Iphigenie
auf Tauris
4 Aufzug - 3 Auftritt
In der
Klassik, einer sowohl geistes- als auch kunstgeschichtlichen Epoche, ist
humanitäres Denken und Handeln als höchstes Ideal erachtet worden. Dieser
Kerngedanke beinhaltet vor allem die Forderung nach einer edlen, aufrichtigen
Gesinnung und einem auf Wahrheit und Ehrlichkeit ausgelegten Charakter;
sittliche Vollkommenheit soll durch harmonische Verbindung von Verstand und
Gefühl erlangt werden. Da Iphigenie, die zentrale Figur in Goethes
gleichnamigem Werk „Iphigenie auf Tauris“ die Verkörperung dieses Ideals ist, kann
das Drama der klassischen Epoche zugeordnet werden.
Iphigenie steht nachdenklich vor antiken Säulen, ihre Humanität steht auf dem Prüfstand
In der
vorliegenden Textstelle jedoch, die im Folgenden erörtert werden soll, wird
Iphigenies Humanität auf den Prüfstand gestellt. Die unmittelbare Vorgeschichte
ist hierfür ein wichtiger Auslöser. Iphigenie führt nämlich vor dem zu
behandelnden Monolog ein Gespräch mit Arkas, dem Boten des Taurerkönigs, in
welchem sie sich gemäß Pylades’ Anweisung verstellt, um den Fluchtplan nicht zu
gefährden. Sie gibt vor, einer der Fremden sei mit einem Verwandtenmord
belastet und habe dadurch den Tempel der Diana entweiht. Aus diesem Grund müsse
sie das Bild der Göttin Diana im Meer säubern, um durch diesen Vorwand Pylades
und Orest freilich die Flucht zu ermöglichen. Der Argwohn, den Arkas daraufhin
hegt, ist der entscheidende Faktor für Iphigenies Gefühlslage im folgenden
Auftritt.
Grundlegend
ist in Bezug auf das äußere Geschehen festzustellen, dass es extrem spärlich, ja
im Grunde nicht vorhanden ist, da die innere Handlung essenziell ist. Schon die
Tatsache, dass Iphigenie im Monolog spricht, ist ein Hinweis darauf, dass der
Auftritt zentral für das gesamte Drama ist und sich im Innern der Sprecherin
Regungen vollziehen. Diese resultieren daraus, dass Arkas’ Argwohn sie
beeinflusst und „das Herz im Busen auf einmal umgewendet“ (IV, 3, V. 1504f)
hat. Davor schien Iphigenie, sich für Pylades entschieden zu haben, nun aber
äußert sie: „Ich erschrecke!“ (IV, 3, V. 1505) und leidet unter dem Konflikt, der
sich auf psychologischer Ebene entwickelt.
„O
bleibe ruhig, meine Seele!“ (IV, 3, V. 1526) appelliert sie im Monolog an sich
selbst. Dies ist insofern ein bezeichnender Wendepunkt im Drama, als Iphigenie
sich zuvor allein durch ihre edle, tolerante Gesinnung und ihren vollkommenen
Charakter ausgezeichnet hat, nun aber schwer ins Wanken kommt aufgrund ihrer
Verstellung gegenüber Arkas. Für den Zuschauer beziehungsweise Leser des Dramas
ist diese Situation Iphigenies ungewohnt und überraschend, da er die
Ideenträgerin zuvor ausschließlich als Verkörperung des Ideals wahrgenommen
hat. Auch für die Figur selbst ist die Gefühlslage außergewöhnlich, sie fragt
sich: „Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?“ (IV, 3, V. 1527). Weshalb
sie sich hin- und hergezogen fühlt, versucht sie im Selbstgespräch zu beantworten.
Iphigenie äußert nämlich im Verlauf er Textstelle, dass sie allein von dem starken
Wunsch, ihren Bruder Orest zu retten und damit ihre Familie vom Tantalidenfluch
zu befreien, getrieben worden ist. Iphigenie wird sich bewusst: „Nur sie [die
Familie] zu retten drang die Seele vorwärts.“ (IV, 3, V. 1519) und „so lag
Tauris hinter mir.“ (IV, 3, V. 1522) Dadurch, dass ihr Bestreben nach Rettung
der Familie und ihre Sehnsucht nach Rückkehr in die Heimat, ins Land der
Humanität, übermächtig geworden sind, hat sie ihre zweite Bestimmung
vernachlässigt. Ihre Aufgabe ist es nämlich außerdem, das Taurervolk zur
Humanität zu erziehen, was mit der Abschaffung der Menschenopfer schon einen glücklichen
Anfang genommen hat. Glücklicherweise hat ihr das Gespräch mit Arkas aber wieder
bewusst gemacht, „dass ich [sie] auch Menschen hier verlasse [...]“(IV, 3, V.
1524) und verantwortlich für das Wohl des Volkes, insbesondere Thoas’ sei.
So
befindet sie sich nun also in einem unlösbaren Konflikt, der, egal wie
Iphigenie sich entscheidet, einen Verrat zur Folge haben wird. Bleibt sie
weiterhin in Pylades’ Fluchtplan involviert, hintergeht sie Thoas, der wie ein
zweiter Vater für sie ist. Bleibt sie ihm treu, liefert sie ihren Bruder Orest
und Pylades der Opferung aus. Wie zentral dieser Gewissenskonflikt ist, zeigt
sich auch an der sprachlichen Gestaltung, die mittels eines hohen Grades an
Bildhaftigkeit und Metaphorik vollzogen worden ist. Besonders die beiden
Vergleiche (vgl- IV, 3, V. 1506-1508 und IV, 3, V. 1520f.) eröffnen anschaulich
einen Einblick in Iphigenies Gefühlswelt. Weiterhin setzt sie in ihrem Monolog Metaphern
ein. So erwähnt sie, wie „eine Wolke“ (IV, 3, V. 1511) sie schon zu retten schien.
Dabei denkt Iphigenie sicherlich an die Göttin Diana, die sie schon vor Aulis
in eine ebensolche Wolke hüllte, um die Ideenträgerin vor dem drohenden
Opfertod zu bewahren.
Wie
erregt sie in ihrer mentalen Situation ist, wird vor allem an den letzten
Versen des Monologs, der durchgehend im Blankvers verfasst ist, deutlich. Hier
treten nämlich Ausrufe- und Fragesätze im Wechsel auf, die Iphigenies Hin- und
Hergerissenheit, ihren Konflikt zwischen Tauris und der Familie, symbolisieren:
„O bleibe ruhig, meine Seele! Beginnst du nun zu schwanken und zu zweifeln?“
(IV, 3, V. 1526f.)
Abschließend
soll versucht werden, die bisherigen Ergebnisse in den weiteren Handlungszusammenhang
einzuordnen. Iphigenie hält mit ihrem Monolog insofern das Geschehen auf, als
durch ihre Unentschlossenheit und ihre skeptische, schwankende Haltung der
Fluchtplan gefährdet wird, den Pylades als Motor der äußeren Handlung und des
inneren Konflikts so beharrlich und unbeirrt vorantreibt. Die betrachtete
Textstelle ist demnach äußerst zentral, weil Iphigenie als Verkörperung der von
der Klassik geforderten Humanität in Bezug auf ihre Idealität geprüft wird.
Betrachtet man den weiteren Verlauf des Dramas, so stellt man jedoch fest, dass
Iphigenie dieser Prüfung standhalten kann und ihrem idealen Wesen treu bleibt,
ja durch ihren auf Wahrheit ausgelegten Charakter sogar den Grundkonflikt löst.
Dies gelingt ihr durch den Wandel von Vision zu Illusion, sie wird als Folge
davon eigenverantwortlich tätig. Sie vertraut völlig auf Thoas’ Menschlichkeit und
bringt ihn zu einer friedlichen Lösung, die die Rückkehr nach Griechenland nach
sich zieht. Somit kommt Iphigenie in ihrer humanitären Verantwortung zur
Geltung und beendet das Drama als ideale Figur, genau wie von der Klassik
gefordert