elsa von ihrem
erfolglosen Versuch eine Wohnung zu finden kurz vor Mitternacht zurückkehrt ist
es still in der Wohnung. Sie denkt fast mitleidig an ihre Mutter und wird von
der in der Wohnung herrschenden Stille und Gelassenheit als Gegensatz zu ihrer
inneren Anspannung so überwältigt, dass sie am liebsten schreien möchte.
Der Text weist einige Merkmale der Kurzgeschichte auf,
was im Folgenden exemplarisch gezeigt wird. Zunächst gibt es einen
unmittelbaren Einstieg ins Geschehen. Als Leser findet man sich direkt vor dem
Badezimmerspiegel wieder. Weiterhin gibt es ein begrenztes Figurenpersonal –
Elsa und ihre Mutter und die Handlung begrenzt sich auf wenige Schauplätze: die
Wohnung und die nicht näher spezifizierte Stadt. Die handelnden Personen
bleiben weitgehend anonym. Zwar erfährt man den Namen der Tochter, Elsa (vgl.
Z. 12), aber schon der Name der Mutter oder auch einen Nachnamen erfährt man
nicht. Die Handlung verläuft stringent ohne Nebenhandlungen, was ebenfalls
charakteristisch für Kurzgeschichten ist. Auch das Thema der Kurzgeschichte –
es wird eine alltägliche Situation geschildert –ist konstitutiv für die
Textsorte der Kurzgeschichte.
Betrachtet man den Aufbau der Kurzgeschichte, so ist
sowohl inhaltlich als auch von den Schauplätzen her betrachtet eine Dreiteilung
erkennbar. Die Kurzgeschichte beginnt im Bad der gemeinsamen Wohnung. Das Bad
gehört in einer Wohnung zu den Orten, an denen man am liebsten ungestört ist.
Das Eindringen der Mutter in diesen Raum symbolisiert also gleichsam ihr
Eindringen in Elsas Privatsphäre und ihren „Sicherheitsbereich“. Elsas
Kommentar „Aber es ist doch so eng“ (Z. 26) verweist bereits auf die nicht nur
räumlich, sondern auch seelisch empfundene Enge und Bedrängung. Nachdem sich
Elsa von der plumpen Kontaktaufnahme ihrer Mutter derart gestört fühlt, dass
sie das Bad verlässt (vgl. Z. 26f), flüchtet sie „ohne ihrer Mutter adieu zu
sagen“ (Z. 39f) aus der Wohnung. Die Flucht, die dem Zweck der Wohnungsfindung
dient, scheitert allerdings, da Elsa vor lauter Verzweiflung vergessen hat,
eine Adresse der Wohnungsvermittlung aufzuschreiben (vgl. Z. 43 f). Das
Verlassen der Wohnung nach draußen schafft auch räumlich eine Art Befreiung für
Elsa. Die Schauplätze der Stadt werden allerdings nicht näher spezifiziert,
z.B. „in die Gegend der Post“ (Z. 41f), was ihre Orientierungslosigkeit
außerhalb der eigenen vier Wände zeigt. Schließlich muss sie unverrichteter
Dinge wieder in die gemeinsame Wohnung zurückkehren. Die Geschichte endet
gewissermaßen, wie sie begann, in der Enge der Wohnung, wo sich Elsa in ihren
Sessel „kauert“ (Z. 83), hier also der seelisch empfundenen Enge auch
körperlich Ausdruck verleiht. Die Gefühle von Elsa sind nach dem gescheiterten
Versuch des Ausbruchs ungleich aufgewühlter, sodass sie am Ende „unartikuliert“
(vgl. Z. 84) hätte schreien mögen.
Warum ihre Verzweiflung sich nochmals steigert, wird
deutlich, wenn man die Erzähltechnik genauer untersucht. Die Kurzgeschichte
weist als Erzählform einen Sie-Erzähler auf. Das vorherrschende Erzählverhalten
ist auktorial. Hierbei ist aber auffällig, dass hauptsächlich Gedanken und
Gefühle aus der Sicht Elsas geschildert werden, was v.a. zu Beginn der
Kurzgeschichte eine Identifikation mit Elsa ermöglicht. Als Leser empfindet man
es selbst als distanzloses Eindringen der Mutter, wenn sie die Privatsphäre
Elsas, in die man als Leser mit hineingenommen wird, stört. Durch erlebte Rede,
z.B. „Also doch!“ (Z. 10) oder „Ruhig bleiben!“ (Z. 15), bekommt man einen
anschaulichen Eindruck in Elsas Gefühlleben und kann ihre körperlichen
Reaktionen, die der allmorgendliche Besuch hervorruft (vgl. Z. 12-14)
verstehen. Nicht nur fühlt sich Elsa ihrer Mutter gestört, sie fürchtet sich
sogar vor ihren Besuchen im Bad (vgl. Z. 21). Entgegen ihrer eigentlichen
Gefühle lächelt sie aber ihre Mutter an und sagt, sie mache ihr Platz (vgl. Z.
22f). Elsa täuscht – um sich abzulenken – anderweitige Beschäftigungen vor,
doch ihre Mutter nimmt „die Verzweiflung ihrer Tochter nicht einmal als
Ungeduld wahr.“ Dieser Einblick, den der auktoriale Erzähler hier in die
Gedanken der Mutter gewährt, zeigt das eklatante Missverstehen auf Seiten der
Mutter und erklärt den Grund des Konflikts. Elsas Mutter kann die nonverbalen
Zeichen ihrer Tochter nicht deuten und versteht sie „nicht einmal als
Ungeduld“, was ihre Unfähigkeit dahingehend noch einmal unterstreicht. Da sie
nicht merkt, dass Elsa sich bedrängt fühlt, hört sie nicht auf, Kontakt zu Elsa
zu suchen. In einem zeitraffenden Erzählerbericht erfährt man anschließend, wie
Elsas Versuch verläuft, eine Wohnungsvermittlung aufzusuchen (vgl. Z. 41- 67).
Da sie unvorbereitet und überstürzt das Haus verlässt, sie hatte nicht daran
gedacht die Adresse zu notieren (vgl. Z. 43-46), kann sie die
Wohnungsvermittlung nicht finden. Der Hinweis darauf, dass es „später
Nachmittag, Samstag, zweiundzwanzigster Dezember“ (Z. 54f) ist, unterstreicht
abermals die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. In einem Gedankenbericht erfährt
man anschließend die Gedanken Elsas, die voller Verzweiflung und
Unnachgiebigkeit ihrer Mutter gegenüber sind (vgl. Z. 59-67). Im Anschluss
erfolgt ein auffälliger Wechsel in der Perspektivierung. Hatte man bisher die
Geschehnisse vor allem über die Innenperspektive Elsas wahrgenommen, so erfährt
man nun Näheres über die Lebensumstände der Mutter (vgl. Z. 68-73). Sie ist
verwitwet und verspürt oft Langeweile (vgl. Z. 68f). Zudem verspürt sie das
Bedürfnis mit ihrer Tochter zu sprechen, denn „[s]ie liebte Elsa“ (Z. 73). An
dieser Stelle erfährt man als Leser, dass es nur wenige Augenblicke – hier ist
auch der Bezug zum Titel deutlich – für die Mutter gibt, mit ihrer Tochter
Kontakt aufzunehmen, da Elsa Arbeit vorschützt (vgl. Z. 71). Aus diesem Grund
bleibt der Mutter kaum etwas Anderes übrig, als sie auf dem Flur oder im Bad
anzusprechen. Was zu Beginn der Geschichte noch als unverschämtes Eindringen
wirkt, erscheint an dieser Stelle eher als verzweifelter Versuch der
Kontaktaufnahme. Es bleibt allerdings bei diesem kurzen Einblick in die
Gefühlswelt der Mutter. Elsas Verzweiflung, die der Gedankenbericht offenbart,
wird nun plausibel. Sie erkennt, dass ihre Mutter ihre Zuwendung braucht. Elsa,
die sich davon aber so eingeengt fühlt, dass sie dem Kontaktbedürfnis der
Mutter nicht entsprechen kann, muss über diesen Gewissenskonflikt verzweifeln.
Der Konflikt zwischen den beiden Figuren in der
Kurzgeschichte liegt in der mangelnden Kommunikation begründet, was an
verschiedenen Stellen deutlich wird. So fürchtet sich Elsa zwar vor dem
Endringen der Mutter ins Bad, lächelt ihr aber zu (vgl. Z. 23). Ihr Satz „Aber
es ist doch so eng“ (Z. 26) lässt sich nach dem Vier-Ohren-Modell von
Friedemann Schulz von Thun auf verschiedenen Ebenen deuten. Auf der Inhaltsebene
ist nur die Enge des Bades gemeint. Die Selbstaussage und die Beziehungsebene,
die Elsa aber auch anspricht, d.h. dass sie sich von der Mutter eingeengt
fühlt, bemerkt die Mutter gar nicht, ganz abgesehen von dem damit verbundenen
Appell, das Bad wieder zu verlassen. Die gestörte Kommunikation der beiden wird
auch deutlich, wenn man betrachtet, dass Elsa sich zurückzieht, weil sie sich
bedrängt fühlt, ihre Mutter aber aufgrund der wenigen Zeit, die sie zusammen
haben, verstärkt versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Dieses von Paul
Watzlawick beschriebene Reiz-Reaktionsmuster in der menschlichen Kommunikation
verläuft in einem Teufelskreis, aus welchem die beiden Figuren in der
Geschichte nicht ausbrechen können. Elsa ist unfähig, ihre Verzweiflung zu verbalisieren
– dies zeigt sich auch an der Wortwahl „unartikuliert schreiben“ (vgl. Z. 84),
ihre Mutter kann ihre nonverbalen Äußerungen nicht deuten. Hinzu kommt ihre
Unterschiedlichkeit. Die Tochter ist jung und arbeitet (vgl. Z. 63f), die
Mutter hingegen langweilt sich und ist oft krank. Die Entfremdung der beiden
verdeutlicht auch der Umstand, dass Elsa zu den „vielen Leuten, zwischen denen
sie ging“ (Z. 78f) Zuneigung empfindet. Fremde Menschen sind ihr vertrauter,
als ihre eigene Mutter.
Auf sprachlich-stilistischer Ebene werden die
dargelegten Befunde weiter unterstützt. Die Abneigung Elsas in dem Moment, in
dem die Mutter sie im Bad besucht wird durch die Klimax „behext, entsetzt,
gepeinigt“ (Z. 19f) zum Ausdruck gebracht. Ihre Verzweiflung wird so noch in
gesteigerter Art und Weise dargestellt und verstärkt den Kontrast zu ihrem
Lächeln, als die Mutter schließlich eintritt. Die Antithese „fürchtete“ (Z. 21)
und „lächelte“ (Z. 23) zeigt dies auch sprachlich an. Im ersten Teil der
Geschichte bis zum kopflosen Aufbruch Elsas weist der Text einen überwiegend
hypotaktischen Satzbau auf. Der kompliziertere Satzbau versinnbildlicht die
komplizierte Situation und das Gefühlschaos von Elsa, was sich schlagartig
ändert, als sie „draußen“ ist. Hier herrschen Parataxen vor (vgl. Z. 56-66),
was bedeuten könnte, dass sie nun den Kopf frei hat und ihre Gedanken ordnen
kann. Auffällig sind in diesem Zusammenhang auch die Anaphern „Sie […]. Sie
[…]“ (vgl. ebd.). Nun steht Elsa im Mittelpunkt des Geschehens. Sie bestimmt,
was passiert, sie ist „ihr eigener Herr“. Ihre Gedanken drehen sich um die
Zukunft und was sie alles machen „würde“ (vgl. Z. 59, 60, 62, 66). Dieser
Konjunktiv lässt ihre Zweifel erkennen. Zwar nimmt sie es sich vor, die
konjunktivische Setzung des Geschehens zeigt aber, dass es zunächst nur ein
Gedankenspiel ist und noch nicht Realität. Die Wiederholung der Wortgruppe
„Kein einziges Mal“ (Z. 64, 66) zeigt im Gegensatz dazu ihre Verbitterung und
ihre mangelnde Kompromissbereitschaft.
Betrachtet man die Untersuchungsergebnisse an dieser
Stelle so muss festgestellt werden, dass die eingangs aufgestellte
Deutungshypothese in Teilen ergänzt werden muss. Ob der Versuch von Elsa
endgültig scheitert, kann der Kurzgeschichte nicht entnommen werden. Zwar kehrt
Elsa zunächst ohne unterschriebenen Mietvertrag zurück, ob sie einen erneuten
Versuch unternimmt, erfährt man aber nicht. Der Beweggrund ihrer geschilderten
Verzweiflung ist zudem nicht nur auf Mitleid zurückzuführen, sondern auch auf
der Einsicht, dass es zwischen dem Bedürfnis der Mutter nach Kontakt zu Elsa
und ihrem eigenen – ganz natürlichem Drang – nach Unabhängigkeit keinen
Kompromiss gibt. Aufgrund des beschriebenen Teufelskreises sieht sie keine
Lösung des Konflikts.
Abschließend lässt sich sagen, dass in Zeiten, in
denen der familiäre Zusammenhalt aufgrund von steigender Mobilität und
Flexibilität mehr und mehr schwindet, die Kurzgeschichte hohe Aktualität
besitzt. Es zeigt die Gefühle der Tochter, mit welcher ich mich als Leserin
schnell identifizieren konnte.
Die Perspektive der Mutter hat mir aber auch die
andere Seite der Medaille gezeigt, wodurch ich zum Nachdenken angeregt wurde.
Das Spannungsfeld zwischen elterlicher Fürsorge und kindlichem Drang nach
Unabhängigkeit ist für viele Heranwachsende und Eltern eine große
Herausforderung. Kinder können die Lücke, die bspw. ein verstorbener Partner
hinterlassen hat, nicht füllen. Zwar ist das Verhalten der Tochter verletzend
für die Mutter, sie muss aber erkennen, dass ihre Tochter ihr eigenes Leben
führen will. Eine Lösung des Konflikts wird aber nur möglich, wenn auch Elsa
ihre Leben selbstbewusst in die Hand nimmt und ehrlich ihre Gefühle der Mutter
offenbart. Ob beide den Mut zur offenen Kommunikation aufbringen lässt die
Kurzgeschichte wohl bewusst offen. Jeder Leser ist dazu angehalten eigene
Lösungen zu finden, auch wenn das manchmal sehr schwerfällt.