Peter Bichsel (geb. 1935)
Die
Tochter (1966)
Abends warteten sie auf Monika. Sie
arbeitete in der Stadt, die Bahnverbindungen sind schlecht. Sie, er und seine
Frau, saßen am Tisch und warteten auf Monika. Seit sie in der Stadt arbeitete,
aßen sie erst um halb acht. Früher hatten sie eine Stunde eher gegessen. Jetzt
warteten sie täglich eine Stunde am gedeckten Tisch, an ihren Plätzen, der
Vater oben, die Mutter auf dem Stuhl nahe der Küchentür, sie warteten vor dem
leeren Platz Monikas. Einige Zeit später dann auch vor dem dampfenden Kaffe,
vor der Butter, dem Brot, der Marmelade.
Sie war größer gewachsen als sie, sie
war auch blonder und hatte die Haut, die feine Haut der Tante . „Sie war
immer ein liebes Kind“, sagte die Mutter, während sie warteten.
In ihrem Zimmer hatte sie einen
Plattenspieler, und sie brachte oft Platten mit aus der Stadt, und sie wusste,
wer darauf sang. Sie hatte auch einen Spiegel und verschiedene Fläschchen und
Döschen, einen Hocker aus marokkanischem Leder, eine Schachtel Zigaretten.
Der Vater holte sich seine Lohntüte auch
bei einem Bürofräulein. Er sah dann die vielen Stempel auf einem Gestell,
bestaunte das sanfte Geräusch der Rechenmaschine, die blondierten Haare des
Fräuleins, sie sagte freundlich „Bitteschön“, wenn er sich bedankte.
Über Mittag blieb Monika in der Stadt,
sie aß eine Kleinigkeit, wie sie sagte, in einem Tearoom. Sie war dann ein
Fräulein, dass in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht.
Oft fragten sie, was sie alles getan hätte
in der Stadt, im Büro. Sie wusste aber nichts zu sagen.
Dann versuchten sie sich wenigstens,
sich genau vorzustellen, wie sie beiläufig in der Bahn ihr rotes Etui mit dem
Abonnement aufschlägt und vorweist, wie sie den Bahnsteig entlang geht, wie sie
sich auf dem Weg ins Büro angeregt mit Freundinnen unterhält, wie sie den Gruß
eines Herrn lächelnd erwidert.
Und dann stellten sie sich mehrmals vor
in dieser Stunde, wie sie herkommt, die Tasche und ein Modejournal unter dem
Arm, ihr Parfum; stellten sich vor, wie sie sich an ihren Platz setzt, wie sie
dann zusammen essen würden.
Bald wird sie sich in der Stadt ein
Zimmer nehmen, das wussten sie, und dass sie dann wieder um halb sieben essen
würden, dass der Vater nach der Arbeit wieder seine Zeitung lesen würde, dass
es dann kein Zimmer mehr mit dem Plattenspieler gäbe, keine Stunde des Wartens
mehr. Auf dem Schrank stand eine Vase aus der Stadt, ein Geschenkvorschlag aus
dem Modejournal.
„Sie ist wie deine Schwester“, sagte die
Frau, „sie hat das alles von deiner Schwester. Erinnerst du dich, wie schön
deine Schwester singen konnte.“
„Andere Mädchen rauchen auch“,
sagte die Mutter.
„Ja“, sagte er, „das habe ich auch
gesagt.“
„Ihre Freundin hat kürzlich
geheiratet“, sagte die Mutter.
Sie wird auch heiraten, dachte er,
sie wird in der Stadt wohnen.
Kürzlich hat er Monika gebeten:
„Sag mal etwas auf Französisch.“
„Ja“, hat die Mutter wiederholt,
„sag mal etwas auf Französisch.“ Sie wusste nichts zu sagen.
Stenografieren kann sie auch,
dachte er jetzt. „Für uns wäre das zu schwer“, sagen sie oft zueinander.
Dann stellte die Mutter den Kaffee
auf den Tisch. „Ich habe den Zug gehört“, sagte sie.