word image
Exkursionsbericht

Auf dem Jakobsweg in Ano Santo 1999

12.302 / ~17 sternsternsternsternstern_0.25 Marc T. . 2014
<
>
Download

Exkursionsbericht
Religionswissenschaft­en

Freie Universität Berlin - FU

1999

Marc T. ©
7.00

0.12 Mb
sternsternsternsternstern_0.25
ID# 38835







Auf Jakobuswegen


Im Ano Santo 1999


7.Juni 1999:

Um 12:15 Uhr geht das Flugzeug der Iberia von Frankfurt/Main nach Santiago di Compostela. Ich hole um 8:00 Uhr meinen Nachbarn Hans ab und gemeinsam fahren wir zum Bahnhof und von dort zum Flughafen. Wir haben unsere Wanderausrüstung angelegt: feste, hohe Wanderschuhe, bequeme Kleidung, eine Kopfbedeckung und einen Rucksack. Im Rucksack stecken neben Wäsche zum Wechseln, Kulturbeutel, Schlafsack, Kamera, Pilgerführer und Pilgerausweis, Feldflasche, Wanderstöcke und Sandalen.

Die Wertsachen trage ich in einem Leinengürtel um den Bauch: Geld, Führerschein, Personalausweis, Kreditkarte.


Das Flugzeug hat 25 Minuten Verspätung. Hans raucht und ich vertiefe mich in einen Sprachführer. Unsere Rucksäcke sind bereits aufgegeben und wir haben unsere Bordkarten. Das Flugzeug fliegt nach Madrid, wo wir in ein anderes Flugzeug einsteigen müssen. Im Flugzeug begegnet uns zum ersten Mal der spanische Gruß "hola!" aus dem Mund einer Stewardess. Dieses Wort werden wir nun täglich zu hören bekommen.


In Madrid bleibt nicht viel Zeit zum Umsteigen. Die Frau an der Info-Theke nennt uns die Nummer des Flugsteiges und drängt uns zur Eile. Gegen 16:45 Uhr kommen wir in Santiago an. Wir wollen gleich weiter nach Leon, etwa 300 km von hier. Daher wenden wir unsere Schritte zu einem Büro, das Autos vermietet. Der Angestellte spricht etwas Englisch und wir werden schnell handelseinig: wir mieten einen Kleinwagen Marke SEAT für 24 Stunden.

Der Preis ist allerdings happig. Mit Bus oder Bahn würden wir nur einen Bruchteil davon bezahlen, aber wir haben es eilig nach Leon zu kommen, um den Weg nach Santiago anzutreten, den Camino de Santiago. Wir warten auf unser Gepäck, aber unser Gepäck kommt nicht. Wir gehen zu dem Büro der Iberias und füllen eine Verlustanzeige aus. Die Angestellte sagt: "In vier Stunden kommt das nächste Flugzeug aus Madrid.

Das wird unser Gepäck bringen." Was tun? Hans raucht erst einmal eine Zigarette. Ich dachte, ich wäre mit einem Sportler verreist? Jetzt entpuppt sich der Naturfreund plötzlich als Kettenraucher! Wir beschließen, in die Stadt zu fahren und eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Wir stellen das Auto in einem Parkhaus in der Nähe der Kathedrale ab und wandern durch die Gassen.

Einer wird auf ein Schild aufmerksam: Zimmer zu vermieten. Interessenten wenden sich bitte an die Gastwirtschaft Soundso. Wir finden die Gastwirtschaft Soundso und fragen die Wirtin nach einem Zimmer für die Nacht. Sie geht mit uns ein paar Schritte zu einem Geschäft, das Reiseandenken und allerlei Krimskrams verkauft. Die Verkäuferin nennt uns den Preis und als wir zusagen, ruft sie einen Jungen, der uns den Weg zeigt.

Es ist ein paar Schritte von hier, ganz in der Nähe der Kathedrale. Der Junge führt uns zwei Treppen hoch, schließt eine Wohnungstür auf und zeigt uns das Zimmer. Wir nicken und bekommen die Wohnungs- und Haustürschlüssel ausgehändigt. Im Gang ist eine Toilette mit Dusche. Die anderen Zimmer sind auch bewohnt. Wir gehen wieder zurück in die Gastwirtschaft und bestellen etwas zu essen und zu trinken.

Wir bestellen als primero eine galizische Suppe und als segundo einen galizischen Fleischeintopf. Schließlich sind wir hier in Galizien! Zu trinken bestellen wir Wasser und Wein. Ich trinke Wasser, weil ich Auto fahren muß. Hans trinkt Rotwein. Die Suppe schmeckt langweilig und der Fleischeintopf ist eine Katastrophe: total zerkochte Linsen schwimmen in üppi-gem Fett und das Fleisch ist ungewürzt.

Kartoffeln und eine Art Mettwurst runden den galizischen Fleischtopf ab. Wir wundern uns. Das Gericht paßt eher nach Sibirien als nach Galizien.


Wir schlagen also die Zeit tot, bis die vier Stunden vorüber sind und das nächste Flugzeug kommt. Am Nebentisch hat ein deutsches Paar Platz genommen. Sie bestellen Wein und Fisch. Hätten wir das auch tun sollen? Der Mann spricht mit rheinischem Akzent und wir unterhalten uns ein wenig. Wir erzählen von unserem Mißgeschick am Flughafen. Irgendwann ist es dann so weit; wir stehen auf und ich zahle.

Wir gehen zu dem Parkhaus, wo das Auto steht und werfen einen 1000-Pesetas-Schein in den Parkscheinautomaten. Jetzt habe ich ja einen meiner großen Pesetas-Scheine gewechselt. Hans wird morgen den gleichen Betrag einwechseln, den ich schon aus Deutschland mitgenommen habe. Dann teilen wir alle Kosten brüderlich, bis wir kein Geld mehr haben.


Irgendwann nach 9 Uhr abends kommen wir am Flughafen an und tatsächlich: unsere Rucksäcke stehen neben vielen anderen Gepäckstücken vor dem Iberias-Büro. Wir händigen der Angestellten unsere Verlustanzeigen aus und schultern erleichtert unser Gepäck. Es hätte ja noch schlimmer kommen können! Wir fahren mit unserem Gepäck zurück in die Stadt, parken dieses Mal nicht im Parkhaus, sondern auf einer Nebenstraße unterhalb der Kathedrale.

Ein Mann winkt uns ein. Ich frage ihn, was es kostet, eine Nacht parken und er sagt: "Kostet nichts, ich wollte nur behilflich sein." Nun gut, er bekommt ein kleines Trinkgeld und wir bringen unser Gepäck in unser Schlafgemach. Nachdem wir uns etwas frisch gemacht haben, machen wir einen Stadtbummel. Die Kneipen sind erstaunlich leer. Vielleicht liegt es daran, daß es Montagnacht ist und die Leute am nächsten Tag arbeiten müssen.

Wir gehen in die belebteste Kneipe, die wir sehen. Sie ist voll mit Jungvolk, wahrscheinlich Studenten. Santiago ist eine Universitätsstadt. Wir bestellen ein Bier an der Theke und neben uns faselt ununterbrochen ein betrunkener Mann. Er redet auf mich ein, von wegen er sei Galizier und die bevorstehende Europawahl sei ihm scheißegal. Wir trinken unser Bier aus, bezahlen und gehen.


Gegen Mitternacht legen wir uns aufs Ohr. Ich höre Absatzklappern, Kichern und lautes Reden auf der Gasse. Hätte vielleicht mehr Alkohol trinken sollen. Ich schlafe ein, werde aber immer wieder geweckt: krakeelende Jugendliche, die Müllabfuhr und klappernde Absätze rauben mir den Schlaf.


8.Juni 1999:

Ich stehe auf und gehe in den Waschraum. Hans liegt noch im Bett und schläft. Ich verlasse das Haus und spaziere he-rum. Irgendwann treffe ich auf die Markthallen. Hier herrscht reges Treiben in der ansonsten ausgestorbenen Stadt. Es ist acht Uhr. Acht Uhr in Spanien ist wie fünf Uhr in Deutschland, denke ich. Hans hat gestern erzählt, daß die Spanier erst um halb zehn abends ans Abendessen denken.

Die Vermieterin hat gestern gesagt, sie mache den Laden um 10 Uhr morgens auf. Um diese Zeit könnten wir dann bezahlen. Gegen neun Uhr gehe ich zurück ins Hotelzimmer. Hans ist unterdessen aufgewacht und geht unter die Dusche. Beim Verlassen des Hotels erzähle ihm, wo ich war. Er geht zur Bank und holt sich Geld mit seiner Kreditkarte. Ich zeige ihm den Weg zu den Markthallen.

Hans kauft ein Kilo cerezas (cerises, Kirschen) von einer Marktfrau. Teurer als in Franken vom Bauern an der Landstraße, wie er bemerkt. In der Nähe gibt es eine Bar, die für die Marktleute geöffnet hat. Wir bestellen cafe con leche und croissant (cafe au lait und croissant). Um zehn Uhr gehen wir zu der Zimmerwirtin alias Ladenbesitzerin. Wir erfahren, daß sie Carmen Maria heißt und ihr Freund/Ehemann Daniel.

Wir bezahlen die Zeche und erzählen ihr, daß wir zu Fuß nach Santiago zurückkehren werden als Pilger auf dem camino. Wir verabreden, daß wir in der Nacht vor unserem Abflug am 20.6. wieder das gleiche Zimmer mieten werden. Sie zeigt uns den Klingelknopf, wo wir klingen sollen, falls das Geschäft geschlossen sein sollte. Munter und guter Dinge machen wir uns auf den Weg zum Auto, das uns nach Leon bringen soll.


Wir fahren in wenigen Stunden durch die Landschaften, die wir in den kommenden 7 Tagen durchwandern wollen. Ich fahre bis Lugo, hinter Lugo löst mich Hans am Steuer ab. Wir essen die Kirschen, die Hans gekauft hat und spucken die Kerne aus dem Fenster. Die Trasse der Nationalstraße VI nach Madrid führt zwischen den Gebirgslandschaften der Montes do Cebreiro und dem Naturschutzgebiet Los Ancares hindurch.

Immer wieder begegnen uns Radfahrer und Fußwanderer. Wir können nur hoffen, daß sich die Fußwanderer verirrt haben. Wir möchten später nicht auf staubigen Straßen an ratternden Lastwagen vorbei den camino machen, gen Santiago wandern.


Die Gelegenheit ist günstig, etwas nachzudenken über den Camino de Santiago.

Santiago de Compostela: Sant-Iago bedeutet nichts anderes als Heiliger Jakobus. Der christ-lichen Überlieferung zufolge hatte sich der Apostel Jakobus der Ältere nach Spanien bege-ben, um dort das Evangelium zu verkünden. Sieben Jahre habe er in Galizien verbracht. Nach Palästina zurückgekehrt, sei er in Jerusalem geköpft worden. Seine Schüler brachten den Leichnam nach Galizien, um ihn dort zu bestatten.

Jahrhunderte später, im Jahr 813, habe ein Eremit das Grab entdeckt, geführt durch wundersame Lichter. Diese Lichter sind ebenfalls Bestandteil des Stadtnamens: Compostela oder campus stellae (Sternenfeld).

Der Reiseführer der Pilger: Liber Sancti Jacobi oder auch Codex Calixtinus, eine Sammlung von Schriften in fünf Büchern aus dem 12.Jahrhundert, die sich auf den Apostel Jakobus beziehen, werden dem Papst Calixtus II zugesprochen. Wird aufbewahrt im Archiv der Kathedrale von Santiago de Compostela. Der Jakobsweg, der Camino de Santiago, genauer der Camino Frances, wird im fünften Buch dieser Schriftensammlung beschrieben.

Neben dem bedeutendsten Camino, dem Camino Frances, gab es noch drei weniger benutzte Routen, den Camino del Norte, den Via de la Plata und den Camino Portugues. Der Reise-führer unterteilt die 672 km lange Reise durch den Norden Spaniens von Puenta la Reina bis Santiago de Compostela in dreizehn ungleiche und unangemessene Tagesetappen, die teilweise zu Pferd zurückzulegen sind.

Auch außerhalb Spaniens entwickelten sich Reise-routen durch die damalige römisch-katholische Welt: von Rom, Wien, Prag, Berlin, Oslo, Dublin, London, Amsterdam, Brüssel, Paris nach Santiago.

Die Jakobsmuschel: Wenn die Pilger im Mittelalter nach Santiago kamen, erhielten sie eine "Vieira" (Jakobsmuschel), die sie auf dem Rückweg mitnahmen. Sie diente ihnen als Nach-weis der zu Ende geführten Wallfahrt oder als Garantie für Hilfeleistungen und Privilegien; so waren Pilger vom Brückenzoll befreit und konnten Spitäler, Herbergen und Gaststätten ohne Gegenleistung in Anspruch nehmen.

Der Jakobsweg: Die Bulle Regis Eterni des Papstes Alexander III. von 1181 setzte Santiago de Compostela als geistiges Zentrum Rom und Jerusalem gleich. Das Apostelgrab wurde zu einem mächtigen Brennpunkt christlichen Glaubens; Pilger aus der ganzen christlichen Welt machten sich auf den beschwerlichen Weg dorthin.

Die Verbreitung der Reformation in Europa führte bald zu einer spürbaren Abnahme des Pilgerstromes. Im Jahre 1589 versteckte der Erzbischof aus Furcht vor dem englischen Seeräuber Sir Francis Drake die Apostelreliquie. Danach blieb sie bis zum Jahre 1879 verschollen. Erst in unserem Jahrhundert wurde die Tradition neu entfacht. Spaniens Diktator Franco entdeckte den Heiligen für sich und setzte ihn für seine Zwecke ein. 1937 wurde Santiago zum Patron Spaniens und sein Geburtstag, der 25.Juli, zum Nationalfeiertag erklärt.

Jedes Jahr, in dem der Geburtstag Santiagos auf einen Sonntag fällt, ist wie im Mittelalter ein Ano Santo, dem Heiligen Jahr 1993 folgt demnach ein Heiliges Jahr 1999.


Wir durchfahren mittlerweile die Landschaft des Bierzo, ein Becken umgeben von hohen Bergzügen. Der Hauptort heißt Ponferrada. Durch die Gebirgslandschaft der Montes de Leon gelangen wir in die Ebene der Maragateria mit der Kreisstadt Astorga. Hier verlassen wir die N VI nach Madrid und biegen östlich auf die N 120 ab nach Leon. Im Auto fliegen die Landschaften nur so an dir vorbei.

Du bekommst nichts mit von den Lebewesen, die sie bevölkern, ob es die Bewohner sind mit ihren Spracheigenheiten oder die Tiere oder die Bäume, gar nichts. Auf meiner Karte ist der Flughafen von Leon auf der falschen Seite eingezeichnet. Daher verfahren wir uns. An der Tankstelle, wo wir das Auto volltanken, fragen wir den Tankwart nach dem Weg zum Flughafen. Der Flughafen von Leon wirkt sehr verlassen.

Es ist kurz vor 16 Uhr. Wir wenden uns an das einzige menschliche Lebewesen weit und breit, einen Wachmann. Wir händigen ihm die Autoschlüssel und den Mietvertrag aus. Dann schultern wir unsere Rucksäcke und marschieren Richtung N 120. Wir wollen mit dem Bus nach Leon. An der Bushaltestelle warten schon einige andere. Wir warten und warten. Dann sehen wir gegenüber einen Taxistand.


Am Plaza de San Marcelo bestaunen wir ein neogotisches Bauwerk des berühmten katalani-schen Modernismo-Architekten Antoni Gaudi(1852-1926). 100m weiter ein Adelspalast aus dem 16.Jahrhundert und 300m weiter entlang der Calle del Cid steht die romanische Kirche aus dem 11.Jahrhundert, die Real Basilica de San Isodoro. Die Kirche wird abends um 20 Uhr nicht geschlossen wie die meisten anderen spanischen Kirchen.

Das hängt damit zusammen, daß über dem Reliquienschrein des Heiligen Isidor Tag und Nacht eine geweihte Hostie in einer Monstranz ausgestellt wird. Eine Gemeinschaft von Chorherren mit ihrem Abt betreut diese Kirche. Besonders sehenswert ist die Puerta del Pardon, die Pforte der Vergebung. Sie schildert die Kreuzabnahme, Auferstehung und Himmelfahrt als die Hoffnung der Pilger.

Das ehemalie Kloster neben der Kirche wird heute als Museum benutzt. Besonders sehenswert sind die Grablegestätte der spanischen Könige mit gut erhaltenen Wandmalereien (Fresken aus dem 11.Jahrhundert) und der Kreuzgang mit Ausstellungsgegenständen und großforma-tigen Fotos. Vor Verlassen des Museums benutze ich die Toilette. Sie ist in einwandfreiem Zustand, sauber, Klopapier und Wasserspülung vorhanden.

Wer weiß, in welchem Zustand die Toiletten sein werden, die ich noch zu Gesicht bekommen werde.


Die Franzosen haben damals bewiesen, daß schlanke Pfeiler das Gebäude aufrecht erhalten können, wenn sie mit einem Kreuzrippengewölbe kombiniert werden. Diese Bauweise mit hoher Decke läßt Kirchenfenster von einer Größe zu, die bis dato aus statischen Gründen völlig unmöglich erschien. So wirken die Mauern aus Stein lediglich als Klammern für die alles überstrahlenden großen bunten Glasfenster, runde Rosetten und spitzbogenförmige in verschiedenen Größen.

Aufmerksamkeit verdient auch das Gitter des Chorraums und der Silberschrein, der die Reliquien des heiligen Froilan birgt. Der Schrein ist ein Werk des Goldschmiedemeisters Enrique de Arfe, Heinrich von Harff, der 1501 aus Köln kam und mit seinem Sohn Antonio und seinem Enkel Juan Berühmtheit erlangte.


Leon am Zusammenfluß von Bernesga und Torio ist so alt wie Köln am Rhein und nur wenige Jahrhunderte jünger als Rom. Und in der Tat erinnern einige Stellen an der römischen Stadtmauer an Orte in der ewigen Stadt. Auch einige Ausstellungsstücke in dem Museum neben der Real Basilica de San Isodoro könnten genausogut in Rom zu besichtigen sein.


Anhand des Stadtplans machen wir uns auf den Weg zur ersten der angekreuzten Pilgerherbergen. Nach 10-minütiger Wanderschaft gelangen wir zu einer Schule. In der Eingangshalle sind freiwillige Helfer, die die Pilger empfangen, den Pilgeraus-weis kontrollieren, Stempel und Tagesdatum eintragen und die Pilger in den Schlafsaal geleiten. Die Regeln sind streng: halb zehn Uhr Toreschluß, sechs Uhr wecken und um 8 Uhr in der Früh muß jeder das Gebäude verlassen haben.

Nur wer nachweislich krank ist, darf mehr als eine Nacht in der Pilgerherberge verweilen. Der Schlafsaal besteht aus mehreren Reihen von Bettgestellen mit zwei bis drei Betten übereinander. Außer Matrazen gibt es nichts. Der Pilger muß selbst für Bettdecke und Zudecke sorgen. Daher hat jeder einen Schlafsack im Gepäck. Die Unterkunft ist kostenlos. Sie steht allerdings nur Pilgern offen, d.h. Leuten, die sich mit der Credencial del Peregrino der Asociacion ausweisen können.

Unter Asociacion versteht man Vereinigungen von Freunden des Camino de Santiago, die es in Spanien gibt, aber auch in Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, der Schweiz und anderswo in Europa sowie Mexiko, Brasilien und anderswo in Übersee. Wer zu Fuß von Ort zu Ort wandert, bekommt vor den Pilgern eine Bettstatt, die mit dem Fahrrad unterwegs sind.


Es ist mittlerweile halb neun Uhr abends und wir haben noch nichts gegessen. In einer Stunde ist Toreschluß. Wir stürmen ins Freie und suchen nach einem Restaurant. Um diese Tageszeit denkt noch kein Spanier ans Abendessen. Da Leon jedoch eine große Stadt ist, haben die Gastronomen ein Einsehen mit ausländischen Gewohnheiten und wir bekommen in einem Restaurant einen Tisch zugewiesen.

Wir sind die einzigen Speisegäste. Der Kellner Manolito hat es genauso eilig wie wir; in Windeseile nimmt er unsere Bestellung entgegen: Bier und Fischsuppe mit Brot. Das schäumende Bier wird in einem Krug serviert wie im Mittelalter. Die Suppe schwimmt in einer großen Terrine aus gehämmertem Zink. Der Gast kann sich soviel nehmen wie er mag. Der ganze Spaß kostet umgerechnet 36 Mark für zwei Personen.

Es lebe Leon!


Wieder zurück in der Pilgerherberge legen wir uns auf unsere Betten. Aus irgendeinem Grund bleibt das Licht an. Ich lege meinen Hut auf das Gesicht, das hilft etwas. Um mich herum unterhalten sich Leute in englisch, französisch, spanisch und deutsch. Ich schnappe Wortfetzen auf und kann nicht einschlafen. Um halb zwölf Uhr kommt noch einmal eine Gruppe von Pilgern in den Schlafsaal. Um Mitternacht endlich wird das Licht gelöscht.




Nach der Morgentoilette kommen wir beim Rucksack packen kurz ins Gespräch mit zwei Fußpilgern aus Deutschland, Vater und Sohn. Sie sind schon seit 10 Wochen unterwegs, in Genf gestartet. Der Vater hat ernsthafte Bänderprobleme, er humpelt deutlich sichtbar. Wir wünschen ihm gute Besserung und machen uns auf den Weg, auf den Weg zum Busbahnhof, jawohl, wir sind gewillt, etwas zu schummeln und den Weg aus Leon heraus nicht zu wandern, sondern mit dem Bus zu fahren, weil der Weg aus der Stadt heraus schwierig zu finden ist und obendrein nur an Autos und Industrieanlagen vorbeiführt.

Also, wir beginnen unsere Wanderung erst einmal mit einer Busfahrt. Die Estacion de Autobuses befindet sich am Fluß Bernesga, der hier begradigt und kanalisiert ist. Wir kaufen zwei Busfahrscheine nach Villadangos und verbringen die Zeit bis zur Abfahrt in der Bar. Wir trinken cafe con leche und essen croissant. Als Hans sich eine Zigarette ansteckt, verlasse ich das Lokal und begebe mich auf Fototour.

Als ich zurückkehre, sind die beiden Deutschen aus dem Pilgerschlafsaal auch da, Vater und Sohn. Sie erzählen, daß sie einen Tag Ruhepause ein-legen wollen, damit sich die strapazierten Gelenke des Herrn Papa wieder beruhigen. Wir plaudern noch eine Weile mit ihnen und gehen dann zum Bus nach Villadongas. Die sehen wir besstimmt nicht wieder, denken wir. So wie die beisammen sind, müssen die den weiteren Weg auf allen Vieren kriechen! Nach kurzer Busfahrt steigen wir aus und beginnen endlich mit der ersehnten Wanderung.

Nach etwa 750 m stehen wir am Rand der Brücke, die im 13.Jahrhundert über den Fluß Orbigo gebaut wurde. Im Jahre 1434 soll hier der Ritter Don Suero de Quinones alle vorbeiziehenden Edelleute zum Paso Honroso, zum ritterlichen Zweikampf genötigt haben, weil er einer unerreichbaren Geliebten damit einen Minnedienst erweisen wollte. Erst nach 166 gebrochenen Lanzen, so die Überlieferung, sei sein Kampfesdurst gestillt gewesen und er reuig nach Santiago gepilgert.

Sueros groteske ritterliche Ideale haben nachweislich über ein Jahrhundert später Miguel de Cervantes bei der Gestaltung seines weltberühmten Romans "Don Quijote" beeinflußt. Da gerade Mittagszeit ist, kehren wir in eine Bar ein, essen einen Happen und trinken ein Bier. Danach trennen wir uns, um jeder für sich ein Nickerchen zu halten. Ich genieße die herrliche Ruhe an der Brücke über den Fluß nach dem stunden-langen Wandern entlang der Nationalstraße, Ich bin beschäftigt mit folgenden Tätigkeiten: Absetzen des australischen Lederhutes und Lüften und Trocknen desselben in der Mittags-sonne, Ausziehen von Schuhen und Strümpfen und Lüften in der Sonne.

Ich packe meine Sachen und schultere den Rucksack. Weiter geht's! Hinter der Brücke liegt das Dorf Hospital de Orbigo. Zwischen Kirche auf der rechten Seite und Ruine des mittelalterlichen Hospitals auf der linken Seite liegt der Dorfanger, der plaza mayor. Der Dorfanger wird gesäumt von Platanen, in der Mitte steht ein einfaches Wegkreuz aus Stein. Ich gehe weiter geradeaus, nach 500 m kreuzt eine Straße meinen Weg.

Ich schaue in meinen Pilgerführer , darin steht: "Geh noch 200 m weiter geradeaus, dann findest du eine Weggabelung und ein Haus mit abgeschrägtem Dach. Vor dem Haus ein artesischer Brunnen." Ich überquere also die Landstraße und gehe weiter geradeaus. An dem Brunnen bleibe ich stehen und fülle meine Feldflasche mit Wasser. Bei diesen Temperaturen über 30 Grad C muß ich viel trinken.

Der Camino geht links vom Brunnen weiter. Jetzt gibt es auch wieder ein Hinweisschild in Form einer Jakobsmuschel. Nach 500 m sehe ich ein Gefährt aus Holz am Weg stehen. Es dient mir als Vordergrund zu einem Foto. Die Landschaft wird zunehmend hügeliger. Als ich meine Kamera verstaue, sehe ich Hans. Ich warte, bis er mich erreicht hat. "Ist mir zu laut geworden," sagt er.

Wir stoßen auf ein Wegkreuz mit einem Rastplatz aus Tischen und Bänken aus Stein. Wir lassen uns hier nieder und trinken etwas. Unter uns liegt schon in Sichtweite die Kleinstadt Astorga. Sie ist unser Ziel für heute. Dort werden wir uns eine Unterkunft für die Nacht suchen. Nach 6 km Fußmarsch kommen wir in Astorga an.Es ist später Nachmittag und wir gehen an Häusern und Menschen vorbei den Berg hinauf zur römischen Stadtmauer und zur Kathedrale.Die Kathedrale ist ein ziemliches Sammelsurium von verschiedenen Baustilen.

Der von Antonio Gaudi erbaute Bischofspalast ist nie von einem Bischof bewohnt worden. Statt dessen beher-bergt er das Museum der Pilgerwege, el Museo de Caminos. Wir gehen ins Museum. Auf drei Stockwerken sind Zeugnisse wie Statuen und Bilder untergebracht aus der Römerzeit, aus dem Mittelalter und aus der heutigen Zeit. Dieses Mal staune ich kein bißchen über die Archi-tektur des Gebäudes.

Hier muß Gaudi nicht ganz bei Sinnen gewesen sein. Auch die Zeug-nisse begeistern mich wenig und ich bin als erster wieder draußen. Draußen warte ich auf einer Parkbank auf meinen Begleiter Hans. Hinter mir am anderen Ende der Plaza Mayor hat eine Gruppe junger Engländer Platz genommen, die mit Fahrrädern unterwegs sind. Sie werde ich sicher nicht wiedersehen, denke ich.


| | | | |
Tausche dein Hausarbeiten