Bedeutung der Hochzeitsnachtepisoden des „Nibelungenliedes“ im Hinblick auf die Beziehung zwischen Gunther und Brünhild
Der folgende Text befasst sich mit der Bedeutung der ersten Hochzeitsnachtepisode des „Nibelungenliedes“ im Bezug auf die Beziehung zwischen Brünhild und Gunther und zieht anschließend einen Vergleich zur zweiten Hochzeitsnacht.
Die Eheschließung des Königspaares basiert bereits auf einer Reihe von Täuschungshandlungen, die ihren Beginn schon bei der ersten Begegnung von Gunther und Brünhild finden. Während des Wettkampfes bei der Werbung um die Königin von Isenstein wird Gunther von seinem Gefährten Siegfried heimlich mit Hilfe der tarnkappe (V. 457,4) unterstützt und nur so gelingt es ihm, die Königin zu besiegen, mit ihr in seine Heimat nach Worms zu reisen und sie zu heiraten.
Für Siegfrieds Unterstützung während des Brauterwerbs, verspricht ihm Gunther seine Schwester, die edle Königin Kriemhild, zur Frau zu geben. Siegfried ist ein ebenso edler Herr wie Gunther, doch er hält diesem den Steigbügel, um Brünhild in dem Glauben zu lassen, Siegfried sei Gunther untergeben und der burgundische Herrscher stehe in der gesellschaftlichen Rangordnung an oberster Stelle.
Somit baut die erste Begegnung des Ehepaars bereits auf einer Lüge, der Standeslüge, auf, wodurch Brünhilds Blickpunkt determiniert wird1. Wenige Zeit nach der Ankunft in Worms schließen Gunther und Brünhild und auch Siegfried und Kriemhild den Bund der Ehe. Doch zum Hochzeitsmahl bricht Brünhild in Tränen aus, da sie nicht verstehen kann, warum der eigenhold (V. 620,3) Siegfried die edle Königstochter Kriemhild zur Frau bekommt.
Gunther versucht sie zu beruhigen und erklärt, dass auch Siegfried ein künec rîch (V. 623,3) sei. Doch aufgrund der Standeslüge kann und will Brünhild diese Vermählung nicht akzeptieren. Die Betrübnis der Königin gipfelt in ihrer und Gunthers Hochzeitsnacht. Da ihr Protest ohne wesentliche Folgen bleibt, verweigerte sie ihrem Ehemann jegliche körperliche Zärtlichkeiten mit der Begründung: „ich will noch magt belîben, […]/unz ich diu maer‘ ervinde“ (V. 635,3-4, Auslassung d. Verf.). Da er sich aber nicht zügelte und vor lauter Gier und Grobheit ihr Kleid zerreißt, setzt Brünhild ihren Gürtel ein, um Gunther abzuwehren und schließlich zu überwältigen.
Dadurch, dass Brünhild Gunther noch vor dem Eintreffen der Kämmerer befreit, bleibt der Konflikt heimlich. Die erste Hochzeitsnachtepisode demonstriert mit der Überwältigung Gunthers, dass der vorangegangene Konflikt nicht beigelegt ist und gibt die Lächerlichkeit Gunthers preis3. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen Gunther und Brünhild, legt diese Episode den Stärkeren der beiden beim Kräftemessen fest und bestimmt somit die Hierarchie in deren Ehe, die im Gegensatz zu der, durch den Brautwettbewerb festgelegten Rangordnung steht.
Gunther ist ihr vollends untergeben. In der zweiten Hochzeitsnachtepisode benötigt Gunther erneut die Hilfe von Siegfried um seine Ehefrau zu überwältigen und um eine aufrechte Ehe zu führen. Nun kommt die tarnkappe wieder zum Einsatz. Siegfried gelangt somit unsichtbar in die Gemächer des Königspaares und gibt sich als Gunther aus.
Aufgrund des Betruges und der gewaltigen Kraft Siegfrieds kann Brünhild bezwungen werden und durch den Vollzug dieses Aktes wird Brünhild endgültig Gunthers Frau. Siegfried nimmt der Königin den Gürtel, das Symbol für ihre Keuschheit, und auch ihren Ring ab und schenkt diese Requisiten später Kriemhild.
Die Nutzung der tarnkappe, die Dunkelheit in der Kemenate Brünhilds und die damit verbundene Heimlichkeit stellen ein Indiz für „nichtöffentliches und damit nicht-akzeptables Handeln“5 dar. Es lassen sich Unterschiede zwischen beiden Episoden hinsichtlich ihres Zwecks und ihres Handlungsgebildes finden.
Im ersten Teil versucht Brünhild ihrem Misstrauen gegenüber Gunther Ausdruck zu verleihen, um die Täuschungshandlungen aufzudecken und entfacht einen Konflikt, den sie durch die Verweigerung von Zärtlichkeit konsequent durchsetzt. Doch dadurch kommt es im zweiten Teil erst zu der weiteren Täuschung durch Gunther und Siegfried, um den Schein des Geschehens aufrecht zu erhalten.
Gunther benötigt deshalb erneut die Hilfe von Siegfried, um in der zweiten Hochzeitsnachtepisode die Ehe zu versiegeln und die, seinen Wünschen entsprechende Hierarchie in der Beziehung herzustellen.
Literaturverzeichnis
Geier, Bettina: Täuschungshandlungen im Nibelungenlied. Göppingen 1999.
Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. Berlin 2005.
Schausten, Monika: Der Körper des Helden und das „Leben“ der Königin: Geschlechter- und Machtkonstellationen im „Nibelungenlied“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), S. 27-49.
1 vgl. Schausten, M. 1999, S. 45
2 vgl. Müller, J. D. 2005, S. 143
3 vgl. Schausten, M. 1999, S. 42
4 vgl. Ebd., S. 43
5 Geier, B. 1999, S. 77