Inhalt
1. Die Kurzgeschichte „Die Bestie“ 3
1.1. Entstehungsgeschichte. 3
1.2. Einordnung in Brechts Gesamtwerk. 7
2. Analyse der Kurzgeschichte. 10
3. Fragen an den Text 16
3.1. Wie ist das Verhältnis zwischen realer Vorlage und
dichterischer Fiktion? 16
3.2. Warum verzichtet Brecht auf den Akt des
Wiedererkennens? 17
3.3. Wie vermittelt der Autor den Begriff Bestie in
seinem Werk und wie wird die Bestie dargestellt? 18
3.4. Welche Bedeutung hat der Apfel? 22
3.5. Warum werden die Darstellungen des richtigen
Generals nicht filmisch festgehalten? 24
3.6. Warum wird der General stets als „der Ähnliche“
bezeichnet? 25
3.7. In wie weit ist der Einfluss von Brechts Theater-
und Filmtheorie erkennbar? 26
4. Bert Brecht – Biografie. 27
5. Was kritisiert Brecht in seiner Kurzerzählung? 30
5.1. Kritik am aristotelischen Theater als Verkörperung
des Illusionstheaters 30
5.2. Kritik am Umgang mit der Darstellung der
Wirklichkeit 31
5.3. Kritik an der kollektiven Vorstellung von
Bestialität 32
6. Quellenangaben. 34
1.
Die Kurzgeschichte „Die Bestie“
1.1. Entstehungsgeschichte
Brecht interessierte sich schon recht früh für das
Medium Film und verfasste auch Drehbücher für einige Stummfilme. Folglich war
er mit dem Entstehungsprozess auch vertraut. Es gibt Quellen, die darauf
verweisen, dass Brecht engen Kontakt zur sowjetischen Filmindustrie hatte. Am
22. Juni 1928 erschien in der „Frankfurter Zeitung“ folgender Beitrag mit dem
Titel „Ein Wiedererkennen“: „Die russische Filmgesellschaft Moszroprom-Ruß-Film
drehte vor kurzem den Film „Der weiße Adler“, die die Pogrome in Südrussland
vor dem Krieg darstellt und die Haltung der damaligen Polizei brandmarkt. Für
die Rolle des berüchtigten Gouverneurs Muratow, der als Urheber dieser
Metzeleien gilt, war der Moskauer Schauspieler Kochalow gewonnen worden. Kurz
vor der ersten Aufnahme verzichtete jedoch die Filmregie auf seine Mitwirkung,
da die Rolle von einem neu entdeckten Darsteller gemimt werden sollte, der dem
Gouverneur täuschend ähnlich sah und der für ein geringes Entgelt sich der
Gesellschaft verpflichten wollte. In der Uniform eines kaiserlichen Gouverneurs
betrat der allen unbekannte Darsteller den Aufnahmeraum und man war gerade
dabei die Szene zu drehen, in der Muratow die Deputation der Israeliten
empfing, die ihn beschwor, dem weiteren Morden Einhalt zu gebieten. Unter den
Komparsen befanden sich zwei jüdische Einwohner der Stadt, die s. Zt.
Mitglieder der genannten Deputation gewesen waren. Man hatte die Greise
engagiert, um die Aufnahmen noch naturgetreuer und charakteristischer zu
gestalten. Plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei. Die beiden Juden
hatten in der Person des neuen Schauspielers den wirklichen Muratow erkannt,
der aus Not die Rolle seines eigenen „Ich“ übernommen hatte, um auf der
Leinwand sein früheres Tun wiederzugeben. Brecht nahm dies zur Vorlage für
seine kurze Zeit später verfasste Kurzgeschichte. Anlass dafür war ein
Preisausschreiben der „Berliner Illustrirten Zeitung“, an dem Brecht teilnahm. „Die
kurze Novelle, die ein Thema in knappster, lebendigster Fassung zusammendrängt
und in packender Steigerung ein Geschehnis spannend und bannend darstellt, ist
eine Form der erzählenden Prosa, die wie wenig andere typischer Ausdrucke unserer
Zeit ist. Fremde Autoren sind in Novellen aus der Großstadt und aus der Weite
der Welt mit Konzentration und diesem Tempo vorausgegangen, während die
deutsche Kurzgeschichte erst im Begriff ist, sich ihren Platz im Schrifttum zu
erwerben.“ Ziel war es, die deutsche Kurzprosa zu fördern und deutsche Autoren
und Autorinnen zu motivieren, etwaige Defizite in dieser Gattung, in Bezug auf
Thema und formalen Ausführungen, zu überwinden und dadurch neue Impulse für die
deutsche Literatur auszusenden. Dabei muss angemerkt werden, dass gerade in
dieser Zeit kurze Geschichten oder Fortsetzungsromane in diversen Zeitungen
oder Zeitschriften bei der Leserschaft sehr beliebt waren.
Bertold Brecht gewann mit „Die Bestie“ den ersten
Preis und wurde dafür mit 3.000 Mark belohnt. Die Publikation in der „Berliner
Illustrirten Zeitung“ am 9. Dezember 1928 wird meist als Erstveröffentlichung
zitiert. Erst 1930 veröffentlichte man die Kurzgeschichte im Verlag Felix Bloch
unter dem Titel „9 Kurzgeschichten“.
1.2. Einordnung
in Brechts Gesamtwerk
Prinzipiell ging Bertolt Brecht als Dramatiker und
Lyriker in die Literaturgeschichte ein – auch wenn er drei Romane verfasst hat.
Allerdings hat Brecht nur den „Dreigroschenroman“ abgeschlossen; „Tuiroman“ und
„Die Geschäfte des Julius Cäsar“ sind lediglich fragmentarisch erhalten. Dabei
hat Brecht, wie schon erwähnt, bereits in der Schulzeit mit Aufsätzen und
Kurzgeschichten die Aufmerksamkeit auf sich gezogen und gerade in den 1920er
Jahren eine ansehnliche Menge an Kurzprosa verfasst, die aber überwiegend nicht
in der Brechtforschung behandelt wurde. Die bekannteste Kurzgeschichte trägt
den Titel „Kalendergeschichten“ (1949) und ist ein Spätwerk des deutschen
Literaten.
Vor 1920 hat Brecht an die siebzehn, meist einseitige,
Geschichten unterschiedlicher Genres verfasst. Der Durchbruch gelang ihm
allerdings erst mit der Veröffentlichung von „Bargan lässt es sein“ (1921).
Daraufhin intensivierte Brecht die Prosaproduktion und eine Vielzahl von
Erzählungen wurden publiziert. Viele Geschichten davon erschienen in Zeitungen
und Zeitschriften und so wurde Bertolt Brecht mit der Zeit ein Begriff -
zunächst in der Berliner und in weiterer Folge auch in der deutschen
Literaturszene. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass nicht die
Erreichung eines spezifischen Bekanntheitsgrades für die vermehrte
Literaturproduktion verantwortlich war, sondern vielmehr der finanzielle Aspekt[1]. 1928 erschien die Kurznovelle „Die Bestie“. Danach verlegte Brecht
sein Hauptaugenmerk auf andere Gattungen. 1930 verfasste er noch ein Drehbuch,
basierend auf die preisgekrönte Novelle.
Die 1920er Jahre waren für Brecht eine aufregende Zeit
in einer noch aufregenderen Stadt: der technische Fortschritt kam im rasanten
Tempo auf die Gesellschaft zu – das Radio wurde zum Massenmedium und die Bilder
haben nicht nur laufen gelernt, sondern auch „sprechen“. Als Kunstrichtung
etablierte sich die „Neue Sachlichkeit“[2]. Dies alles hatte starken Einfluss auf den jungen Brecht und die
Erfahrungen, die er damit machte, sowie seine Beobachtungen ließ er in seine
Werke einfließen. Gerade der Technikkult, insbesondere der Film interessierte
ihn brennend. Bereits in Augsburg veröffentlichte der junge Brecht die ersten
Filmkritiken für den „Volkswillen“.[3]
Für Brecht bot die Filmproduktion
eine neue Möglichkeit der Kunstproduktion sowie der Miteinbeziehung der
Zusehenden. Für ihn hatte der Film den Vorteil,
„... auf die Außenschau
angewiesen zu sein,
eine Beobachterperspektive
einnehmen zu
müssen und dadurch mit der „Inkubusgewohnheiten“
der bügerlichen Literatur,
speziell mit der
Introperspektive und der
psychologischen
Motivation des Romans und der
zugeordneten
Rezeptionsform der Einfühlung,
zu brechen.“[4]
2. Analyse
der Kurzgeschichte
2.1. Sprache
Brecht verwendet in seiner Kurzgeschichte eine
einfache und leicht zu verstehende Sprache – zumindest wird beim ersten
Durchlesen der Inhalt sofort verstanden. Allerdings verbirgt sich vieles in
dieser Geschichte „zwischen den Zeilen“, so dass ein mehrmaliges Lesen erst die
tiefere Bedeutung der Erzählung erfassbar macht. Brecht hat auch in dieser
Erzählung nicht auf seine typisch verschachtelten und bisweilen mehrere
zeilenlange Satzkonstruktionen verzichtet. Die Novelle ist durchgehend im
Präteritum verfasst und weist keinen Tempuswechsel auf.
Das Interessante an Brechts Bestie ist der
montagenartige Umgang mit der Sprache. Beim Lesen wird der Fokus der/des
RezipientIn immer wieder auf bestimmte Charaktere der Geschichte gelenkt. So
entsteht der Eindruck, einen Film zu „lesen“. Einzelne Textpassagen muten wie
Filmszenen an, die einfach aneinandergereiht, die Handlung der Erzählung
tragen. Diese Montagetechnik erinnert somit eher an einen Film, denn an eine
Kurzgeschichte des jungen Brecht. Selten scheint die Erzählung auf eine
einzelne Person fokussiert, der Text versucht Konstellationen der Figuren
innerhalb unterschiedlicher Situationen darzustellen. Der Wechsel von den
Figuren erinnert an die moderne Schnitttechnik mit ihren Stilmitteln, wie
Totale, Halbtotale oder Nahaufnahme.
„Der Regiestab stand auf und
fing an, auf Kochalow, der zugesehen hatte, einzureden. Alle sprachen
gleichzeitig.“
Diese beiden Sätze verlagern die Aufmerksamkeit der
Leserinnen auf den Regiestab. (Beim Film würde diese Kameraeinstellung „Totale“
heißen, da eine größere Gruppe bildhaft zu erfassen ist und somit die Kamera
aus der Distanz aufnehmen muss.) Deren Reaktion wird genau geschildert und es
folgt eine kurze Überleitung – etwa vergleichbar mit einer Überblendung beim
Film oder erläuternden Kommentaren aus dem Off:
„Gruppen bildeten sich, das
Wesen der Bestie wurde erörtert.“
Als nächstes „schwenkt“ die Erzählung zum laienhaften
Hauptdarsteller über:
„Auf dem historischen Stuhl
des Generals Muratow, [...], saß vergessen der «Ähnliche», gequält vor sich
hinstarrend, trotzdem horchte er. Er verfolgte anscheinend genau die Gespräche.
Er bemühte sich, die Situation zu erfassen.“
Nun wird ausführlich auf die Reaktion des Darstellers
fokussiert. Im Filmjargon würde man jetzt von einer Nahaufnahme sprechen, da
die Haltung und auch das Verhalten genau beschrieben werden. Als nächstes
wandert das Hauptaugenmerk auf eine Gruppe, bestehend aus den beiden Juden:
„Auch die Darsteller der
jüdischen Deputation
beteiligten sich an der
Erörterung.“
Die Kurzweiligkeit dieser „Halbtotalen“ lässt schon
vermuten, dass die jüdischen Darsteller weniger zur Wahrheitsgetreue des Films
beisteuern dürfen als sie könnten. Dennoch folgt eine längere Sequenz, in denen
diese im Mittelpunkt stehen:
„Eine Zeitlang hörte man auf
zwei Komparsen, alte jüdischeEinwohner der Stadt, die seinerzeit Mitglieder dergenannten
Deputation gewesen waren.
Man hattedie Greise
engagiert, um die Aufnahmenoch naturgetreuer und charakteristischer zu
gestalten.“
Beim Lesen dieser Textpassage hat man das Gefühl, dass
die Wichtigkeit der beiden Darsteller sich von Wort zu Wort reduziert – ähnlich
eines „Rauszoomens“ von einem kleinen Bildteil auf einen größeren
Bildausschnitt. Auch die folgenden Zeilen unterstützen diesen Eindruck:
„Sie fanden merkwürdiger Weise,
dass das allererste Spiel des «Ähnlichen» nicht schlecht gewesen sei.
Sie könnten nicht sagen, wie
es auf andere, Unbeteiligte, wirke, aber auf sie habe seinerzeit gerade das
Gewohnheitsmäßige und Bürokratische einen entsetzlichen Eindruck gemacht.“
Langsam entzieht sich der Fokus den beiden Darsteller
und die folgenden Sätze sind schon wieder allgemeinerer Natur – beim Film würde
der Zoom jetzt wieder in Richtung Totale gehen:
„Diese Haltung hatte der
«Ähnliche» ziemlich naturgetreu wiedergegeben. [...] Der Hilfsregisseur lehnte
das ab,...“
Im Filmjargon würde diese Dreier-Konstellation als
Halbtotale bezeichnet werden. Dem folgt wieder eine „Nahaufnahme“ auf den
Hilfsregisseur, der die Kompetenz der jüdischen Berater in Frage stellt und sie
auch deren mindere Wichtigkeit für die Filmproduktion spüren lässt:
„«Muratow hat immer Äpfel
gegessen», sagte er schneidend.
«Waren Sie überhaupt dabei?»“
Diese Textpassage ist ein Paradebeispiel für das
montageartige Spielen mit der Sprache beziehungsweise mit dem Textaufbau in
Brechts Novelle. Sie vermittelt sehr gut das Filmartige in „Die Bestie“.
Mit Sicherheit wurde der Autor durch den damals
äußerst populären Stummfilm inspiriert, schließlich war dieser gerade an seinem
Zenith angelangt und die Stars und Sternchen der Filmbranche füllten
seitenweise das neue Massenmedium Zeitung und so fanden die laufenden Bilder
immenses Interesse in der Bevölkerung.[5] In wie weit Brecht nun das Medium Film in den Mittelpunkt seiner
Kurzgeschichte stellte beziehungsweise ob er dieses auch kritisieren wollte,
wird noch in weiterer Folge erörtert werden.
2.2. Aufbau
Die Erzählung ist chronologisch aufgebaut und gibt
somit die Geschichte ihrem Verlauf entsprechend wider. Auch ist die klassische
Gliederung in Einleitung, Hauptteil und Schluss klar ersichtlich.
Brecht hat sich für das Ende eine Besonderheit
aufgehoben und die Variante des offenen Schlusses gewählt. Allerdings ist
dieser nicht fragmentarisch, so dass der Leser oder die Leserin in Unwissenheit
zurückbleibt, sondern offen in Hinsicht auf die Konsequenzen des Geschehenen.
Wobei hierbei angemerkt werden muss, dass der weitere Verlauf des Ganzen für
die vom Autor beabsichtigte Aussage unwichtig ist.[6]
Übrig bleibt nur einE RezepientIn, die/der angeregt
werden sollte, über die Kernaussagen, die im weitern Verlauf der Arbeit
erörtern werden, nachzudenken und sich in hermeneutischer Manier an den Inhalt
zu wagen. Brecht wollte die Leserschaft motivieren, sich eine „produktive
Haltung“ anzueignen, von ihr sozusagen den Mut zu denken einzufordern, wie auch
er als Künstler selbst aufgefordert ist, Mut zu zeigen und zu denken.
“Alles kommt darauf an, dass ein richtiges
Denken gelehrt wird, ein Denken, das alle Dinge und Vorgänge nach ihrer
vergänglichen und veränderbaren Seite fragt.“[7]
Die Aufforderung Kunst, nicht nur zum Zwecke des
Konsums zu produzieren, sondern als pädagogisches Mittel einzusetzen und von
der „Kunstkonsumentenschar“ auch eine kognitive Form von Mitarbeit zu fordern,
verstärkt Brecht später mit seinem epischen Theater. Eines der Grundprinzipien
dessen ist, das Theater ans sich als paradigmatische Anstalt anzusehen und die
Möglichkeit der ZuseherInnen-Erziehung auch ausgeschöpft werden soll.
Aus dieser Perspektive sind auch Ähnlichkeiten mit
einem Kant, der ja die Eigenverantwortung des Menschen proklamierte oder aber
auch im Sinne der aufklärerischen Erziehungsaufforderung in der Literatur alla
„docere et delectare“ – also der Verbindung von Belehrung und Vergnügen im
Rahmen der Kunst – erkennbar. Beide Male steht die Ausreizung der Künste in
ihren eigenen Leistungsbereichen im Vordergrund. Brecht steht im 20.
Jahrhundert allerdings ziemlich alleine mit der Kombination von Erziehung und
Unterhaltung im künstlerischen Bereich dar, da diese Tradition von anderen Strömungen
unterminiert wurde.
2.3. Erzähler
Der auktoriale Erzähler schildert seine Eindrücke der
Handlung aus einer Außenperspektive, allerdings lässt er den/die RezipientIn im
Unklaren, wie viel er wirklich weiß und spielt mit seinem Wissensstand. Als
LeserIn ist man unschlüssig, in wie weit man den Ausführungen vertrauen kann,
da immer ein Teil der Aussagen interpretierbar bleibt beziehungsweise nicht
eindeutig ist. Der Erzähler spielt mit dem Spekulativen – dazu bedient er sich
hypothetischer Adverbien, wie zum Beispiel „vielleicht“ oder „anscheinend“, und
andeutungsvollen Verben, wie zum Beispiel „scheinen“:
„Die Regieanweisung hat der
«Ähnliche» anscheinend vergessen.“
„Die Äpfel schienen Eindruck
auf ihn zu machen.“
Des Weiteren steht der Erzähler dem Ganzen distanziert
gegenüber und kommentiert das Geschehen aus der Entfernung:
„Der «Ähnliche» stellte sich
nicht ungeschickt an. Er machte alles, was man ihm sagte, er machte es nicht
einmal schlecht.“
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Erzähler
tendenziell allwissend auftritt und sich unterschiedlicher Stilmittel bedient.
Er zeigt Tendenzen zur (Selbst-)Ironie und zu Euphemismen, damit spielt er mit
den RezipientInnen und möchte sie zum aktiven Lesen anstiften und macht dadurch
ein mehrmaliges beziehungsweise ein multiperspektives Lesen der Kurzgeschichte
unabdingbar.
3. Fragen
an den Text
3.1. Wie
ist das Verhältnis zwischen realer Vorlage und dichterischer Fiktion?
Brecht fand die Vorlage der Kurzgeschichte in einer
Zeitungsnotiz. Allerdings hat er diese nicht eins zu eins übernommen, sondern
der realen Geschichte die Pointe entzogen. Zwar wurde auch in der Wirklichkeit
ein Film über die Pogrome in Südrussland (Mitte der 1880er bis in die 1890er
unter den Zaren Alexander II. und Nikolaus II.) gedreht, doch verzichtete
die Regie auf den russische Hauptdarsteller Kochalow noch vor den ersten
Aufnahmen, da ein weitaus „ähnlicherer“ Darsteller gefunden worden war, der
noch dazu viel weniger Salär verlangte – dies war der echte Gouverneur Muratow.
Bei Brecht hingegen wird auf die Mitwirkung des russischen Schauspielers nicht
verzichtet. Der „Ähnliche“, wie der echte Gouverneur fortwährend bezeichnet
wird, fungiert lediglich als „Vorspieler“ der brutalen Szenerie der
Urteilsfestlegung. In wie weit die Situation sich wirklich so abgespielt hat,
ist nicht genau nachvollziehbar, da der Zeitungsbericht sich darüber
ausschweigt. Somit kann und muss auch angenommen werden, dass Brecht sich bei
russischen Filmproduktionen ausgekannt haben muss[8]. Die detaillierte Beschreibung des Produktionsprozesses ist ein
aussagekräftiges Indiz dafür. Weiters waren die jüdischen Berater bei der
realen Filmproduktion als Komparsen engagiert und nicht, wie in Brechts
Erzählung, bloße Berater. Genau diese sind auch Dreh- und Angelpunkt des
Ausgangs des Vorfalls in der Wirklichkeit – laut Zeitungsnotiz waren sie es,
die die wahre Identität des „neuen“ Schauspielers an den Tag legten. Bei Brecht
hingegen bleibt die Persönlichkeit unerkannt – lediglich die/der RezipientIn
hegt den Verdacht, dass der Muratow-Darsteller der echte General sein könnte.
Der Ausgang der Kurzgeschichte bestätigt diese Vermutung.
Gerade in den 1920er Jahren kam es zu einer Kehrtwende
in der deutschen Filmproduktion. Waren bis dato das Aussehen beziehungsweise
die Ähnlichkeit des Schauspielers oder der Schauspielerin mit der
darzustellenden Figur wichtig, so trat dies mit Ende der Stummfilmära vermehrt
in den Hintergrund und die Popularität der Darsteller zunehmend in den
Mittelpunkt – eine neue Ära des Starkultes begann.
3.2. Warum
verzichtet Brecht auf den Akt des Wiedererkennens?
Im Gegensatz zur Vorlage aus der Zeitung streicht
Brecht das Moment des Wiedererkennens des Generals durch die jüdischen
Statisten. Nach Aristoteles ist der Akt des Wiedererkennens (Anagnorisis) ein
dialektischer Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis[9], doch Brecht verzichtet auf diesen Umbruch. Viel mehr versucht der
Autor bei der Leserschaft ein Gefühl der Beklemmung[10] hervorzurufen, um den Effekt der Erzählung beim Lesenden zu
steigern. Somit gelangt die/der RezipientIn in die Situation mehr zu wissen als
die Beteiligten und zwingt sie somit noch tiefer in die Handlung einzutauchen
und darüber hinaus wird ein aktiveres Lesen provoziert.
3.3. Wie
vermittelt der Autor den Begriff Bestie in seinem Werk und wie wird die Bestie
dargestellt?
Brecht lässt die Bestie in verschiedenen
Darstellungsweisen auftreten. Man kann von drei unterschiedlichen
schauspielerischen Variationen sprechen.
Zunächst gibt Muratow den Gouverneur nach seinen
eigenen Vorstellungen beziehungsweise seinen eigenen Erinnerungen nach. Das
heißt, Muratow wiederholt sein damaliges Handeln nochmals. Hier spricht man von
einer authentischen Darstellung des Geschehen, da ja eigentlich alles
wahrheitsgetreu geschauspielert wird. Der „Ähnliche“ agiert im Rahmen des
eigenen Ermessens und Empfindens. Er schlüpft in die Rolle des Kleinbürgers,
der sich keine Schuld aufladen möchte und es auch aus Kurzsichtigkeit heraus
nicht kann. Muratow sieht seine Rolle als Scherge für etwas Größeres, eines Systems,
dem er nur Folge leisten kann und als kleiner Untergebener – als
„Schreibtischtäter“ – nur Befehle ausführt – ohne sich selbst dabei schmutzig
zu machen. Insofern sieht er selbst kein Blut an seinen Händen, da er ja nur
Befehlsübermittler und kein ausführendes Organ in der Todesmaschinerie der
Pogrome war. Seine Darstellung fügt sich der Vorstellung des kleinen Beamten:
Muratow spielt ohne große Gesten, ohne direkte Grausamkeit; die Szene könnte
sich fast in jedem x-beliebigen Büro abspielen. Seine „Unschuld“ unterstreicht
Muratows Frage nach den Hilfsschergen des Generals:
„Jetzt
drehte sich der «Ähnliche» fragend nach den Regisseuren um
und murmelte: «Wer führt sie ab?»“
Doch dem Regisseur ist diese Darstellung zu harmlos,
zu emotionslos, zu wenig brutal und er verlangt mehr. Für ihn muss die
Grausamkeit offensichtlicher werden – der abrupte Abbruch der Szenerie ist für
ihn unverständlich:
„Der Chef-Regisseur blieb
sitzen. «Ja, sind Sie schon fertig?»
«Ja, ich dachte, sie werden
jetzt abgeführt»“
Für den Chefregisseur offenbart sich in der Haltung
seines Laiendarstellers, dass dieser noch nicht ganz begriffen hat, wen er da
eigentlich spielen soll, beziehungsweise wie bestialisch er sich geben muss und
versucht Muratow zur erklären, wie eine Bestie für den Film auszusehen hat:
„«So einfach ist das nicht ja
nun nicht mit den Bestien. Etwas mehr müssen Sie sich schon anstrengen.» [...]
«So benimmt sich keine Bestie», sagte er «So benimmt sich ein kleiner Beamter.
Sehen Sie, Sie müssen denken. Ohne Denken geht es nicht Sie müssen sich diesen
Bluthund vorstellen. So im kleinen Finger müssen sie ihn haben.»“
Als LeserIn erhält man fast den Eindruck, dass der
Regisseur nicht bloße Wirklichkeitsdarstellung einfordert, sondern viel mehr
schon Übertreibung verlangt. Die Brutalität des Handelns muss auch in der
kleinsten Bewegung spürbar werden. Man kann dem Chef-Regisseur schon fast
Wirklichkeitsverweigerung vorwerfen, weil das, was er sehen möchte, ist kein
individuelles Verhalten, sondern eine klischeehafte Karikatur des Bösen. Die
wahrheitsnahe Darstellung interessiert ihn nicht.
Was folgt, ist die psychologische Interpretation einer
Bestie. Muratow wird noch mit Äpfeln versorgt, weil ja der echte General immer
Äpfel gegessen hat, und das ganze Spiel beginnt von vorne. Der Regisseur
orientiert sich mit seinen Anweisungen an den Publikumserwartungen, die er
erfüllt wissen will. Er ermuntert seinen Darsteller zu einer verstärkten
Charakterisierung und dieser fügt sich und versucht, die Vorgaben durch
kantiges Auftreten und noch mehr Gleichgültigkeit der gesamten Szenerie und
noch offensichtlicherer Herabwürdigung der jüdischen Deputation gegenüber Folge
zu leisten:
„Schultern zurück, Brust
heraus, eckige Kopfbewegungen.“
Muratow versucht dem Militärischen durch seine
Körperhaltung Ausdruck zu verleihen.
„Überfliegt von der Tür aus
mit einem Geierblick die sich tief verneigenden Juden.
[...] Er sucht die
Theaternachrichten unterm Strich. Schlägt mit der Hand leicht den Takt zu einem
Schlager. (Eröffnet das Verhör.)“
Der „Ähnliche“ offenbart sein Desinteresse und lässt
die Abneigung der Bestie der Deputation gegenüber alleine durch seinen Blick
erahnen. Durch diese Gleichgültigkeit wird die herzlose Haltung des Generals
spürbar. Die Missbilligung der Juden gegenüber werden noch durch eine abfällige
Geste des „Ähnlichen“ unterstrichen:
„Indem er die Juden mit einer
gemeinen Bewegungdes Handrückens drei Meter zurückweist.“
Die Szenerie lässt die Leserschaft schon ein wenig
erschaudern, weil gerade diese stumpfe Teilnahmslosigkeit am Schicksal der
Juden das Grausame erst erlebbar macht – gerade weil das Kollektiv sich von
einer Bestie ein solches oder zumindest ähnliches Verhalten erwartet. Für
Brecht ist aber die Publikumserwartung beziehungsweise die Erfüllung dieser zu
wenig – die Wechselwirkung von Erwartung und Erfüllung ist ein typisches
Merkmal des bürgerlichen Theaters – und auch dem Regisseur erscheint diese
Darstellung noch nicht glaubhaft genug:
„Sie werden’s nicht begreifen.
Was Sie da machen, dasgeht nicht. [...] Das ist ganz gewöhnliches Theater.
Ein Bösewicht der alten Schule.
Lieber Mann, das ist nicht,was wir uns heute unter einer Bestie vorstellen. Das
ist kein Muratow.“
Der Chef-Regisseur fordert eine Darstellung der Bestie
im Gesamten – ein Kombinat aus sozialer und gesellschaftlicher Vorstellung des
Grausamen. Durch die schauspielerische Leistung des Laien soll das Publikum
mitgerissen und in ihren persönlichen sowie in ihrer kollektiven Vorstellung
von dem Bösen bestätigt werden. Diese Übertreibung erinnert an alte Western, in
denen oftmals Gänsehaut ohne Blutvergießen forciert wird – als Ergebnis
klischeehafter und realitätsferner Typen, die ihrem Handeln durch beiläufige
Gesten oder mimische Ausdrücke mehr Tiefe verleihen.
Das interessante an der dritten Darstellungsvariante
ist die Versiertheit der Szenerie am Verzehr des Apfels[11]. Selbst Muratow erkennt die Bedeutung des Apfels, zumindest für den
Regisseur, und baut das Verlangte in die Szene ein, in dem er einen Vorschlag
bringt:
„«Ich glaube, ich weiß, was
Ihnen vorschwebt. Es soll eine Bestie sein.
Sehen Sie, das können wir doch
mit den Äpfeln machen. Nehmen Sie einfach an, ich nehme
einen Apfel und halte ihn dem Juden
vor die Nase. «Friß!» sage ich.
Und während er – paß auf»,
wandte er sich an den Darsteller des Führers der Deputation, «während du den
Apfel frisst, bedenke, er bleibt dir in deiner Todesangst selbstverständlich in
der Kehle stecken, aber du musst den Apfel ja fressen, wenn ich, der
Gouverneur, ihn dir gebe, übrigens ganz freundlich, von mir ist es ja eine freundliche
Geste gegen dich, nicht wahr», wandte er sich wieder an den Chef-Regisseur,
«könnte ich ja dabei dann ganz nebenbei das Todesurteil unterzeichnen. Und er,
der den Apfel ißt, sieht es.»“
Als Reaktion auf Muratows Ausführungen ist nur pures
Entsetzen des Filmteams zu vernehmen. Er hat mit seinem Vorschlag die
Vorstellungen des Grausamen jedes Teammitglieds übertroffen. Die Geste, die dem
„Ähnlichen“ vorschwebt, übersteigt die Grenze des Erfassbaren und verleiht der
Szenerie ein Unmenge an unmenschlicher Offenbarung; während der Endpunkt für
die betroffenen Juden durch das Todesurteil gesetzt wird, entgegnet der
Gouverneur der Deputation mit „Freundlichkeit“. Damit hat niemand gerechnet –
auch die/der LeserIn nicht - das Bestialische wird gerade in Kleinigkeiten
beängstigend evident – eine simple Handlung, die der Bestie ein fast schon
perverses Profil verleiht.
Gerade das Aufzeigen von Unmenschlichem im Kleinen ist
eine Spezialität von Brecht. Er lässt seine Leserschaft am Prozess der
„Bestien-Werdung“ teilhaben und übertrifft die kühnsten Erwartungen der
RezipientInnen.
Ein wichtiges Detail, das sehr schnell überlesen
werden kann, ist das Faktum, dass während der Darstellungen von Muratow
eigentlich keine filmische Aktivität stattgefunden hat. Näheres wird im
Folgenden erklärt.
3.4. Welche
Bedeutung hat der Apfel?
Die Darstellung der Bestie in der dritten Variante
beinhaltet einen sehr hohen Grad von inhumaner Grausamkeit – umgesetzt und
verbildlicht in Form der Apfelschenkung. Einerseits begegnet der Gouverneur der
Deputation mit totaler Ablehnung – schon erkennbar an Blick und Körperhaltung,
andererseits überreicht er ein Geschenk – den Apfel. Die Weitergabe des Obstes
wäre im normalen Fall ein Akt der Freundschaft beziehungsweise ein Bekundung
von Sympathie oder eine gütige Geste. Doch da dies im Angesicht der
Todesurteilsunterzeichnung geschieht, ist es ein Sinnbild von Erniedrigung für
die jüdische Deputation. Der Gouverneur bringt damit seine eindeutige
Überlegenheit zum Ausdruck und zeigt seine „freundliche Seite“ und erwartet
sich daraus resultierende Dankbarkeit. Damit stellt sich die Bestie in ein
gutes Licht – obgleich der todesbringenden Handlung.[12]
Des Weiteren muss angemerkt werden, dass der
Gouverneur in Wirklichkeit keine Äpfel gegessen hat – zumindest nicht dauernd,
so wie es vom Hilfsregisseur erörtert wird:
„Muratow hat immer Äpfel
gegessen,
[...] waren Sie denn überhaupt
dabei?“
Dieser Satz beinhaltet viel. Einerseits grenzt es
schon fast an Ironie, dass der Hilfsregisseur den echten General fragt, ob
dieser überhaupt dabei war und ihn, die realen Bestie, besserwisserisch
belehrt. Andererseits wird mit dieser Äußerung offensichtlich, dass eigentlich
kein Interesse an der naturgetreuen Nachstellung des damaligen Geschehnissen
besteht. Es soll lediglich eine Geschichte nacherzählt werden – mit allen
Mitteln, die der Film möglich macht und dem Einsatz von offensiven Gesten, die
das Bestienhafte für die Zuseherin und den Zuseher erfassbar macht.
3.5. Warum
werden die Darstellungen des richtigen Generals nicht filmisch festgehalten?
Die Tatsache, dass Muratows Darstellungen nicht auf
Film gebannt werden, unterstreicht die oben genannte These: nicht „wie-es-war“
ist wichtig, sondern „wie-stellt-man-sich-das-vor“ tritt in den Vordergrund. Es
wird offensichtlich, dass es doch einen Unterschied zwischen theaterhafter
Darstellung, wie es der echte General macht, und filmischer Produktion, aufgezeichnet
mit dem Profischauspieler Kochalow, gibt. Zumindest für Brecht. Denn mit dem
eigentlichen Triumph des echten Schauspielers, der sich von den Fähigkeiten des
Laien motiviert zeigt, wieder am Film mitzuarbeiten und dass schlussendlich
auch mit Leib und Seele macht, verdeutlicht Brecht seine persönliche Auffassung
von Film und Kunst.
„Kochalow hatte scharf
zugehört, an der von dem Ähnlichen vorgeschlagenen Apfelszene hatte sich seine
schauspielerische Phantasie entzündet und, in dem er den «Ähnlichen» mit einer
brutalen Armbewegung einfach wegschob...“
Dieser Absatz markiert den aufkeimenden Sieg der
bloßen filmischen Reproduktion gegenüber einer naturgetreuen Abbildung. Für
Brecht ist klar, dass das Medium Film nicht Garant für eine reale Wiedergabe oder
gar ein wirklichkeitsgetreues Abbild sein kann, da den Produzierenden immer
genügend Manipulationsfreiheit eingeräumt werden kann.
Die endgültige Überlegenheit des in den 1920er-Jahren
aufkommenden Starkinos beweist die Reaktion der gesamten Filmmannschaft auf die
Darstellung des Kochalow:
„Das ganze Atelier brach, als
Kochalow schweißtriefend das Todesurteil unterzeichnet hatte, in Händeklatschen
aus.“
Der Schauspieler hatte sich aller Klischees bedient
und die wirklichkeitsfernen Erwartungen des Regisseurs nicht nur erfüllt,
sondern übertroffen und somit die historisch motivierte Darstellungsweise des
echten Gourverneurs in den Schatten gestellt. Die Übertreibung und
Überzeichnung der Reproduktion der Bestie hatte schlussendlich überhaupt nichts
mit der Vergangenheit zu tun.
Eine Moral dieser Geschichte besagt eben einer der
letzten Sätze, der nicht ganz ohne Ironie zu lesen ist:
„Es hatte sich gezeigt, dass
bloße Ähnlichkeit mit einem Bluthund natürlich nichts besagt und dass Kunst
dazugehört, um den Eindruck wirklicher Bestialität zu vermitteln.“
Brecht unterstreicht zum Schluss die Herrschaft des
konventionellen Kunstklischees im Film und verleiht dadurch der Erzählung auch
einen Funken von Medienkritik.[13]
3.6. Warum
wird der General stets als „der Ähnliche“ bezeichnet?
In der Erzählung selbst kommt erst am Schluss ans
Licht, dass „der Ähnliche“ in Wirklichkeit der General war, der ja im Film
dargestellt wird. Aber die Leserschaft erahnt es schon früher. Um diese Ahnung
aufrecht zu erhalten, wird der echte Muratow als „der Ähnliche“ bezeichnet.
Außerdem wird er ja gerade wegen seines Aussehens und der auffallenden
Ähnlichkeit in Typus und Auftreten für den Film genommen.
Ganze 21 Mal kommt der Wortstamm „Ähnlich-“ in der
gesamten Erzählung vor. Brecht bedient sich hierbei dem Mittel der Wiederholung[14], mit dem er die Vermutung der ZuschauerInnen, dass es sich doch um
den alten Gouverneur handelt, immer wieder belebt. Brecht hatte seit seinem
frühesten Schaffen ein breites Repertoire von Stilmitteln aufgebaut. Eines
davon ist das Prinzip der Wiederholung.
3.7. In
wie weit ist der Einfluss von Brechts Theater- und Filmtheorie erkennbar?
Beim genauen Studieren der Kurzgeschichte wird
erkennbar, dass Brecht seine Sichtweise über Theater und Film durchscheinen lässt.
Das Konzept der Darstellung steht ja im Diskurs und er ist durchaus erkennbar,
dass Brecht das traditionelle bürgerliche Theater in Frage stellt, da der
Aspekt der „Publikumserziehung“ beim Inszenieren des Filmes komplett abgelehnt
wird – stattdessen wird die durchdringende Angepasstheit an die
Publikumserwartung verlangt und in weiterer Folge auch erfüllt.
Gerade das montageartige Schreiben ist typisch für
Brecht. Nicht nur in der Erzählung „Die Bestie“, sondern auch in seinen
weiteren Dramen, wie etwa „Der kaukasische Kreidekreis“, verwendet er immer
wieder das Mittel der Montage. Und er tut dies bewusst, um die/den Rezipienten
aktiv und das Interesse an der Geschichte aufrecht zu halten:
„Da das Publikum nicht
eingeladen werde, sich in die Fabel wie in Fluß zu werfen, um sich hierhin und
dorthin unbestimmt treiben zu lassen, müssen die einzelnen Geschehnisse so
verknüpft sein, daß die Knoten auffällig werden.
Die Geschehnisse dürfen sich
nicht unmerklich folgen, sondern man muß mit dem Urteil dazwischenkommen
können.
[...] Die Teile der Fabel sind
also sorgfältig gegeneinander zu setzen, indem ihnen ihre eigene Struktur,
eines Stückchens im Stück, gegeben wird.“[15]
Somit wird das filmische Mittel der Montage für Brecht
zu einem fundierenden Element der antiaristotelischen, funktionalen epischen
Dramaturgie, das er auch in „Die Bestie“ verwendet. Durch die
abwechslungsreiche Inszenierung in schriftlicher Form ist der Grundstein für
Brechts spätere Prinzipien des epischen Theaters gelegt.
4.
Bert Brecht – Biografie
Eugen Berthold Friedrich Brecht[16] wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg, Bayern, in die mittlere
Bürgerschicht geboren. Sein Vater, Berthold Friedrich Brecht, war zunächst
Angestellter und ab 1914 Direktor einer Papierfabrik. Brechts Mutter Sophie
stammte aus dem damaligen Königreich Württemberg. Brecht besuchte zunächst die
Volksschule und wechselte 1908 in das Peutinger-Realgymnasium in Augsburg, wo
er 1918 das Abitur ablegte. Religion spielte in jener Zeit eine große Rolle für
Brecht, war doch das Gymnasium ein protestantisches. Der Religionsunterricht
musste ihn damals ziemlich beeindruckt haben, da er bereits 1913 sein erstes
Drama mit dem Titel „Die Bibel“ verfasste.[17] Doch nicht nur die Religion hatte einen starken Einfluss auf den
jungen Brecht. Kurze Zeit später begann die Kriegspropaganda die deutsche
Bevölkerung für den Ersten Weltkrieg zu begeistern und der junge Bertolt
verfasste alsbald Aufsätze gegen die Kriegstreiber. Dies brachte ihm fast einen
Schulverweis ein – aber Brecht hatte Glück, die Stellung seines Vaters sowie
die Sympathie seines Religionslehrers retteten ihn davor.
Nach dem Abitur inskripierte Brecht an der
Ludwigs-Maximillians-Universität in München und begann Medizin,
Naturwissenschaften und Literatur zu studieren. Doch der Erste Weltkrieg
veranlasste Brecht zu einer Unterbrechung seines Studiums und er ließ sich als
Sanitätssoldat nach Augsburg versetzen. Den Weg zurück an die Universität fand Brecht
nicht und so wurde er 1921 endgültig exmatrikuliert. Dem folgte noch ein kurzes
Studienintermezzo an der Philosophischen Fakultät in Berlin, das allerdings
1922 ein Ende fand. Brecht pendelte bereits ab 1920 zwischen Augsburg und
Berlin, doch der endgültige Umzug in die Großstadt erfolgte erst 1924. Davor
versuchte er immer wieder mittels Veröffentlichung diverser Kurzgeschichten und
Erzählungen in der dortigen Kunst- und Kulturszene Fuß zu fassen. Zeitgleich
begann Brecht sich auch für Politik zu interessieren – Marx und Engels, die
Väter der marxistischen Philosophie, zogen ihn in ihren Bann, wenngleich auch
erwähnt werden muss, dass Brecht niemals der deutschen kommunistischen Partei
beitrat.[18]
Ab 1926 arbeitete er an der Konzeptionisierung
„seines“ epischen Theaters, mit dem er in der deutschen Literaturszene
schlussendlich groß wurde und 1928 folgte die Uraufführung seines bekanntesten
Werkes, allerdings in der überarbeiteten Form von Kurt Weill, der
„Dreigroschenoper“[19].
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten
flüchtete Brecht ins Ausland. Im Februar 1933 verließ er Deutschland in
Richtung Dänemark, wo er schließlich die folgenden fünf Jahre lebte. Für die
NS-Obrigen entsprachen die Werke Brechts nicht den „arischen“ Maßstäben und im
Mai 1933 wurden viele seiner Bücher verbrannt. 1935 folgte schlussendlich auch
die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft.[20]
Nach fünfjährigem dänischen Exil übersiedelte Brecht
1939 nach Schweden und bereits ein Jahr später folgte ein Umzug nach Finnland.
Über die UdSSR gelangte Brecht 1941 nach Kalifornien und versuchte in Hollywood
Kontakte zu knüpfen und seiner Leidenschaft, dem Film, Genüge zu tun. Es
entstanden in der Zeit einige Drehbücher, die teilweise auch verfilmt wurden.
Aufgrund seiner Hinwendung zum Marxismus in den 1920er
Jahren geriet Brecht 1947 in den Verdacht, Mitglied einer kommunistischen
Partei zu sein und er musste abermals flüchten – diesmal verschlug es ihn in
die Schweiz. Ab 1949 lebte Brecht wieder auf deutschem Boden, allerdings in
der DDR, wo er sein berühmtes Brecht-Ensemble aufbaute, mit dem er
schlussendlich auch die Form des epischen Theaters etablierte. Er starb am 14.
August 1956 in Berlin.
In Österreich wurde die Aufführung von Brecht-Stücken
bis 1963 boykottiert. Federführend dabei waren Friedrich Torberg und Hans
Weigel.
5.
Was kritisiert Brecht in seiner Kurzerzählung?
5.1. Kritik
am aristotelischen Theater als Verkörperung des Illusionstheaters
Brecht beschreibt die Arbeitsabläufe der
Filmproduktion überaus detailliert und man weiß auch (nach Dyck), dass bei der
Meschrabprom-Russ-Filmgesellschaft so gearbeitet wurde. Als Vorlage diente die
Praxis des Theaterregisseurs Stanislaswski – auch er besetzte viele Rollen mit
Laien, da sie einem bestimmten Typus entsprachen und ihre schauspielerische
Leistung fußte auf sehr genauen Regieanweisungen. Dies deutet daraufhin, dass
sich Brecht bereits um 1928 mit der Konzeption seines epischen Theaters
auseinandersetzte und er die Grundsätze der aristotelischen Dramentheorie in
Frage stellte. Für ihn fehlte einfach der paradigmatische Anspruch. In wie weit
Brecht damit auch den russischen Film (Vgl. Dyck) selbst ins Kreuzfeuer der
Kritik rücken wollte ist ungewiss, da er in späteren Jahren seine anfängliche
negative Beurteilung wieder revidierte.
5.2. Kritik
am Umgang mit der Darstellung der Wirklichkeit
Für Brecht war klar, dass die Unerzählbarkeit des
Faktischen im aristotelischen Sinn ein Problem darstellt. Als Antwort auf diese
Darstellungsproblematik – des inhaltsleeren Blicks von außen - hält er in
späterer Folge sein Konzept des epischen Theaters entgegen. In dieser
Kurzgeschichte hingegen bedient er sich der Möglichkeit des „inszenierenden
Erzählens“.
Einerseits transportiert Brecht seine Kritik über die
Aussage des Regisseurs, der die Darstellung der Bestie als unglaubwürdig
einstuft:
„So benimmt sich keine Bestie.
[...]
So benimmt sich ein kleiner
Beamter.“
Dem Regisseur ist das Verhalten des „Ähnlichen“
eindeutig zu wenig brutal – eigentlich zu einfach und zu harmlos. Er verlangt
dem Darsteller mehr Brutalität und Bestialität ab – und das in einer einfachen
Szene des Büroalltags. Auch wird die Beurteilung der bei der damals Deputation
dabei Gewesenen ignoriert – da dies nicht der Vorstellung des Spielleiters
entspricht.
Andererseits deutet auch die mehrfache Verwendung des
Begriffs „der Ähnliche“ darauf
hin, dass für die Brecht die „Nichtgleichheit“ zwischen wirklich Geschehenem
und Gespielten einfach existent ist. Er verweist mit dem Terminus auf das
Faktum, das nur die reine ästhetische Reproduktion möglich ist. Brecht
formuliert seine Ansichten darüber später wie folgt:
„Es ist also tatsächlich
‚etwas aufzubauen’, etwas ‚Künstliches’, ‚Gestelltes’. Es ist also tatsächlich
Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus.
Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst
nicht wieder.“[21]
5.3. Kritik
an der kollektiven Vorstellung von Bestialität
Brecht versteht es, die Grausamkeiten im Kleinen zu
offenbaren. Während das Produktionsteam mit der einfachen Darstellung des
Gouverneurs unzufrieden ist, jagt den Juden die Art und Weise des Spielens von
Muratow einen kalten Schauer über den Rücken. Dem Rezipienten wird dargelegt,
dass gerade das „Gewohnheitsmäßige“
und „Bürokratische“ die Groteske
an der Gesamtsituation subtil widerspiegelt. Dem Filmemacher hingegen ist die
Spielart zu wenig grausam, da sie der kollektiven Vorstellung von solch einer
menschenverachtenden Handlung einfach nicht entspricht – es mangelt ihr an
Brutalität. Er geht sogar noch weiter und spricht den damaligen jüdischen Opfern
die Urteilsfähigkeit ab – für ihn steht nicht die Abbildung der Realität im
Vordergrund, sondern viel mehr ist er auf der Suche nach Charakteristischem und
auch Typischen für die menschliche Grausamkeit. Er bedient sich der kollektiven
Vorstellungskraft und will mit der Darstellung die Anforderungen des Publikums
erfüllen – die Wahrheit rückt somit wieder in den Hintergrund.
Diese Arroganz ist für Brecht symptomatisch und Anlass
weiterer Kritik am Umgang mit der Wirklichkeitsdarstellung. Er möchte mit dem
Aufzeigen subtiler Grausamkeit – verstärkt durch die Hervorhebung der
Alltäglichkeit der Urteilsfestlegung sowie mit der Beiläufigkeit des
Apfelessens – der Wirklichkeit näher kommen. Im Text verweist „der Ähnliche“ ja in der Diskussion mit dem
Regisseur darauf, dass für die Exekution des Urteils Schergen vorhanden sind,
die sich der realen Brutalität hingeben und für die Ausführung sorgen. Die
Bestie, wie sie im Film dargestellt werden soll, ist ein künstliches, nein
besser, ein gekünsteltes Bild der realen Vorkommnisse, da die authentische
Reproduktion, also das simple Vorführen „wie es wirklich war“, in ihrer
Einfachheit und Alltäglichkeit zu wenig Emotionen beim Publikum hervorrufen
würde. Brecht verlangt von den Zuschauenden mehr ab – er will, dass das
Gezeigte hinterfragt wird und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Der Schluss der Kurzgeschichte muss aus einem rein
ironischen Kontext herausgelöst und in Zusammenhang mit den Termini
„Darstellung – Wirkung – Publikumserwartungen“ gesetzt werden:
„Es hatte sich eben wieder
einmal gezeigt, dass bloße Ähnlichkeit mit einem Bluthund natürlich nichts besagt
und dass Kunst dazu gehört, um den Eindruck wirklicher Bestialität zu
vermitteln.“
Der Versuch der Reproduktion der Realität ist bei
diesem Film gescheitert, da das, was die ZuschauerInnen beeindruckt, erfunden
sein und die Wirklichkeit verleugnet werden muss.
6.
Quellenangaben
6.1. Bücher
Boie-Grotz Kirsten, Brecht, der unbekannte Erzähler:
die Prosa 1913 – 1934. Stuttgart: Klett-Cotta 1978.
Brüggemann Heinz, Literarische Technik und soziale
Revolution. Versuche über das Verhältnis von Kunstproduktion, Marxismus und
literarische Tradition in den theoretischen Schriften Bertolt Brechts. Berlin:
Rowohlt 1973.
Buck Theo / Durzak Manfred / Steinbach Dietrich (Hgg.),
Zu Bertolt Brechtz: Parabel und episches Theater. Stuttgart: Klett 1983. (=
Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft. Bd. 41:
LGW-Interpretationen).
Durzak Manfred, Die Kunst der Kurzgeschichte: zur
Theorie und Geschichte der deutschen Kurzgeschichte. 2. verb. Auflage. München:
Wilhelm Fink 1994. (=UTB 1519).
Dyck Joachim / Gossler Heinrich / Herrmann Hans-Peter
u.a., Brechtdiskussion. Kronberg/Taunus: Scriptor 1974.
Fuhrmann Manfred, Poetik. Stuttgart: Reclam 1982. (=
Reclam 7828).
Gersch Wolfgang, Film bei Brecht. Bertolt Brechts
praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Film. München: Carl
Hanser 1975.
Grimm Reinhold, Bertolt Brecht. Die Struktur seines
Werkes. Nürnberg: Hans Carl 1959.
Hauptmann Elisabeth, Brecht. Gesammelte Werke in 20
Bänden. Werksausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967.
Hildesheim Jürgen, Bertolt Brechts Augsburger
Geschichten. Augsburg: Verlagsgemeinschaft Augsburg 2004.
Joost Jörg-Wilhelm / Müller Klaus-Detlef / Voges
Michael, Brecht Bertolt: Epoche – Werke – Wirkung. München: Beck 1985. (=
Beck’sche Elementarbücher).
Knopf Jan, Brecht-Handbuch. Prosa, Filme, Drehbücher.
Bd. 3. Stuttgart: Metzler 2002.
Knopf Jan, Brecht-Handbuch. Schriften, Journale,
Briefe. Bd. 4. Stuttgart:
Metzler 2002.
Knopf Jan, Brecht-Handbuch. Eine Ästhetik der
Widersprüche. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart: Metzler 1984.
Mayer Hans, Anmerkungen zu Brecht. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1965. (= edition suhrkamp 143).
Mayer Hans, Brecht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.
Müller Klaus-Detlef, Brecht-Kommentar zur erzählenden
Prosa. München: Winkler 1980.
6.2. Beiträge
aus Zeitschriften und Sammelbänden
Morley Michael, The truth in masquerade: structure and
meaning in Brecht’s Die Bestie. In: MLN (=Modern Language Notes) 90. Baltimore:
The Johns Hopkins Univeristy Press 1975. S. 687 – 695.
Lindner Burkhard, Die Entdeckung der Geste. Brecht und
die Medien. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. 3.
Auflage. München: Richard Boorberg 2006. S. 21 – 32.
Witte Karsten, Brecht und der Film. Das zu Sehende
jedermann sichtbar machen. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur.
Sonderband. 3. Auflage. München: Richard Boorberg 2006. S. 62 – 83.