Aspekt und Aktionsarten in der althochdeutschen Benediktinerregel
Seminar Deutsche Sprache: Althochdeutsch
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung 2
1. Die Begriffe Aspektualität, Aspekt und Aktionsart 3
1.1. Die Kategorie Aspektualität 3
1.2. Der Begriff Aktionsart 3
1.3. Der Begriff Aspekt 4
2. Das Präfix „gi“ als Aspektzeichen im Althochdeutschen 5
3. Aspektverhältnisse in der althochdeutschen Benediktinerregel 8
3.1. Die Verben der Wahrnehmung 9
3.2. Andere Verben 15
4. Zusammenfassung 22
5. Literaturverzeichnis 24
0. Einleitung:
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, Aspektverhältnisse und Aktionsarten in der althochdeutschen Benediktinerregel eingehend zu durchleuchten. Das ist aber aus mehreren Gründen ein alles andere als einfaches Unterfangen.
Zunächst einmal existiert keine communis opinio in Bezug auf die Terminologie, nicht einmal unter den Slawisten, in deren Forschungsgebiet Sprachen fallen, die weithin als typische Aspektsprachen gelten. Naturgemäß lässt sich eine solche unter den Germanisten, bei denen das nicht der Fall ist, noch um einiges schwieriger finden.
Es ist also unabdingbar, die Begriffe Aspektualität, Aspekt und Aktionsart ausreichend zu definieren, und das erfolgt sogleich im ersten Kapitel dieser Arbeit.
Danach steht das althochdeutsche Präfix gi- im Vordergrund, das im Folgenden als Zeichen für den komplexiven Aspekt behandelt wird. Aber auch das ist heftig umstritten, weshalb es nötig ist, ihm ein eigenes Kapitel (das 2. Kapitel) zu widmen, in dem diese Frage diskutiert wird.
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht allerdings das dritte und deshalb auch umfangreichste Kapitel. Darin werden auf einander zu beziehende Textstellen, in denen so genannte Aspektpaare ausfindig gemacht werden können, diskutiert, um die These, dass ahdt. gi- ein Aspektzeichen ist, zu untermauern. Methodisch geschieht das einerseits durch einen Vergleich mit den Aspektverhältnissen bzw. mit den Aktionsarten der lateinischen Vorlage der Benediktinerregel, andererseits wird aber auch auf den innersprachlichen Kontext Bezug genommen, weil an dieser Stelle trotz der deutlich erkennbaren Originaltreue des althochdeutschen Übersetzers davon ausgegangen wird, dass in die Benediktinerregel auch dessen persönliches Textverständnis eingeflossen ist. (Niemand, der übersetzt, kann das zu hundert Prozent verhindern, auch kein Mönch, dem es darum geht, den genauen lateinischen Wortlaut abzubilden.)
Es versteht sich natürlich von selbst, dass die Untersuchung eines einzigen Textes einer Korpussprache so etwas wie einen endgültigen Beweis für die obige These schuldig bleiben muss.
1. Die Begriffe Aspektualität, Aspekt und Aktionsart
In kaum einem Bereich der Sprachwissenschaft herrscht so große Verwirrung wie in jenem, den die Termini Aspektualität, Aspekt und Aktionsart umfassen. Dies hat zum einen damit zu tun, dass in Bezug auf die slawischen Sprachen, die im Allgemeinen als typische Aspektsprachen gelten, mehrere divergierende Aspekttheorien aufgestellt und auf mehr oder minder ähnliche Zustände in nichtslawischen Sprachen ausgeweitet wurden, zum anderen muss allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass gerade in der uns hier interessierenden Germanistik der Begriff Aktionsart (Actionsart, Zeitart) eine eigene, selbständige Tradition hat (vgl. Schwall 1991: 86).
Es ist also unumgänglich, die besagten Begriffe im Folgenden eingehend zu behandeln und von einander abzugrenzen.
1.1. Die Kategorie Aspektualität
Der sprachwissenschaftliche Terminus Aspektualität wurde in Anlehnung an die bereits vorhandenen Begriffe Modalität und Temporalität nach dem Vorbild des russischen Wortes „aspektualnost“ gebildet und bezeichnet eine semantisch-funktionale Kategorie, die sich auf alle Funktionen im Bereich der Verlaufsweise einer Verbalhandlung bezieht.
Aspektualität ist demgemäß als eine allgemeinsprachliche, als eine universelle Kategorie aufzufassen, die in den unterschiedlichen Sprachen auf differierende Weise realisiert wird. Sie kann sowohl mithilfe von lexikalischen als auch nonverbalen oder textlinguistischen Mitteln zum Ausdruck gelangen und reicht somit weit über den rein verbalen Bereich hinaus (vgl. Đorđević 1994: 294-295).
Davon abzuheben sind die Termini Aktionsart und Aspekt, bei denen es sich im Wesentlichen um Subklassen des oben definierten Begriffes handelt.
1. 2. Der Begriff Aktionsart
Unter Aktionsarten versteht man eine lexikalische Verbkategorisierung, welche auf den semantischen Eigenschaften des Verbs basiert und welche die Art und Weise der Verbalhandlung näher bestimmt. Sie sind objektiv gegebene Verlaufsarten der Verbalhandlung. Mitunter wird zwischen Aktionsarten und Verbalcharakteren unterschieden.
Verbalcharaktere sind Wörter, bei denen die Art und Weise des Verbalgeschehens nicht morphologisch markiert ist (z.B.: singen, lachen, öffnen, sterben). Aktionsarten im engeren Sinn sind demgegenüber Verben wie „aufblühen“, „erjagen“, „erreichen“, „ausklingen“ und dergleichen mehr.
Zur Unterscheidung von Aktionsarten gibt es mehrere unterschiedliche und miteinander konkurrierende Modelle. In der vorliegenden Arbeit sollen allerdings nur die wichtigsten Unterscheidungskathegorien beleuchtet werden, weil besonders feine und detaillierte Untergliederungen für das Folgende wenig Relevanz aufweisen.
Eine grundlegende Unterscheidung ist die zwischen durativ (unbegrenzte Verbalhandlung, z.B. die Verben „sehen“ und „reden“) und terminativ (begrenzte Verbalhandlung, z.B. „aufblühen“, „erreichen“). Durativ lässt sich darüber hinaus in iterativ (wiederholendes Verbalgeschehen) und semelfaktiv (einmaliger Vorgang, z.B.: „anklopfen“) unterteilen, terminativ hingegen in punktuell (z.B.: „finden“) und nicht punktuell (z.B.: „untergehen“, „aufblühen“).
Des Weiteren findet sich die Untergliederung von durativ in statisch (bezeichnet einen Zustand) und dynamisch (bezeichnet einen Vorgang), sowie von terminativ in ingressiv (auch inchoativ, markiert eine Grenze am Beginn einer Verbalhandlung, z.B.: „entflammen“, „erblühen“) und egressiv (markiert das Ende einer Verbalhandlung, z.B.: „ausklingen“, „verblühen“) (vgl. Schrodt 2004: 102-104).
1. 3. Der Begriff Aspekt:
Unter Aspekt versteht man eine binäre grammatische Verbkategorie, die in einer Einzelsprache gegeben ist, wenn eine oder mehrere Oppositionen systematisch realisiert werden.
Aspektverhältnisse können zudem als ein universalgrammatisches Phänomen gesehen werden, das unterschiedlich zum Ausdruck gebracht wird. Hier – in der vorliegenden Arbeit - geht es jedoch ausschließlich um Aspektverhältnisse, die am finiten Verb erkennbar sind. Bestimmend ist dabei das Begriffspaar „kursiv – komplexiv“.
Kursiv bedeutet, dass die Verbalhandlung (Vorgang) in ihrer Kontinuität, in ihrer Fortdauer betrachtet wird, während komplexiv heißt, dass die Verbalhandlung als ein abgeschlossenes Ganzes erscheint. Das besagt aber nicht zwangsläufig, dass mit der Handlung ein Resultat bewirkt oder ein Ziel erreicht worden sein muss (vgl. Schrodt 2004: 104-106).
2. Das Präfix „gi“ als Aspektzeichen im Althochdeutschen
Im Jahr 1891 veröffentlichte W. Streitberg eine bahnbrechende Arbeit über die Verwendung sprachlicher Ausdrucksmittel zur Bezeichnung der „perfektiven“ und „imperfektiven“ Aktionsart im Gotischen (die Begriffe Aspekt und Aktionsart waren zu jener Zeit einigermaßen verschwommen), und seither debattierten Linguisten (vor allem Germanisten und Slawisten) darüber, ob man von einem Verbalaspekt im Gotischen und in der Folge auch im Althochdeutschen sprechen kann oder nicht.
Der russische Sprachwissenschaftler Maslov ist hierüber der Meinung, es handle sich nur in dem Fall um ein Aspektpaar, wenn zwei lexikalisch gleichwertige Verben dadurch unterschieden werden, dass ein Imperfektivierungssuffix in das abgeleitete Verb eingebracht wird. Demzufolge wären got. hausjan - gahausjan und ahdt. sehen – gisehen keine Aspektpaare.
Diese seien lediglich Terminativierungen von aterminativen Verben und somit als eine Vorstufe des Aspekts zu sehen. Im Gegensatz dazu gibt es im Russischen Aspektpaare wie russ. perepisat´ - perepisyvat´, wo das Suffix –yva die Imperfektivierung eines perfektiven Verbs markiert (vgl. Đorđević 1994: 296-297).
Dem lässt sich allerdings entgegnen, dass die Germanistik – wie eingangs bereits erwähnt – zur Frage der Aspektualität eine eigene, selbständige Tradition entwickelt hat (vgl. Schwall 1991: 86).
Zudem räumt selbst Đorđević (1994: 297), der im Prinzip Maslovs Argumentation folgt, für das Gotische und das Althochdeutsche die Existenz sprachlicher Mittel wie Suffixbildungen, Präfixbildungen und periphrastische Verbformen zur Kennzeichnung aktionaler Unterschiede im Verbalvorgang ein.
Ein weiterer vehementer Kritiker davon, im gotischen bzw. althochdeutschen Präfix got. ga- oder ahdt. gi- ein Aspektzeichen zu sehen, ist Hans Pollak. Er vertritt die Auffassung, in der besagten Vorsilbe seien viele verschiedene Bedeutungen auszumachen, unter anderem auch die Bedeutung „zusammen“, die mitunter zu einer perfektivischen Bedeutung führen könne, das allerdings nicht zwangsläufig.
Vielmehr konstatiert er eine „semantische und sonstige Mannigfaltigkeit“, ein „kompliziertes Vielerlei“, das einer eigenen Untersuchungsmethode bedarf. Deshalb kommt er auf ein seiner Ansicht nach ähnlich gelagertes Problem zu sprechen, nämlich auf die Beschreibung des Präfixes lat. com- bzw. con- beim Verb zur Zeit Ciceros. Auch hier genüge es nicht, einen Ausdruck für „zusammen“ oder für „Perfektivierung“ festzustellen, sondern es müssten die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen aufgezeigt werden.
Um dies zu untermauern, weist er darauf hin, dass, obwohl in den meisten Fällen lat. trahere imperfektiv und lat. contrahere perfektiv auftritt, lat. nomen trahere „einen Namen bekommen“, lat. luna contrahit orbem (Ovid) hingegen „der Mond nimmt ab“ bedeutet.
Als zielführende Methode regt er (in Bezug auf das Gotische) an, in einem Text wie der Bibel Wulfilas, der eine Übersetzung aus dem Griechischen ist, relevante ga-Verben mithilfe des entsprechenden griechischen Wortes semantisch zu interpretieren, um so die Bedeutung der Vorsilbe herauszufiltern. Auf diese Weise hat er eine Vielzahl verschiedener Bedeutungen gewonnen (z.
B.: „completely, to destruction“ aus griech. άπο-, „throughout, completely“ aus griech. δια-, „utterly“ aus griech. έχ-, „indefinite figurative uses, intensification“ aus griech. χατα- und einige mehr). Des Weiteren vermeint er im Gotischen mindestens zehn Sonderbedeutungen für das Präfix got. ga- zu erkennen: „unbedingt“, „gewaltsam“, „vernichtend“, „in jeder Weise“, „bestimmt eintreffend“, „sogar“, „vollkommen“, „(der Glaubenstreue) entsprechend“, „mit höherer Macht“, „mit Erreichung des Ziels“ und degleichen mehr.
Hans Pollak sieht also das Präfix ga- als „semantisch schimmernd“, als „ein nur scheinbar sinnarmes Element“ (vgl. Pollak 1975:130-137)
Die Untersuchungsmethode von Pollak (1975: 130-137) weist allerdings einige Schwachstellen auf. Zunächst zieht er ein griechisches Verb heran, das in einer Übersetzung für ein gotisches steht, interpretiert dessen Präfix, das – wie die obigen Beispiele zeigen – in den unterschiedlichen griechischen Entsprechungen häufig ein jeweils anderes ist, und erschließt dann daraus eine von vielen Bedeutungskomponenten für die Vorsilbe got. ga-.
Dass sich nun aus mehreren griechischen Wortteilen mehrere verschiedene Bedeutungen herauskristallisieren lassen, ist einigermaßen nachvollziehbar, aber es ist wohl doch ein wenig zweifelhaft, ob all diese auf einen einzigen gotischen Präfix umzumünzen sind, zumal jeder, der bereits einen Text von einer Sprache in eine andere übersetzt hat, weiß, wie schwierig es sein kann, Wörter zu finden, die einander semantisch genau entsprechen.
Zudem erscheint eine solche Methode wenig zielführend, wenn man dem Präfix –ga oder –gi im Althochdeutschen bzw. im Gotischen eine oder mehrere konkrete grammatische Funktionen zugestehen möchte, was Wortpaare wie ahdt. „sehen – gisehen“ zweifellos nahelegen. Eine große Bedeutungsfülle, ein kompliziertes Vielerlei und semantisches Schillern festzustellen, hilft schließlich wenig dabei, ein sprachliches Element als Teil eines Systems zu beschreiben.
Selbstverständlich muss man aber andererseits auf der Hut sein und darf bei dem Versuch, den althochdeutschen Verbalpräfix gi- als Zeichen für eine grammatisch-funktionale Kategorie darzustellen, nicht den Wunsch zum Vater des Gedanken machen. Es empfiehlt sich also äußerste Vorsicht, zumal Pollak in einer Hinsicht Recht hat: sowohl das Gotische als auch das Althochdeutsche sind Korpussprachen und das bringt einige Probleme mit sich.
Für Schrodt (2004: 2-4) sind die gi-Präfigierungen im Althochdeutschen das Zeichen für den komplexiven Aspekt. In den meisten Fällen, also in jenen, in denen das entsprechende Grundverb selbst keine terminative oder perfektive Aktionsart aufweist, ist das Verb ohne Präfix als kursiv anzusehen. Das heißt, es bezeichnet den Verlauf einer Handlung, dessen Anfang und Ende nicht markiert sind.
Nichtsdestotrotz liefert der Kontext, in dem die relevanten Verben stehen, ausreichende Hinweise zur Beurteilung ihrer Aspektualität.
Bei der nachstehenden Untersuchung der Aspektverhältnisse in der althochdeutschen Benediktinerregel wird im Wesentlichen von dieser Auffassung ausgegangen.
3. Aspektverhältnisse in der althochdeutschen Benediktinerregel
Dieses Kapitel stellt den eigentlichen Kern der vorliegenden Arbeit dar, in dem es darum geht, althochdeutsche Verben mit gi-Präfix und die dazugehörigen Simplizien aufzufinden und einander gegenüberzustellen. Dabei soll gezeigt werden, dass diese durchaus die Geltung von Aspektpaaren für sich beanspruchen können.
Zu diesem Zweck wird zwar auch auf die Gegebenheiten der lateinischen Vorlage Rücksicht genommen, das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem innersprachlichen Kontext.
Bevor es jedoch zu einer Analyse der relevanten Textstellen kommt, muss auf einen Umstand Bedacht genommen werden, der diese ein wenig erschwert.
Die althochdeutsche Benediktinerregel als Beleg für grammatische Zustände im Althochdeutschen heranzuziehen, ist nicht völlig unproblematisch, denn es handelt sich bei diesem Text um eine Übersetzung aus dem Lateinischen, um eine Interlinearversion, die zumeist lateinische Formen mechanisch nachahmt und somit die „natürliche“ althochdeutsche Syntax ein wenig zurechtbiegt.
Besonders gut lässt sich das an den Verben der Wahrnehmung erkennen.
3.1. Die Verben der Wahrnehmung
Weithin bekannt ist, dass die menschliche Wahrnehmung über fünf Sinne erfolgen kann: dem Sehen, dem Hören, dem Riechen, dem Tasten und dem Schmecken. In der Benediktinerregel spielen vor allem die ersten beiden eine Rolle, zuvorderst ist aber das Sehen zu nennen. Die erste Textstelle, in der es auftritt, lautet:
Beispiel A:
Ergo si oculi domini speculantur bonos et malos et dominus de caelo semper respicit super filios hominum…
Keuuisso ibu auga truhtines scauuont cuatiu indi ubiliu … fona himile simblum sihit ubar parn manno…(Daab 1959: 30)
Übersetzung: So wenn die Augen des Herrn die Guten und die Schlechten betrachten (schauen) … vom Himmel (aus) sieht (er) immer (fortwährend) die Menschen (-kinder)…
Hier steht das unpräfigierte Verb ahdt. sihit für lat. respicit. Anzusehen ist es als kursiv, weil der komplexive Aspekt mit dem Adverb ahdt. simblum (immer, fortwährend) nicht vereinbar wäre. Schließlich kann man auch im Neuhochdeutschen nicht sagen:
Es ist also nicht so gedacht, dass der Herr die Menschen vom Himmel aus erkennt, sondern er sieht sie über eine unbegrenzte Zeitdauer hinweg.
In der nächsten Textstelle findet sich die präfigierte Verbform:
Beispiel B:
…sed etiam in corde si murmoraverit, etiam si impleat iussionem, tamen acceptum iam non erit deo, qui cor eius respicit murmorantem…
.uzzan sosama in herzin ibu murmoloot, auh ibu erfullit kipot, duuidaro antfangigaz giu nist cote, der herza sinaz kisihit murmolontaz . (Daab 1959: 25-26)
Übersetzung: .sondern auch im Herzen, wenn er murmelt, auch wenn er das Gebot erfüllt, so ist er dennoch Gott nicht mehr willkommen, der dessen murmelndes Herz erblickt…
Auch in diesem Beispiel begegnet das lateinische Verb respicit. Allerdings wird es hier mit ahdt. kisihit übersetzt. Dazu lässt sich zweierlei festhalten. Zum Einen fehlt im Gegensatz zum vorigen Beispiel eine adverbiale Bestimmung, die den kursiven Aspekt ausschließt. Zum Andern legt der Kontext, dass der Betreffende Gott nicht mehr willkommen ist, weil dieser das „murmelnde Herz“ sieht (im Sinne von wahrnimmt, erblickt) komplexiven Aspekt nahe (wenn auch nicht zwangsläufig): Aus dem „Sehen“ Gottes resultiert dessen Ablehnung.
Kausalität und zeitliche Aufeinanderfolge stehen in einem engen Verhältnis zu einander. Liest man z. B. die folgenden beiden Sätze, fühlt man sich veranlasst, den Inhalt des einen als Begründung für den des anderen aufzufassen, auch wenn eine derartige Beziehung der beiden Sätze nicht explizit ausgedrückt wird:
a Albert pflückt die Kirschen.
b Dann ist Susi verärgert.
Obwohl das Wort dann grundsätzlich nur anzeigt, dass b nach a stattfindet, stellt wohl jeder, der diese Sätze liest, eine gedankliche Kausalität her und nimmt somit an, dass Susi verärgert ist, weil Albert die Kirschen pflückt. Diese Nähe von Kausalität und zeitlicher Abfolge ist gegenseitig:
a Albert pflückt die Kirschen.
b Deshalb ist Susi verägert.
Es ist klar, dass Albert zuerst die Kirschen gepflückt hat (wenigstens einige davon), und Susi danach verärgert ist.
Wenn also Beispiel B dahingehend interpretierbar ist, dass Gott „dessen“ murmelndes Herz sieht (erblickt) und deshalb dieser „er“ Gott nicht mehr willkommen ist, dann lässt sich unter Umständen auch eine zeitliche Abfolge ausmachen:
b Danach ist „er“ Gott nicht mehr willkommen.
Nun wird diese Abfolge in Beispiel B nicht mit Tempora (das gesamte Beispiel steht im Präsens) ausgedrückt, sondern mit dem Adverb ahdt. giu („nicht mehr“) und dem Aspektzeichen ahdt. gi- in ahdt. kisihit.
Das alleine ist natürlich kein hundertprozentig hieb- und stichfester Beweis dafür, dass ahdt. gi- ein Zeichen für den komplexiven Aspekt sein muss, denn – um auf das Beispiel mit den Kirschen zurückzukommen – Albert kann zu dem Zeitpunkt, in dem Susi sich ärgert, noch immer mit dem Kirschenpflücken beschäftigt sein – aber es macht diese Aufassung doch wahrscheinlicher – vor allem, weil hinzu kommt, dass das Moment des Erkennens duch das Sehen, welches im Allgemeinen doch punktuell verstanden wird, in Beispiel B eine wesentliche Rolle zu spielen scheint.
Nun folgt ein weiteres Beispiel für das Verb „sehen“ in der präfigierten Form:
Beispiel C:
Et „qui in fratris tui oculo festucam videbas, in tuo trabem non vidisti.“
Indi „du in pruader dines augin halm kesahi, in dinemu kepret nikisahi.“
Übersetzung: Und „du hast den Halm im Auge deines Bruders erblickt, in deinem hast du (jedoch) den Balken nicht erblickt (bemerkt).“
Hier werden sowohl das lateinische Imperfekt (videbas), das eher kursiv zu sehen ist, als auch das lateinische Perfekt (vidisti), das man grundsätzlich als eher komplexiv auffassen müsste, mit einem gi-Kompositum wiedergegeben (kesahi bzw. nikisahi).
Wedel (1976: 277) meint dazu, dass der Unterschied im lateinischen Aspekt, der durch die beiden verschiedenen lateinischen Tempora bezeichnet wird, nicht zum Ausdruck gelangt. Als Grund dafür gibt er an, der Übersetzer habe die Präfixe wahrscheinlich deshalb gesetzt, weil man sich eine Handlung in der Zeitstufe der Vergangenheit üblicherweise als ein abgeschlossenes Ereignis und somit als komplexiv vorstellt.
Damit mag er zwar Recht haben, aber dennoch lässt sich noch ein weiteres Argument anführen, wenn man einen Blick auf den Kontext wirft, in dem die uns interessierenden Verben stehen. In der Textstelle geht es darum, dass der Betreffende (der mit „du“ Angesprochene) sich nicht richtig verhält, denn er sieht (erblickt) im Auge seines Bruder ein sehr kleines Ding (einen Halm), während er in seinem eigenen Auge den sehr großen Gegenstand (den Balken) nicht sieht.
Dieses Beispiel ist vor allem auch deshalb sehr aufschlussreich, weil es sehr deutlich zeigt, dass der Autor der althochdeutschen Benediktinerregel den gi-Präfix nicht allein deshalb setzt, um den Gegebenheiten des lateinischen Ausgangstextes zu entsprechen, sondern zumindest auch, um sein eigenes Verständnis, das auf seiner althochdeutschen Sprachkompetenz beruht, einfließen zu lassen.
Kurz: Hier sind Aspektverhältnisse feststellbar, die über die lateinische Vorlage hinausreichen.
Als vordergründig problematisch scheint sich jedoch die folgende Textstelle zu entpuppen:
Beispiel D:
„Quod oculus non vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascendit, quae praeparavit deus his, qui diligunt eum.“
„daz auga nikisah noh oora hoorta noh in herza mannes ufsteic, dei karata cot diem, die minnoont inan.“ (Daab 1959: 23-24)
Übersetzung: „das, was ein Auge nicht (nie) erblickte, noch ein Ohr hörte, noch in das Herz eines Menschen aufstieg, das bereitete Gott denjenigen, die ihn lieben.“
Das lateinische Perfekt non vidit wird hier zunächst mit dem althochdeutschen gi-Kompositum nikisahi übersetzt. Unmittelbar darauf erscheint aber ein anderes lateinisches Perfekt, nämlich audivit, als Simplex (gemeint ist ahdt. hoorta). Aber auch an dieser Stelle lässt sich aus dem Kontext eine Erklärung erschließen.